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5.2.1 Frau S.

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Frau S. ist eine 42-jährige Frau, die durch eine kräftige Statur und ein betont selbstbewusstes Auftreten auffällt. Im Alter von sechs Jahren wurde sie ihren Erzählungen gemäß erstmals von ihrem Vater sexuell missbraucht und dabei gefilmt. Da sie von diesem Zeitpunkt an regelmäßig den Misshandlungen ihres Vaters ausgesetzt war, ging sie einige Jahre später freiwillig in ein Heim. Nach zwei missglückten Suizidversuchen begann sie als Jugendliche, ihre Dienste als Prostituierte anzubieten. Einmal missbrauchte sie einen kleinen Jungen, der auch im Heim lebte, um nach eigenen Angaben herauszufinden, was dabei den Reiz für den Täter ausmachen könnte. Frau S. machte als Erwachsene eine Ausbildung zur Schneiderin und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf.

Wegen ihrer Alkoholabhängigkeit verlor sie jedoch ihre Stelle und ist seit vielen Jahren arbeitslos. Sie ist ledig, hat keine Kinder und ist im psychosozialen Hilfesystem eingebunden. In Folge der jahrelangen sexuellen Ausbeutung entwickelte Frau S. Symptome, die im ICD-10 als Posttraumatische Belastungsstörung1 (F 43.1) bezeichnet werden.

Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann als „Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung“2 entstehen. Opfer oder Zeuge von Katastrophen, Kampfhandlungen, schweren Unfällen, Folterungen, Vergewaltigungen oder anderen Verbrechen zu werden, kann die Entstehung einer solchen Belastungsstörung nach sich ziehen. Die Vulnerabilität für die Entwicklung dieses Syndroms kann durch prämorbide „zwanghafte oder asthenische“3 Persönlichkeitszüge erhöht werden.

Die sogenannte Symptomtriade, die sich aus Intrusionen (z.B. sich aufdrängende Erinnerungen in flashbacks oder Albträumen), Vermeidung (z.B. von Stichworten oder Situationen, die an die traumatische Situation erinnern könnten) und vegetativer Übererregbarkeit (z.B. Konzentrationsstörungen oder Reizbarkeit) zusammensetzt, stellt die Kernsymptomatik der Störung dar. „Angst und Depression“4, „Suizidgedanken“5 sowie „Drogeneinnahme oder übermäßiger Alkoholkonsum“6 sind häufige Begleiterscheinungen einer PTBS. Der Verlauf der Erkrankung ist unterschiedlich, bei einigen Patienten „nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine dauernde Persönlichkeitsänderung über“.7

Da Frau S. schwerster und wiederholter Misshandlung ausgesetzt war, kann in ihrem Fall von einer Extremtraumatisierung gesprochen werden.Q

Zu dem Zeitpunkt, an dem Frau S. erstmalig zum Opfer einer Gewalttat wurde, war sie noch ein Kind. Aufgrund ihres Alters war sie kognitiv vermutlich noch nicht in der Lage, das Verhalten ihres Vaters begreifen und einordnen zu können. Die Tatsache, dass ein bislang als Vertrauensperson eingeschätzter Mensch sie auf diese Weise quälte, wird ihr noch in der Entwicklung befindliches kindliches Selbst- und Weltverständnis stark erschüttert haben.

Aufgrund der Ungeheuerlichkeit des Vorfalls „scheint die Integration der traumatischen Erfahrung in die vorhandenen Schemata des Selbst- und Weltverständnisses bzw. die funktionell-neuronalen Strukturen“8 misslungen zu sein.

Ein erster Hinweis auf die Verstörung ihres Gedächtnisses geht aus Frau S.’s Beschreibung von Wahrnehmungsveränderungen in der traumatischen Situation hervor. So erinnert sie sich heute noch bruchstückhaft daran, starke Schmerzen und Todesangst empfunden und daraufhin ihr Bewusstsein zeitweilig „ausgeschaltet“ zu haben. Die dadurch bedingten Gedächtnisausfälle werden in der Fachsprache als „Amnesien“9 bezeichnet und gehören zu den psychischen „Selbstschutzmechanism[en]“.10 Weiter erinnert sich Frau S. an das Gefühl, Teile des bedrohlichen Geschehens als außenstehende Beobachterin erlebt zu haben. Dieses auch als „out-of-body-experience“11 bezeichnete Phänomen, das ebenso wie die Amnesien zu den „peritraumatische[n] (…) Dissoziation[en]“12 gezählt wird, entsteht als „Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen“.13

Auch wenn die dissoziativen Fähigkeiten eine Schutzfunktion übernehmen, so stellen sie nach aktuellem Stand der Traumaforschung „vermutlich ein besonderes Problem“14 für die „Verwandlung von Erinnerungen an die traumatische Situation in schematisiertes Wissen“15 dar. So schreiben Gottfried Fischer und Peter Riedesser:

„Hier kann es leicht zur Bildung dissoziierter, fragmentierter Schemata kommen, die ein abgespaltenes Dasein im Gedächtnis führen und sich den Koordinationsregeln entziehen, die sonst den verfügbaren Wissensbestand der Persönlichkeit leiten.“16

Fischer und Riedesser vergleichen die abgespaltenen Erinnerungen mit einem „nicht assimilierbare[n] innere[n] ‚Fremdkörper‘“17 bzw. „eingedrungene[n] Mikroorganismen“,18 mit denen der Betroffene weiterleben muss. In Nietzsches Metaphorik entsprechen die vom Bewusstsein abgespaltenen, dissoziierten Erinnerungen unverdaulichen Nahrungsanteilen, die dem Körper nicht einverleibt werden können:

„Ein starker (…) Mensch verdaut seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse ‚nicht fertig‘, so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere.“19

Als „harte Bissen“ liegen die Missbrauchserfahrungen wie unverdauliche Steine in Frau S.’s Magen und verhindern die Entstehung eines ausgeglichenen Gedächtnisses. Die Unfähigkeit, die Bissen zu assimilieren, kann auch als unbewusste, aus der kindlichen Schwäche resultierende „Weigerung“ gegen die Korrektur des bisherigen Selbst- und Weltbildes und als „Nein“ zur erlebten Wirklichkeit interpretiert werden. Dadurch wird ein „Einigungsprozeß“,20 bei dem sich „die Teilkräfte zu einem Ganzen“21 ordnen, dauerhaft verhindert. In Ermangelung der plastischen Kraft, die notwendig ist, um „Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben“,22 kann kein stabiler Bezugsrahmen entstehen, in dem sich „eine Vielheit mit Einem Sinne“23 zur Einheit ordnet.

Da sich der Vater in der Folgezeit wiederholt an seiner Tochter verging, kann davon ausgegangen werden, dass er ihr Gedächtnis durch „Mnemotechnik“24 dauerhaft verstörte: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtniss.“25

Nach Gottfried Fischer ist der Täter häufig selbst traumatisiert und übermittelt durch die Gewalttat „dem Opfer sein eigenes zerstörtes Welt- und Selbstverständnis“,26 seinen „unbewussten Konflikt (…), sein zerstörtes Wesen, seinen Hass und seine ruinierte Emotionalität“.27 In einer „extrem negativ emotionalen Gewaltsituation“28 werden die Körpergrenzen des Opfers überschritten, um das eigene zerstörte Selbstbild zu introjizieren. Die Situation negativer Intimität kann „psychologisch zu einer intensiveren Bindung führen, als dem Opfer bewusst wird“.29 Indem auch Frau S. später einen kleinen Jungen missbrauchen sollte, wurde sie selber zur Täterin. Die Erinnerung daran erfüllt sie noch heute mit tiefen Scham- und Schuldgefühlen.

Die das Gedächtnis verstörenden psychischen Fremdkörper rufen allem Anschein nach einen andauernden „Überreiz“30 hervor und erschweren sowohl die Verarbeitung neuer Erfahrungen als auch den Umgang mit der Vergangenheit. So leidet Frau S. seit ihrer Kindheit an Symptomen der Übererregbarkeit, die sie unbeherrscht und maßlos auf neue, von außen kommende Impulse regieren lassen. Bei den leisesten Geräuschen fährt sie zusammen und sitzt am liebsten mit dem Rücken zur Wand, um den Raum im Blick zu haben. Diese als „Schreckhaftigkeit“ und „Hypervigilanz“ bezeichneten Verhaltensweisen sind vermutlich auf eine Übererregung des vegetativen Nervensystems zurückzuführen und werden häufig von Schweißausbrüchen und erhöhtem Blutdruck begleitet. Ihre gereizte Grundstimmung bewirkt, dass sich Frau S. schnell provoziert fühlt, und zu plötzlichen aggressiven Durchbrüchen neigt. Die intensiven Hass- und Wutgefühle, die sie ständig begleiten, entladen sich schon bei für Außenstehende unbedeutenden Anlässen. Da Frau S. im nationalsozialistischen Parteiprogramm ihre Weltanschauung vertreten sieht, ist sie seit einigen Jahren aktives Mitglied der NPD. Sie schätzt sowohl die straffe Organisation der Partei als auch die radikale gesellschaftliche und staatliche Ordnung, die im politischen Programm annonciert werden. Das durch den „Überreiz“ verursachte Fehlen innerer Strukturen führt offensichtlich zu einem Wunsch nach klaren äußeren Strukturen.

Gegen ihre schon in jungen Jahren diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verschrieb ihr der Kinderarzt das Medikament „Ritalin“, das sie sich heute von ihrem Psychiater verordnen lässt.

Eine weitere Folge der Überreizung ihres Gedächtnisses stellt die im Dienste der Rache stehende Unfähigkeit zu vergessen dar.

Die harten Bissen, die nach Gottfried Fischer als „[z]usammenhanglose Sinnesfragmente“31 eine dekontextualisierte Existenz im Gedächtnis von traumatisierten Menschen führen, können unkontrolliert in ihr Bewusstsein treten und sie in Form von Intrusionen überfluten.32 Als Intrusionen werden Erinnerungen an die traumatische Situation in Form von Albträumen, sich aufdrängenden Bildern und Nachhallerinnerungen bezeichnet. Frau S. leidet vor allem an Albträumen und einer besonderen Form von Nachhallerinnerungen, den „Flashbacks“.33 Hierbei handelt es sich um ein, durch Schlüsselreize oder Trigger hervorgerufenes Wiedererleben des traumatischen Ereignisses, das von dem Betroffenen nicht als Erinnerung erkannt wird. In bestimmten Situationen verfällt Frau S. einige Minuten lang in einen Dämmerzustand, in dem „Teile der traumatischen Erfahrung wachtraumartig wieder durchlebt“34 werden. Da sie während der Überflutung nicht in der Lage ist, „zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und aktueller Bedrohung“35 zu unterscheiden, fühlt sie sich unweigerlich wieder in die Situation des Missbrauchs zurückversetzt und hat das Gefühl, ein sechsjähriges Kind zu sein. Fischer und Riedesser führen den Charakter des „Unveränderbaren“36 der traumatischen Erinnerungsfragmente darauf zurück, dass „die Kategorisierung und Kontextualisierung der Sinneseindrücke“,37 und somit eine Einordnung und Strukturierung, misslungen ist.

Die durch Intrusionen ermöglichte Rückkehr in die Vergangenheit kann als eine der Stufen der Ressentimententwicklung gedeutet werden. Frau S., die im Verlauf ihrer Kindheit und Jugend sehr schlechte Erfahrungen machen musste und wenig gefördert wurde, führt heute ein wenig erfülltes Leben als Arbeitslose und Alkoholabhängige. Die andauernd empfundene Ohnmacht der Welt gegenüber lässt nun „den mit ihr verknüpften Schmerz unerträglich werden“.38 Gemäß dem Mechanismus des Ressentiments versucht Frau S. unbewusst, den gegenwärtig erlebten Schmerz durch einen „Affekt der Rache“39 zu betäuben. Durch die Rache soll die „erlittene Schädigung zum Ausgleich gebracht werden“.40 Dabei vollzieht sie eine „Zeitumkehrung“,41 bei der sie den Schmerz in die Vergangenheit verlegt, ihre Aufmerksamkeit auf die „gesetzte (…) Ursache“42 des Schmerzes richtet und die Verantwortung dem „als schuldig“43 gesetzten Täter, ihrem Vater, zuweist.

Die Zeitumkehrung, die durch die Intrusionen herbeigeführt wird, könnte auch als ohnmächtiger Versuch, die Zeit zurückzudrehen und den Lauf der Ereignisse zu verändern, betrachtet werden. In diesem Sinne sind die folgenden Worte Zarathustras zu deuten:

„Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, – das ist des Willens einsamste Trübsal. (…) Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; ‚Das, was war‘ – so heisst der Stein, den er nicht wälzen kann. Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmuth und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt. Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehethäter: und an Allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann. Diess, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘.“44

Ein weiterer Versuch, durch Zeitumkehrung Einfluss auf die Vergangenheit zu nehmen, ist in dem unbewussten Wiederholungs- und Reinszenierungsbedürfnis traumatisierter Menschen erkennbar. Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang vom „Rundkurs des Traumas“45 und den dazugehörigen „Knotenbildungen, durch die sich das jeweils neue Jetzt zwanghaft und suchthaft in ältere Schmerzschleifen einfädelt“.46

Auch Frau S. sucht immer wieder instinktiv nach Situationen, die an ihre traumatischen Erlebnisse erinnern. Wenn sie nachts durch ihre Albträume erwacht, verspürt sie das starke Bedürfnis, sich das Video anzusehen, das der Vater während einer Missbrauchssituation drehte. Danach muss sie sich häufig übergeben, laut Fischer ein Versuch, das „aufgezwungene bösartige Introjekt wieder aus[zu]stoßen“.47 Nicht nur ihre einstige Tätigkeit als Prostituierte, sondern auch der Missbrauch des kleinen Jungen kann vor dem Hintergrund des Wiederholungszwanges gedeutet werden. Durch einen als „Identifizierung mit dem Aggressor“48 bezeichneten Abwehrmechanismus solidarisieren sich manche Opfer mit dem Täter, um ihr Gefühl des Ausgeliefertseins in der traumatischen Situation zu vermindern. So ist es möglich, dass in der späteren Reinszenierung die Seiten gewechselt und die ehemaligen Opfer zu Tätern werden. Dieser Interpretationsansatz schließt ein Rachebedürfnis nicht aus, bei dem der „Ingrimm und Unmuth“ des Opfers zu dem Wunsch führt, „Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt“, zu üben.

Nach aktuellen Erkenntnissen der Traumaforschung resultiert das Reinszenierungsbedürfnis aus dem Versuch, die traumatische Situation, in der Kampf und Flucht unmöglich waren, nachträglich zu einem guten Ende führen zu können. Das traumatische Erlebnis, das aufgrund der erfahrenen Ohnmacht als „unterbrochene Handlung“49 erlebt wird, soll in der Wiederholung aktiv vollendet und zu einer guten Gestalt geschlossen werden. Durch die Zeitumkehrung widersetzt sich Frau S. der Zeit, „flieht vor ihr zurück“,50 legt sie in ihren Intrusionen „subjektiv still“51 und vergisst „die Gegenwart zugunsten eines Fixpunktes in der Vergangenheit“.52 Auf diese Weise wird sie „zum Todtengräber des Gegenwärtigen“.53 Durch ihre Rückwendung an den vergangenen Zeitpunkt der Misshandlung, „der als solcher, weil vergangen, nicht mehr zu verändern, rückgängig zu machen oder aufzuheben ist“,54 stößt sie immer wieder an den, von der Rache gesetzten Fixpunkt des „Es war“. Die Vergangenheit wird zur Last. Weder durch Reinszenierungen noch durch Intrusionen wird sie das Geschehene ändern können. Daher heißt es in Nietzsches Also sprach Zarathustra:

„‚Es war‘: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist – ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer.“55

Die abgespaltenen Erinnerungsfragmente, die nicht in die Lebensgeschichte integriert werden können, werden als „ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall“56 erlebt. Indem der Wille sich das Fremde „nicht aneignet, sondern als anderes von sich abweist“,57 ist er daran „unauflöslich gebunden“.58 Fischer bezeichnet die Intrusionen als „negative (…) Fixierung an die traumatische Situation“,59 die eine „Fixierung in der Opferrolle“60 begünstigen. Durch die Zeitumkehrung begründet das „Es war“ die „fortdauernde Rache, es stellt (…) die Rationalisierung für den Widerwillen gegen das Leid dar“.61

Widerwille gegen das Leid wird auch in Verhaltensweisen sichtbar, die im Vokabular der Psychotraumatologie zur Kategorie der Vermeidung gehören. So vermeidet Frau S. Trigger, ist extrem misstrauisch und lebt sehr zurückgezogen. Das rechte Maß an Abgrenzung von ihren Mitmenschen ist ihr schon immer schwergefallen, weil ihr fremde Emotionen stets „zudringlich nahe“62 kommen und ihr die Erlebnisse der anderen unter die Haut gehen. Dadurch bestätigt sie Nietzsches Beobachtung, dass beim Bruchstück-Menschen die „Erlebnisse (…) zu tief“63 treffen und verletzen. Auch ihr selbstbewusstes Auftreten, das schnell als Fassade erkennbar wird, kann als Schutz gegen neue Verletzungen gedeutet werden.

Da zudem auch ihr Vorname einen Schlüsselreiz darstellte, hat sie diesen amtlich ändern lassen. Ihre Ängste versucht sie, durch Alkohol zu betäuben. Wenn sie bei ihrem Psychiater ist, bittet sie darum, dass die Tür offen bleibt oder dass eine der Sprechstundenhilfen beim Gespräch anwesend ist.

Wenngleich ihre Vermeidungstaktiken Teil einer Lösungsstrategie sind, führen diese letztendlich in eine Sackgasse, da sie sehr unter ihrer sozialen Isolation leidet. So ist Frau S.’s Angst vor Menschen vermutlich auf eine „traumatische[ ] Übergeneralisierung“64 zurückzuführen, in der sie die Beziehung zu ihrem Vater verallgemeinert. Ihr Gedächtnis stützt sich „zuviel und auch noch auf falsche Art und Weise“65 auf bisherige Erfahrungen, da sie nun eine erwachsene, kräftige Frau ist, die sich gegen andere Menschen körperlich wehren könnte.

Frau S. ist der Prototyp eines Menschen, der die „Kraft zu vergessen“66 nicht besitzt, und der „aus der glücklich-vergeßlichen Mitte an die abschüssigen Ränder versetzt“67 wurde, „von denen es keine einfache Rückkehr zur Normalität mehr gibt“.68 Der Kampf gegen die „grosse und immer grössere Last des Vergangenen“,69 der Teil ihrer Verstörung ist, verdeutlicht den zum Ressentiment gehörigen Mechanismus der Zeitumkehrung in besonderer Weise. Im „Wieder-Erleben negativer Gefühle“70 findet das Re-Sentiment buchstäblich seinen Ausdruck.

Für Nietzsche ist das „Ressentiment (…) das Verbotene an sich für den Kranken – sein Böses: leider auch sein natürlichster Hang“.71 Es ist „Niemandem schädlicher als dem Schwachen selbst“,72 da es „einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne“73 gibt, „bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht“.74

Auch nach Ansicht von Peter Sloterdijk regt sich der „Furor des Ressentiments von dem Augenblick an (…), in dem der Gekränkte beschließt, sich in die Kränkung fallen zu lassen“.75 Die „aus der Schwäche geboren[en]“76 Rach- und Nachgefühle des Ressentiments ziehen unvermeidbar eine weitere „Schwächung der Verdauungs-Kraft“77 mit sich. Auf diese Schwächung soll im nächsten Kapitel näher eingegangen werden.

Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven

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