Читать книгу Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven - Barbara Gründler - Страница 26
5.3.1 Frau A.
ОглавлениеDie 33-jährige Frau A. ist alleinerziehende Mutter einer siebenjährigen Tochter. Sie hat große Schwierigkeiten, sich dieser gegenüber durchzusetzen. Vor einigen Monaten diagnostizierte der Kinderarzt aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten des Kindes eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Frau A. war noch nie erwerbstätig und bezieht staatliche Leistungen. Ihre Eltern, die nach Angaben von Frau A. als typische Vertreter der 68er-Generation zur damaligen Hippieszene gehörten, trennten sich, als Frau A. zwei Jahre alt war. Da die Mutter mit der Erziehung ihrer Tochter überfordert war, blieb das Kind bei seinem Vater. Da dieser das Beste für sie wollte, beschloss er, das Kind zum Schulbesuch im privaten englischen Internat Summerhill anzumelden. Wie der erwerbslose Vater das Schulgeld bezahlen konnte, ist Frau A. bis heute unklar.
Das Konzept dieser von Alexander S. Neill gegründeteten Schule beruht auf einem „Prinzip der Selbstbestimmung“,1 bei der die Freiheit der Schüler im Vordergrund steht. Frau A. berichtete, dass kein Unterrichtszwang bestand und sie daher meistens die Schule schwänzte. Ihre daraus resultierenden großen Lese- und Schreibschwierigkeiten sowie ein fehlender Schulabschluss erschweren ihr bis heute die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Die Erinnerung an das Internat, wo sie nach eigenen Angaben von stärkeren Kindern schikaniert wurde und schreckliche Erlebnisse hatte, erfüllt sie mit Rach- und Nachgefühlen. Sie vermeidet bewusst, über diese Zeit zu sprechen.
Seit mehreren Jahren hat sie einen Freund, von dem sie sich finanziell abhängig fühlt. Dieser lebt selber von Sozialleistungen, kann jedoch zeitweise durch Gelegenheitsarbeiten Geld verdienen und seine Freundin, die große Schwierigkeiten hat, mit ihrem Geld auszukommen, unterstützen. Frau A. berichtet, dass beide sich häufig heftig streiten.
Frau A. wurde von ihrem Psychiater mit der Diagnose Erschöpfungssyndrom2 (F 48.0) in unsere Praxis überwiesen.
Bei einem Erschöpfungssyndrom äußern die Betroffenen gewöhnlich „[a]nhaltende und quälende Klagen entweder über gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung oder über körperliche Schwäche und Erschöpfung nach geringsten Anstrengungen“.3 Neben der Verminderung von Energie treten häufig „Muskelschmerzen“,4 „Spannungskopfschmerzen“,5 „Reizbarkeit“,6 „Dyspepsie“7 oder eine „Konzentrationsschwäche“8 auf. Auch eine „Unfähigkeit zu entspannen“9 wird oft beschrieben. In manchen Fällen steht eine „Hypersomnie“10 im Vordergrund. Die vorliegenden „depressiven Symptome sind nicht anhaltend und schwer genug, um die Kriterien für eine der spezifischeren Störungen in dieser Klassifikation zu erfüllen“.11 Synonym wird der Begriff „Neurasthenie“12 verwendet.
Frau A. leidet unter chronischer Müdigkeit und Erschöpfung. Kleine Verrichtungen im Haushalt strengen sie dermaßen an, dass sie sich danach einige Stunden hinlegen muss. Ohne die regelmäßige Anleitung und Unterstützung einer vom überörtlichen Sozialhilfeträger bezahlten Reinigungskraft wäre es nicht möglich, den Haushalt in einem ordentlichen Zustand zu halten. Ihre unruhige Tochter, die viel Aufmerksamkeit fordert, setzt sie meist vor den Fernseher oder den Computer. Sie geht ungern mit ihr zum Spielplatz, da die Kleine durch ihr auffälliges Sozialverhalten schnell Streit mit anderen Kindern bekommt. Die Gespräche mit der Lehrerin, die aufgrund des schulischen Verhaltens des Kindes darauf bestanden hat, das Jugendamt einzuschalten, erschöpfen und empören Frau A., die ihre Tochter liebt, und deren Schwierigkeiten nicht wahrhaben will.
Da die Schnittstellen mit der Welt meist Kampf und Auseinandersetzung bedeuten, zieht sich Frau A. so weit wie möglich zurück. Ihre „Aktion ist von Grund auf Reaktion“.13
Sie lebt isoliert und hat aufgrund ihrer fehlenden Kenntnis sozialer Umgangsformen keine Freunde. Ihre Interessen und Aktivitäten beschränken sich auf Fernsehen, Computerspielen und Einkaufen. Da ihre Tochter sie mit materiellen Wünschen bedrängt, und sie nicht die Kraft für Auseinandersetzungen hat, kauft sie ihr jeden Tag ein kleines Spielzeug. Wenn sie den Wünschen des Kindes nicht nachkommt, verhält dieses sich ihr gegenüber oft aggressiv und schlägt, kratzt und beißt sie. Bei seinen Impulsausbrüchen wirkt es nahezu ohne Selbstkontrolle.
Häusliche Aufgaben, die erledigt werden müssen, schiebt Frau A. lange vor sich her und klagt über Konzentrationsstörungen und fehlenden Antrieb. Aufgrund ihrer mangelnden schulischen Kenntnisse kann sie ihrer Tochter nicht bei den Hausaufgaben helfen. Sie fühlt sich überfordert, sehnt sich nach Ruhe und Frieden und liegt wegen ihrer Erschöpfung häufig im Bett. Aufgrund ihres gesteigerten Schlafbedürfnisses kann von einer Hypersomnie gesprochen werden.
Frau A. fühlt sich unfähig, zu leben und den Anforderungen, die im Alltag an sie herangetragen werden, zu genügen. Viele Jahre lang übernahm ihr Vater sowohl den Briefwechsel mit den Behörden als auch die Teilnahme an Elternabenden in Kindergarten und Schule. Heute übernimmt ein gesetzlicher Betreuer viele dieser Aufgaben. Das Lebensgefühl, das Frau A. im Rahmen der Therapie explizit und implizit zum Ausdruck bringt, spiegelt sich in ihren häufig formulierten Worten „Ich kann nicht“ wider. Das Gefühl des Nicht-Könnens manifestiert sich auch auf leiblicher Ebene, da sie nicht nur über ihre Erschöpfung, sondern auch über chronische Kopf- und Rückenschmerzen, Verspannungen und andere körperliche Beschwerden klagt. Alle Vorschläge, die auf eine Veränderung ihrer Situation abzielen, wie die Teilnahme an einem Schreibkurs, lehnt Frau A. unter Hinweis auf ihre Krankheit ab.
In seinem Buch Das erschöpfte Selbst beschreibt der französische Soziologe Alain Ehrenberg ausführlich Symptome der „Erschöpfung“,14 die zu einer „Handlungsstörung“15 führen können.R Die Besonderheit dieser Störung liegt nach Ehrenberg „darin, dass sie die Unfähigkeit zu leben als solche zeigt“,16 die Betroffenen „in einem Zustand des ‚Nichts-ist-Möglich‘“17 verharren lässt und sich durch „Asthenie (Erschöpfung), Gehemmtheit oder (…) Apathie ausdrückt“.18
Byung-Chul Han bettet die „Schaffens- und Könnensmüdigkeit“19 des erschöpften Individuums in einen gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang ein. In seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft verweist er darauf, dass „Foucaults Disziplinargesellschaft“,20 die von Verboten und Gesetzen geregelt wurde und jedem Individuum klare Rollen und Verhaltenskodizees zuwies, im 21. Jahrhundert von der Leistungsgesellschaft abgelöst wurde. Diese unterwarf die neuen Leistungssubjekte durch ihre Forderung nach „Projekt, Initiative und Motivation“21 dem „Kollektivplural der Affirmation Yes, we can“.22 Der Einzelne wurde auf diese Weise „zu persönlicher Initiative“23 und „Verantwortlichkeit“24 aufgefordert und „dazu verpflichtet, er selbst zu werden“.25
Die erschöpften Subjekte scheitern jedoch an der Herausforderung, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen und werden aus Mangel an Initiative zu „Versager[n]“.26
Das Nicht-Können-Können Frau A.’s wurde vermutlich auch durch ihre mangelnde Sozialisation begründet. Weder von ihren Eltern noch von den Lehrern in Summerhill lernte sie, vorgegebene Grenzen zu akzeptieren und sich Regeln zu beugen. Die Fähigkeit zur Selbstdisziplin, die auf diesem Wege erlernt werden muss, ist nach Nietzsche notwendig, um ein „souveraine[s] Individuum“27 zu werden, das „Macht über sich“28 und dadurch „das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“29 erlangen kann.
Die Selbstmächtigkeit ist ein Hinweis auf einen starken Willen und eine Voraussetzung für Handlungskompetenz. Um in der Zukunft liegende Ziele erreichen zu können, benötigt der Mensch ein „Gedächtniss des Willens“,30 ein „Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten“,31 das auch im Kampf gegen Widerstände die „lange Kette des Willens“32 nicht reißen lässt.
Frau A. jedoch hat nicht gelernt, „die Frustrationen, die das Geschick eines jeden Lebens sind“,33 auszuhalten und verharrt „in einem Zustand der permanenten Adoleszenz“.34 Sie betont häufig, dass sie Druck nicht aushalten könne und Freiräume brauche. „Störungen des Willens“35 führen bei ihr zu „Vermeidungsverhalten“,36 „mangelnde[r] Selbstbeherrschung“37 sowie einer „Unfähigkeit zu warten und Beschränkungen zu akzeptieren“.38 So leidet sie nach eigenen Angaben unter Kaufsucht, da sie sich schlecht mäßigen kann, und ihr Geld sofort ausgeben muss. Da sie als Bruchstück-Mensch der Herrschaft ihrer eigenen Affekte unterworfen ist, unterstützt sie der Betreuer in finanziellen Angelegenheiten. Durch die fehlende Schulbildung und ihre Handlungs- und Willensstörung ist an eine Erwerbstätigkeit nicht zu denken.
Aufgrund ihrer mangelnden Sozialisation scheitert Frau A. auch an der Erziehung ihrer Tochter. Sie will ihr keine Frustrationen zumuten und empfindet die von Nietzsche als „Sittlichkeit der Sitte“39 bezeichneten gesellschaftlichen Normen als Zumutung. Die „sociale [ ] Zwangsjacke“,40 mit der Lehrer und Erzieher ihre Tochter mutmaßlich einengen wollen, weckt bei ihr Empörung.
Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse ist die Vermutung zulässig, dass auch die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aus einer mangelnden Anleitung zur Selbstbeherrschung und einer daraus resultierenden Handlungsunfähigkeit erwachsen könnte. So berichtet Frau A. häufig davon, dass ihre Tochter oft nicht zur Schule gehe, weil sie sich krank fühle, und „nicht könne“. Sie selbst könne der zunehmenden Schulverweigerung nichts entgegensetzen.
Werden keine gesellschaftlichen Hilfsmaßnahmen eingeleitet, so droht dem Kind möglicherweise ein ähnliches Schicksal wie seiner Mutter. Han bezeichnet das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom als einen der „Infarkte“,41 die „angesichts des Zuviel“42 an gesellschaftlichen Anforderungen entstehen und „die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts“43 bestimmen.
Das von einem tiefen Gefühl der „Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit“44 begleitete „Nicht-Mehr-Können-Können“45 führt bei Frau A. zu einem „Verdruss an sich selbst“46 und einem Hadern mit den „Voraussetzungen des Lebens“,47 die nicht mit ihren Vorstellungen und Wünschen übereinstimmen. Ähnlich wie andere Erschöpfte hat sie das grundlegende „Gefühl, auf der Seite der Verlierer, der Enttäuschten zu stehen“.48 Dieses Gefühl kann vor dem Hintergrund ihrer Biographie gut nachvollzogen werden.
Aufgrund ihrer „Unfähigkeit zum Widerstand“49 reagiert Frau A. auf alles Leiden mit „Unlust“,50 „hat es satt“51 und findet, dass die Wirklichkeit anders sein „sollte“.52 In jeder Therapiestunde klagt sie über die Welt und ihre Befindlichkeit. Da sie meist als Inkarnation der Vorwürflichkeit auftritt, ruft ihr Auftreten bei vielen Menschen, denen sie begegnet, Aversionen hervor.
Ihrer Meinung nach sollte die Lehrerin mehr Verständnis mit ihrer Tochter haben und die finanzielle Unterstützung seitens des Staates erhöht werden. Die Menschen in der Bahn, die unfreundlich blicken oder schimpfen, wenn Frau A.’s Tochter ihnen gegenüber aggressiv wird, sollten kinderfreundlicher sein und berücksichtigen, dass die Kleine noch ein Kind sei. Über das Türenknallen im Haus sollte sich die Vermieterin weniger aufregen, und ihr Freund sollte arbeiten gehen, um seiner Rolle als Ernährer der Familie nachzukommen.
In ihren Klagen versucht Frau A., den Schmerz als „Irrthum“53 zu beweisen, unter der naiven Vorstellung, dass daraufhin „der Schmerz schwinden müsse“.54 Das Wenden gegen das Leiden beinhaltet jedoch ein Wenden gegen das Leben. „In der wirklichen Welt, wo schlechterdings Alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend Etwas verurtheilen und wegdenken, Alles wegdenken und verurtheilen“.55
Da das Leiden nicht aufgehoben werden kann und sogar ein notwendiges Moment „des sich selbst überwindenden Lebens“56 konstituiert, stellen Frau A.’s Wünsche „in der Praxis des Lebens (…) eine Unmöglichkeit“57 dar. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, das durch ihre reaktive Haltung entsteht, verschlimmert das Leiden und macht es „zur Last“.58