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3.3.2 Der Abschied von Sprachspielen der „psychischen Krankheit“

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Ein Blick auf die Sprachspiele früherer Epochen zeigt, dass die mit den Bezeichnungen „wahnsinnig“ oder „psychisch krank“ verwobenen Praxiszusammenhänge oft von existentieller Tragweite waren, und die Internierung, Vertreibung oder den Tod der Betroffenen mit sich zogen. Wie in dem vorangehenden Kapitel erläutert werden konnte, bringt der Gebrauch des Begriffs „psychisch krank“ auch in der heutigen Zeit immer noch eine gesellschaftliche Ächtung mit sich. Da nach Wittgenstein „Worte (…) auch Taten“1 sind, erscheint das Sprachspiel der „psychischen Krankheit“ vor dem Hintergrund seiner Handlungsfolgen als nicht fortsetzungswürdig.

Peter Sloterdijk hat darauf verwiesen, dass man mit den gewöhnlichen Sprachspielen meist „das eigentlich nicht Übenswerte“2 einübt, und plädiert für eine „Läuterung des Gebrauchs“.3 Vor dem Hintergrund der in der Tradition Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft stehenden Sprachspieltheorie schlägt er vor, die „unbewußt oder halbbewußt befolgten“4 Regeln der Sprechergemeinschaft in bewusste Übungen und Askesen der Sprechenden umzuwandeln. Eine fröhliche asketische Praxis könnte in dem Versuch bestehen, „dem Guten durch das Weglassen des nicht Verantwortbaren näherzukommen“,5 und „zum Schaden der Dummheit“6 ihre Klärungen voranzutreiben, „ohne der Neigung zur fundamentalistischen Grämlichkeit zu erliegen, die sich üblicherweise mit reformistischem Polemismus verbindet“.7

Wie also nun von psychiatrischen Patienten reden, ohne stigmatisierende Sprachtraditionen aufrecht zu erhalten? Diese Frage entwickelte sich in vielen intensiven Gesprächen mit unmittelbar und mittelbar Beteiligten, d.h. Patienten, Kollegen, Bekannten und Freunden, zu einem schier unlösbaren Problem. Nach langer Überlegung fiel die Entscheidung zugunsten eines Terminus, mit dem sowohl Nietzsche, als auch Heidegger und Sloterdijk die andauernde Missstimmung der meisten welt- und lebensverneinenden Menschen zum Ausdruck bringen: des Begriffs der Verstimmten. Schließlich hatte gerade die Beobachtung der Unzufriedenheit und Missgestimmtheit vieler „psychisch Kranker“, hinter der sich häufig ein „Nein“ zur Welt verbirgt, den entscheidenden Anstoß zu dem vorliegenden Forschungsprojekt gegeben.

So bezeichnet Nietzsche in der Genealogie der Moral nicht nur die Klientel der „Irrenärzte“8 als „Kranke, Verstimmte, Deprimirte“,9 sondern weitet den Zustand des Verstimmtseins auf die „Mehrzahl der Sterblichen“10 aus. Zwischen Verstimmung und Ressentiment besteht in seinen Schriften ein enger Zusammenhang.

In der Philosophie Martin Heideggers nimmt die „Stimmung, das Gestimmtsein“11 eine herausragende Rolle ein. In diesen erkennt Heidegger die „ursprüngliche Seinsart des Daseins“,12 die als „Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst“13 aufsteigt. So kann nur in der Befindlichkeit der Furcht das Furchtbare gesehen, nur im Modus der Freude Glück empfunden werden. In der „Verstimmung (…) wird das Dasein ihm selbst gegenüber blind, die besorgte Umwelt verschleiert sich, die Umsicht des Besorgens wird mißgeleitet“,14 und das In-der-Welt-Sein wird durch eine Einschränkung der affektiven Schwingungsfähigkeit beeinträchtigt.

Auf Peter Sloterdijks Verwendung des Begriffs der „Verstimmung“ soll im nächsten Kapitel ausführlicher eingegangen werden.

Der philosophisch fundierte, allgemein verständliche und nicht pathologisierende Begriff der Verstimmung könnte schon heute Einzug ins offizielle psychiatrische Sprachspiel halten. Er steht stellvertretend für einen anthropologischen Ansatz, der sich weigert, „das Feld der Grenzerfahrungen den Psychiatern, den Ethnologen und den Mystikern zu überlassen“.15 Als weitgehend wertneutraler und nichtstigmatisierender Terminus soll er einen Teilbereich der „Übersicht über das Feld des Menschlichen“16 designieren, die Peter Sloterdijk in seinem Buch Weltfremdheit beschrieben hat. Zudem erscheint die neue Bezeichnung besonders geeignet, das Sprachspiel des Ressentiments als neue, im modernen psychiatrischen Diskurs bislang noch unberücksichtigte, Perspektive auf die Hilfesuchenden zu eröffnen. Ohne den Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben, soll das Sprachspiel des Ressentiments ein tieferes Verständnis psychischer Verstimmungen ermöglichen und den Betroffenen dadurch besser gerecht werden.

Auf die, zur Erkenntnis der Vielgestaltigkeit der Dinge notwendige, Betrachtung aus immer wechselnden Perspektiven hat Nietzsche im Rahmen seiner, als Perspektivismus bezeichneten, Erkenntnistheorie hingewiesen. Diese soll im Kapitel 7.3.2.1 eine umfassende Darstellung erfahren. Methodologische Ähnlichkeiten zwischen den Wittgensteinschen Sprachspielen als unterschiedliche Linsen eines Mikroskops und Nietzsches „Aufgeschlossenheit im Finden und Verwenden von Perspektiven“17 im Rahmen des Perspektivismus sind deutlich zu erkennen.

B Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung des psychiatrischen Teils der International Classification of Diseases (ICD), die aktuell in der 10. Revision vorliegt (Vgl. Dilling et al. 2010, S. 6f.). Die Bundesrepublik Deutschland hat sich als Mitglied der WHO auf das weltweit anerkannte ICD-System festgelegt, das die „internationale[ ] Verständigung“ (Kisker et al. 1991, S. 36) auf der Grundlage einer einheitlichen psychiatrischen Nomenklatur ermöglicht.

C In den angelsächsischen Ländern konkurriert die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD) mit dem, von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebenen, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) (Vgl. Kisker et al. 1991, S. 37). Das alternative Diagnosemanual ist derzeit in der Revision der vierten Fassung gültig und trägt die Bezeichnung DSM-IV TR.

D Im nordrhein-westfälischen Herten fanden im Jahre 1996 Bürgerproteste gegen den Bau einer Forensik für „psychisch kranke[ ] Straftäter“ (Der Spiegel 29/1998, S. 45) statt. Unterstützt wurden die Bürger von dem damaligen sozialdemokratischen Stadtdirektor Klaus Bechtel, der befürchtete, „‚[a]ller Kack‘ werde auf dem 70.000-Einwohner-Ort im nördlichen Ruhrgebiet abgeladen“ (Ebd.). Aufgrund der Proteste wurde das Projekt nicht realisiert.

Ein Insasse der forensischen Psychiatrie in Eickelborn charakterisierte die Stimmung in Deutschland mit folgenden Worten: „Viele wollen in ihrer Stadt offenbar lieber eine Sondermüllanlage als forensische Patienten“ (Ebd.).

E In einem Bericht der Zeitschrift Der Spiegel von 2001 wird auf die Forderung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder verwiesen, man solle Täter, die sich an Kindern vergangen haben, „[w]egschließen – und zwar für immer!“ (Der Spiegel 29/2001, S. 32). Mit seiner Äußerung bekräftigte er den „Eindruck der Öffentlichkeit, mit Kindesmördern und sexuellen Wiederholungstätern werde hier zu Lande allzu lax verfahren“ (Ebd.).

F Im ICD-10 werden die „Suchterkrankungen“ als Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19) bezeichnet (Vgl. Dilling et al. 2010, S. 93).

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