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2.4 Das Ressentiment nach Peter Sloterdijk
ОглавлениеPeter Sloterdijk ist der zeitgenössische Philosoph, der das Ressentiment erneut in den Fokus des öffentlichen Interesses gestellt hat. Besonders die in seinem Buch Zorn und Zeit vorgelegte Gegenwartsanalyse unter Gesichtspunkten des Ressentiments ist für die vorliegende Untersuchung von Relevanz, da sie den von Nietzsche prognostizierten neuzeitlichen Siegeszug der Sklavenmoral durch eine Darstellung der psychopolitischen Entwicklungen in der jüngeren Menschheitsgeschichte illustriert.
In seinem „[p]olitisch-psychologische[n] Versuch“1 Zorn und Zeit führt Sloterdijk den Begriff des Thymos als eine der beiden Grundkräfte der menschlichen Psyche ein. Den begehrenden Affekten des Eros entgegengesetzt, sammeln sich im Thymos-Pol die „kämpferisch-rächerischen Energien“,2 zu denen neben dem Stolz, Mut, Geltungsdrang und Zorn auch die dunklen Energien des Ressentiments gehören. Sloterdijk unterstreicht die „Notwendigkeit einer doppelten psychischen Bildung“3 des Menschen und einer Ausbalancierung der erotischen und thymotischen Feldkräfte, die seiner Einschätzung nach seit der Antike von keiner der okzidentalen Gesellschaften mehr verwirklicht werden konnte. Durch ein Ungleichgewicht zwischen beiden Polen zugunsten des Eros konnte „die Rache zu einem epochalen Motiv“4 aufsteigen und schließlich „die aktivsten Ressentimentbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts“5 einleiten.
Bei seiner weltgeschichtlichen Betrachtung der letzten zweitausend Jahre unter dem Blickwinkel des Thymotischen legt Sloterdijk sein Augenmerk vor allem auf die Rolle des Zorns bei der Ressentimententstehung. Im Rahmen minutiöser historischer Analysen beschreibt er zudem die gezielte Nutzung und Vervielfachung der Ressentimentpotentiale aller „Erniedrigte[n] und Beleidigte[n]“6 durch Religionen und politische Parteien. Mit seiner Untersuchung der Verwaltung und ökonomischen Bewirtschaftung des Ressentiments in der Moderne wiederholt er „die von Nietzsche in Angriff genommene Arbeit“7 im Lichte einer tiefer ansetzenden politisch-psychologischen Reflexion.A
So stellt der Zorn den ersten Affekt dar, der in den Gekränkten und Beleidigten nach der erfolgten Verletzung aufsteigt. Wird diese „Primärenergie“8 an ihrem Ausdruck gehindert, führt der Entladungsaufschub zur Entstehung von Rachegedanken. Als Ausgangspunkt der Ressentimententwicklung erkennt Sloterdijk in der Rache die „Projektform des Zorns“.9 Diese stellt einen höheren Organisationsgrad des Zornaffekts dar, der durch die Hemmung haltbar gemacht und konserviert wird. Das zu „Haßkonserven“10 transformierte Zorngut nimmt gemäß Sloterdijks ökonomisch geprägter Terminologie die Form von Guthaben, Schätzen oder Vorräten an. Durch konsequente Entladungshemmung und „Haß-Kultur“11 kann dieses gepflegt, vermehrt und sogar an nachfolgende Generationen vererbt werden.
Die Entdeckung, dass die Sammlung der „lokalen Wutvermögen und der zerstreuten Haßprojekte“12 einzelner Besitzer in großen „Zornbanken“13 die Erwirtschaftung machtpolitisch relevanter Gewinne ermöglicht, inspirierte asketische Priester unterschiedlicher Zeitalter zur Errichtung von Depots „für moralische Explosiva und rächerische Projekte“.14 Dabei mussten die Zornagenturen die zahlreichen rächerischen Einzelgeschichten „zu einer vereinten Geschichte“15 zusammenfassen, die den Erniedrigten und Beleidigten eine bessere Welt und den rächerischen Ausgleich für erlittene Kränkungen versprach.
Sein Augenmerk auf die ökonomische Dynamik im Ressentimentgeschehen richtend, verweist Sloterdijk auf das, dem Konzept des Ressentiments zugrundeliegende Schema der Gleichwertigkeit von Schuld und Strafe. Dabei knüpft er an Nietzsches Herleitung des moralischen Hauptbegriffs „Schuld“ aus dem „sehr materiellen Begriff ‚Schulden‘“16 an. An die Idee des Gleichheitszeichens gekoppelt, ist der Gedanke der Gerechtigkeit nach Sloterdijk stets vom Geist der Zurückzahlung, Abzahlung und Heimzahlung geprägt und geht auf das Prinzip der Tilgung monetärer Schulden zurück. Bei der Beschreibung der Ressentimentdynamik orientiert er sich daher vor allem an wirtschaftlichen Modellen.
Als mächtigste Zornsammelstellen der Menschheitsgeschichte betrachtet Sloterdijk die metaphysische Zornbank der christlichen Kirche und die politische Weltbank des Zorns, die durch den Kommunismus errichtet wurde. Beide gründeten sich auf Narrative von der „Weltgeschichte (…) als (…) Weltgericht“,17 das den finalen Leidensausgleich herstellen sollte.
Erstere berief sich auf die Erzählung vom Zorn Gottes, der am Tage des Jüngsten Gerichts für Gerechtigkeit sorgen und die Unrechtskonten der Welt ausgleichen würde. Die Bezeichnung Gott ist dabei gemäß Sloterdijk „immer nur als Ortsangabe für das Depot menschlicher Zornersparnisse und gefrorener Rachewünsche zu verstehen“.18 Da der Einzelne durch eine „Ethik des Racheaufschubs“19 auf thymotische Impulse im Diesseits verzichten und stattdessen auf „verjenseitigte[ ] Rückzahlungsgeschäfte“20 spekulieren sollte, stand er nicht selten „unter hohen Ressentimentspannungen“.21 Durch die Verdammnisangst, die jeden potentiellen Sünder quälte, gelang den Priestern eine engmaschige Kontrolle des Heeres der Gläubigen.
Auch wenn Sloterdijk in der Erfindung der Ablassbriefe zur Tilgung transzendenter Schulden mit irdischem Geld die Anfänge eines „neuartigen Kreditsystems“22 und die Geburtsstunde der kapitalistischen Geldwirtschaft erkennt, kam die christliche Eschatologie seines Erachtens „über die Rolle einer Sparkasse nicht hinaus“.23 Erst der kommunistischen Zornbank sollte die Umwandlung der Zornguthaben in „verleihbare und investierbare Kapitale“24 gelingen. Der Tod Gottes stellte die Zäsur dar, welche die „Übernahme der Rache durch irdische Zornagenturen“25 ermöglichte.
Die kommunistische Weltsammelstelle des Zorns gründete ihre Versprechen auf das Narrativ des „hellsichtig geplanten weltgeschichtlichen Projekt[s] einer Revolution zugunsten der Erniedrigten und Beleidigten“26 und ein damit verbundenes besseres Leben in einer neuartigen Weltordnung. War der Kleinanleger bereit, seine Ressentiment- und Zornkapitale zu investieren, so wurde ihm „eine thymotische Rendite in Form von erhöhter Selbstachtung und erweiterter Zukunftsmächtigkeit“27 in Aussicht gestellt.
Die Planung der Revolution als weitere Steigerung des Organisationsgrads und „Bankform“28 des Zorns übernahmen asketische Priester, die als „weitsichtige, hinreichend ruhige und diabolische“29 Bankangestellte „nicht nur zur akuten Wut der Menschen (…), sondern auch zu ihren tieferen Verbitterungen, nicht zuletzt ihren Hoffnungen und ihrem Stolz“30 sprachen. Ohne die „methodisch betriebene Zornförderung“31 und Kapitalbildung durch frühzeitige Eruptionen zu gefährden, mussten sie den Hass und das Ressentiment ihrer Klientel bis zu dem Moment schüren, in dem der Schlag „gegen den Weltzustand im ganzen“32 erfolgen konnte.
Die letztendliche „unverhohlene Selbstprivilegierung der Funktionäre“33 in den kommunistischen Ländern des Ostblocks war jedoch ein Hinweis auf die Instrumentalisierung des zorn- und ressentimentbasierten Betriebskapitals der Bank für eigene Zwecke. Statt das Volk nach der Revolution in das versprochene Theater zu führen, „dessen Zuschauersaal nur aus ersten Reihen“34 bestehen sollte, unterjochten sie es durch eine Praxis der „Tiefendespotie, (…) Zornenteignung, (…) Stolzbrechung und (…) Oppositionsvernichtung“.35 Die Tatsache, dass die Massen nach allen erfolgreichen Revolutionen von den besseren Plätzen ausgeschlossen blieben, führt Sloterdijk auf eine „strukturelle[ ] Knappheit von Vorzugsstellungen“36 zurück. Bei keiner der historischen Umwälzungen sei es jemals „zu einer Umkehrung von oben und unten, geschweige denn einer materiellen Gleichheit“37 gekommen.
Stattdessen identifizierten Lenin, Stalin und Mao, die nach Sloterdijk zu den größten politischen Zornbankiers des 19. und 20. Jahrhunderts gehörten, immer wieder leicht zu aktivierende Zornkapitale und beliebige neue „Ressentimentkollektiv[e]“38, um diese unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit auf ihre designierten Feinde zu hetzen. Die gezielte „Haßlenkung“39 und Entladung des ressentimentalen Furors sind Beispiele für die „schuldigen Mittel“ aus der Hausapotheke der asketischen Priester, von denen in Kapitel 6.5.2 noch ausführlich die Rede sein wird. Sie veranschaulichen Sloterdijks Beobachtung, dass die Gewalt im 20. Jahrhundert keineswegs „ausgebrochen“40 sei, sondern „von ihren Agenten nach unternehmerischen Kriterien geplant und von ihren Managern mit weiträumiger Übersicht auf ihre Objekte gelenkt“41 wurde.
Kennzeichen der post-kommunistischen Weltlage ist nach Sloterdijk das Fehlen umfassender politischer Zornsammelstellen zur narrativen Fortführung der „großen Rachehandlung namens Weltgeschichte“.42 Die in der Moderne entstandene Figur des Verlierers, welche die „unverstandene Größe in den Machtspielen der Demokratien“43 darstellt, breitete sich aus und formierte sich in riesigen Armeen von „Überflüssigen“,44 „Ausgeschlossenen, (…) Erfolglosen und Rachsüchtigen“.45 Gegen die hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Absenkung der sozialstaatlichen Leistungen regt sich jedoch bis heute kaum Protest, da den potentiellen Zornträgern der Postmoderne die Orientierung fehlt. In der globalisierten Situation ist nach Sloterdijk „keine Politik des Leidensausgleichs im Großen mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut, unter welchen welterlöserisch, sozialmessianisch oder demokratiemessianisch codierten Verbrämungen auch immer“.46 Ohne Visionen und Aufgaben jedoch zerstreuen sich die riesenhaften „Widerspruchspotentiale der Gegenwart“47 trotz weltweiter digitaler Vernetzung immer mehr. Die zunehmende soziale Isolierung lässt den Sinn für gemeinsame Aktionen verkümmern und stärkt den „Geist der Desolidarisierung“.48
Darüber hinaus führt eine starke Erotisierungstendenz in den neo-kapitalistischen Kernländern zu einer ständigen Aufreizung des Begehrens bei Vermögenden und Mittellosen. Im Inneren des europäischen Kristallpalastes „driften die Teilkulturen der Spaßpflege und der Depressionsbewirtschaftung“49 stetig auseinander und die Frustration und Unzufriedenheit der „nicht mehr Gebrauchten, Ausgemusterten und Abgespeisten“50 steigt zunehmend. Dies führt nach Sloterdijk zu einer „Epidemie der Negativität“,51 die mit politisch sammelbaren Zornquanten nicht mehr viel gemein hat. Sie wird gekennzeichnet durch einen Rückfall des Zorns auf die „diffus-universelle Unlust-Stufe“52 und ein Absinken „auf eine subthymotische Ebene, von der aus es keinen Anlauf zur Geltendmachung eigenen Werts und eigener Ansprüche mehr gibt“.53 Am Nullpunkt der Zornartikulation verortet Sloterdijk einen „Extremismus der Müdigkeit“,54 deren Vertreter er als sich jeder Gestaltung und Kultivierung verweigernde „Extremisten des Überdrusses“55 bezeichnet. Diese würden sich am liebsten totstellen und den Verdacht, „daß sie möglicherweise die stärkste der Parteien wären“,56 gar nicht erst aufkommen lassen. Stattdessen zerfällt die von ihnen gebildete „unmögliche[ ] Internationale“57 der Überdrüssigen „Nacht für Nacht (…) in Millionen von isolierten Betäubungen, jeden Morgen streicht sie sich selbst mitsamt ihren Anliegen formlos von der Tagesordnung“.58 Ihre „bodenlose Unlust an Mitwelt und Gesellschaft, ja an der Welttatsache überhaupt“,59 bestimmt Sloterdijk durch Begriffe wie „Misokosmie oder Misontie (…): Feindseligkeit gegen Welt und Seiendes im ganzen. Sie bringt die Unlust an der Existenz- und Koexistenzzumutung überhaupt zum Vorschein“60 und ist Zeichen eines ausgeprägten Ressentiments. Die Weigerung zu jedweder Kooperation bei der möglichen Überwindung von Müdigkeit und Besiegtheit bezeichnet Sloterdijk als „ihre intimste Rache an den Verhältnissen“.61
Wie Sloterdijk durch eine kontinuierliche Stärkung des Thymotischen, ein Denken der Großzügigkeit und eine Delegitimierung von Intelligenz und Ressentiment „zukunftsfähigen Paradigmen entgifteter Lebensweisheit“62 Raum verschaffen will, soll eines der Themen dieses Buches sein. Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise die Internationale der Überflüssigen, aus der sich nicht wenige Psychiatriepatienten rekruktieren, ihr Ressentiment vermindern und sich in die von Antonio Negri als „Multitude“63 bezeichnete Gruppe der „neuen Subjekte militanter Heiterkeit“64 verwandeln könnte. Ob sich die Aussortierten als Lachende, Marginale und Lebenskünstler der Erde „endgültig aus allen Dienstbarkeiten an den bestehenden Verhältnissen“65 emanzipieren können, wird zu zeigen sein.
A Koenraad Hemelsoets Einwand, Sloterdijk wiederhole Nietzsches Arbeit nicht, da er im Gegensatz zu diesem nicht das Ressentiment, sondern den Zorn zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung mache, entschärft er selbst durch die Beobachtung, dass es oft „schwer zu bestimmen“ (Jongen et al. 2009, S. 305) sei, „wie sich die thymotischen Affekte (…) in den verschiedenen analysierten Kontexten jeweils genau zueinander verhalten“ (Ebd.). Da Sloterdijk sich mit den „höheren Organisationsgraden“ (Sloterdijk 2006, S. 96) des Zorns beschäftigt, die durchweg durch Entladungshemmung und Affektaufschub entstehen, handelt es sich bei seiner gesamten Untersuchung um Prozesse, die mit der Ressentimentbildung in engem Zusammenhang stehen.