Читать книгу Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven - Barbara Gründler - Страница 23
5.2 Die Umkehrung der Zeit im „Es war“ – die Posttraumatische Belastungsstörung
ОглавлениеDie Schwäche des Bruchstück-Menschen, die in einer ungenügenden Fähigkeit zur Hemmung der von innen und außen kommenden Impulse und einer ausgeprägten „Überempfindlichkeit“1 begründet liegt, hat auch Auswirkungen auf sein Gedächtnis. Sie bewirkt, dass die Erfahrungen „zu tief greifen“2 und das „Gedächtnis vergifte[n]“3. Aufgrund der toxischen Wirkung spricht Sybe Schaap in diesem Zusammenhang auch von einer „infektiöse[n] Überempfindlichkeit“.4
Um diesen „Infektionsprozess“ nachvollziehen zu können, sollen Nietzsches Vorstellungen von der Entstehung und Beschaffenheit des menschlichen Gedächtnisses in ihren Grundzügen kurz umrissen werden. So ist der Prozess des Lebens für ihn „nur dadurch möglich, daß viele Erfahrungen nicht immer wieder gemacht werden müssen, sondern in irgend einer Form einverleibt werden“.5 Bei der Einverleibung werden einzelne Erlebnisse in einem inneren Prozess „verarbeitet, zusammengeordnet“6 und zu einem Grundschema zusammengeschmolzen. Im Gedächtnis entsteht dabei ein „Begriff, der allgemeinere Fall, in dem der spezielle liegt“.7O
„So lange etwas noch als einzelnes factum zurückgerufen werden kann, ist es noch nicht eingeschmolzen: die jüngsten Erlebnisse schwimmen noch auf der Oberfläche“.8
Erkennbar werden die eingeschmolzenen Grundschemata durch „Gefühle von Neigung, Abneigung“9 und „Werthschätzungen“,10 die von „sogenannten Instinkte[n]“11 geregelt werden.P Der Kern des Gedächtnisses liegt „unterhalb unseres Bewußtseins“.12 „Alles, was ins Bewußtsein tritt, ist das letzte Glied einer Kette, ein Abschluß.“13
Ein „ausgeglichenes Gedächtnis“14 stellt einen stabilen Erinnerungsrahmen dar, in dem die „Menge aller Erlebnisse“15 in einem Verarbeitungsprozess geordnet, koordiniert und zusammengefügt wurde. Ähnlich wie bei der „Begriffsbildung aus vielen Einzelfällen“16 erfolgt ein „Herausheben und immer neu Unterstreichen des Grundschemas und Weglassen der Neben-Züge“.17
Das „Frühere, Regulierte und Ausgeglichene“18 bildet „lebendig, sich ordnend, gegenseitig formend, ringend mit einander, vereinfachend, zusammendrängend und in viele Einheiten verwandelnd“19 ein ausgewogenes Gleichgewicht und stellt die Erfahrungsgrundlage für alle neuen Impulse dar, die auf den Organismus einströmen. Dabei ist die Fähigkeit, zu selektieren und sich gegen „eine große Menge von Einwirkungen (…) zu erhalten und zu wehren wissen“,20 notwendig, um das bestehende Gleichgewicht nicht zu gefährden. Die „ausgewogene Dominanz des Älteren lässt dem Organismus Selbstbeherrschung zukommen: Auf diese Art und Weise wird das Neue ‚beherrscht‘ verarbeitet“.21
Zu einem ausgeglichenen Gedächtnis gehört nach Nietzsche auch ein gewisses Maß an Vergesslichkeit. In der Genealogie der Moral definiert er die Vergesslichkeit als „Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung“22 und schreibt ihr ein „aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen“23 zu.
Diesem Vermögen ist es zuzuschreiben, dass die „Einverleibung“24 oder „Verdauung“25 des Erlebten und Erfahrenen nicht „in’s Bewusstsein tritt“,26 und viele Erinnerungen unbemerkt „eingeschmolzen“27 werden können.
„Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet, unbehelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen (…) das ist der Nutzen der (…) aktiven Vergesslichkeit.“28
Ohne Vergesslichkeit gibt es nach Nietzsche „kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz“29 und „keine Gegenwart“.30 Im zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen weist er darauf hin, dass es dem Menschen nur durch aktives Vergessen gelingen kann, „einen Horizont um sich zu ziehen“,31 um sich so „auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend“32 niederzulassen und Glück zu empfinden.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse kann festgestellt werden, dass Ordnung, Struktur und Beherrschtheit nicht nur Kennzeichen des starken Willens, sondern auch Merkmale des ausgeglichenen Gedächtnisses sind.
Das „verstörte Gedächtnis“33 hingegen stellt keinen stabilen und ausgeglichenen Bezugsrahmen dar. Aufgrund der bereits beschriebenen Dünnhäutigkeit und Sensibilität fällt es dem Schwachen schwer, Eindrücke zu selektieren und abzuwehren. In Ecce Homo schreibt Nietzsche: „Man weiss von Nichts loszukommen, man weiss mit Nichts fertig zu werden, man weiss Nichts zurückzustossen, – Alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde.“34
Die mangelnde „Kraft, (…) Wunden auszuheilen“,35 resultiert aus der Unfähigkeit, „Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben“.36 Nach Nietzsche gibt es Menschen, die diese „plastische Kraft“37 so wenig besitzen, „dass sie an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse unheilbar verbluten“.38 Da schmerzhafte Erlebnisse nicht „ausgewogen verarbeitet“39 werden können, sondern eine chronische „Indigestion“40 hervorrufen, bleiben sie als ein dem Organismus fremdes „Bruchstück“41 und „Räthsel“42 in der Erinnerung bestehen. Auf diese Weise verursachen sie „einen ‚Überreiz‘ im Gedächtnis und folglich ‚Unbehagen‘ im Bewusstsein“.43
Der Überreiz im Gedächtnis führt zu einem „Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen“44 der nicht verarbeiteten Erinnerungen. Aus der mangelnden „Kraft zu vergessen“,45 resultiert ein „passivisches Nicht-wieder-los-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks“46 und ein Gekettetsein an die Vergangenheit, die Nietzsche auch als das „Es war“47 bezeichnet. Da das Vergangene nicht vergessen werden kann, läuft es Gefahr, „zum Todtengräber des Gegenwärtigen“48 zu werden. In den Unzeitgemässen Betrachtungen schreibt Nietzsche:
„Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens.“49
Auch der Umgang mit neuen, von außen kommenden Impulsen wird durch die Überreizung und Vergiftung des Gedächtnisses beeinträchtigt. Da neue Erfahrungen nicht nach vorheriger Selektion in einen „stabilen Rahmen“50 aufgenommen und integriert werden können, wird schnell und „‚impulsiv‘ auf diese Impulse reagiert“.51 Statt ein ausgeglichenes Gedächtnis besonnen „das Neue führen und bestimmen zu lassen, lässt man das Zufällige und Unbeständige ins Alte eingreifen“.52 Die fatale „Dominanz des Neuen“53 unterwirft den Menschen dem Primat unwägbarer Impulse und führt zu einem rapiden „Verbrauch von Nervenkraft“.54 Der aus der Überreizung und der Unfähigkeit zu vergessen, resultierende „Ärger, die krankhafte Verletzlichkeit, die Ohnmacht zur Rache, die Lust, der Durst nach der Rache, das Giftmischen in jedem Sinne“,55 stellt „für Erschöpfte sicherlich die nachtheiligste Art zu reagieren“56 dar, denn „das Ressentiment, aus der Schwäche geboren“,57 ist „Niemandem schädlicher als dem Schwachen selbst“.58
Sybe Schaap hat darauf hingewiesen, dass für Nietzsche die Fähigkeit zu vergessen, keine „Sache der Willkür, der freien, subjektiven Entscheidungsmöglichkeit“59 sei, sondern dass dabei von einer leiblichen und instinktiven Verankerung auszugehen sei.
Tatsächlich hängt die Mehrheit der psychisch Verstimmten „immerfort am Vergangenen“:60 Die Kette der Vergangenheit „läuft mit“61 und beschwert den „Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde“,62 wird zur Last. Besonders deutlich wird der Mechanismus des verstörten Gedächtnisses und der damit zusammenhängenden Unfähigkeit zu vergessen jedoch bei den, im psychiatrischen Sprachspiel als Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) bezeichneten, Verstimmungen.
Um die Genese und Phänomenologie eines verstörten Gedächtnisses anschaulich schildern zu können, habe ich eine Patientin ausgewählt, die in ihrer Kindheit besonders schwer traumatisiert wurde. Die Schwere des Falles stellt eine besondere Herausforderung dar – das Beispiel ist aber bewusst gewählt, um die Theorien Nietzsches auch bei der Untersuchung extremer Lebensgeschichten auf den Prüfstand stellen zu können.
Bei meiner Analyse werde ich mich auch auf die Forschungsergebnisse Gottfried Fischers stützen, der bis 2009 Professor für Klinische Psychologie an der Universität Köln war, und als Begründer der Psychotraumatologie in Deutschland gilt.