Читать книгу Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven - Barbara Gründler - Страница 21
5.1.1 Herr R.
ОглавлениеHerr R. ist ein 29-jähriger Mann, der nach offizieller Nomenklatur an einem Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivitätsstörung1 (ADHD)J (F 90.0) und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung2 (F 60.31) leidet. Nach eigenen Schilderungen war er schon als Kind wegen motorischer Unruhe und einer Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit in ärztlicher Behandlung.
Das ADHD gehört zu den hyperkinetischen Störungen, die mit einem Mangel an Ausdauer und einer „Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen“,3 verbunden ist. Hinzu kommt eine „desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität“.4 Die Kardinalsymptome sind eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und Überaktivität.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört zu den „emotional instabil[en] Persönlichkeitsstörung[en]“.5 Impulsives Verhalten, Wutausbrüche, schnell wechselnde Stimmungslagen und große Schwierigkeiten beim Vorausplanen von Handlungen sind Merkmale, die im ICD-10 beschrieben werden. Beim Borderline-Typ besteht oft ein „chronisches Gefühl innerer Leere“.6 Zudem sind „das eigene Selbstbild, Ziele und ‚innere Präferenzen‘ (einschließlich der sexuellen) unklar und gestört“.7
Der sprudelnde Redefluss des wortgewandten Herrn R. ist meist nur schwer einzudämmen. Er weicht schnell vom anfänglichen Gesprächsthema ab, springt von einem Sujet zum nächsten, verstrickt sich in Details und verliert häufig den Faden. Seinen Therapeuten lässt er kaum zu Wort kommen, bittet jedoch manchmal darum, ihn zu bremsen, wenn er zu sehr abschweift.
Nicht nur die eigenen Gedankengänge bringen Herrn R. vom Thema ab, auch von Umweltreizen lässt er sich leicht ablenken. Ein am Fenster vorbeifliegender Vogel, Stimmen im Flur oder die Türklingel binden sogleich seine ganze Aufmerksamkeit. Er selbst bezeichnet die häufig bei sogenannten hyperkinetischen Störungen zu beobachtende Unfähigkeit, „Reize zu ignorieren“,8 und den Zwang, dem jeweils stärksten Reiz folgen zu müssen, als Konzentrationsschwäche und Reizüberflutung.
Das aus dem Lateinischen stammende Wort Konzentration wird definiert als „höchste Aufmerksamkeit“9 und „gezielte Lenkung auf etw[as] hin“.10 Von diesem Begriff leitet sich das französische Verb concentrer mit seiner Bedeutung „in einem Punkt vereinigen“11 ab. Die Definitionen lassen an die von Nietzsche beschriebene „dirigirende Kraft“12 des starken Willens denken, welche die „Vielheit (…) der Antriebe“13 unter der „Vorherrschaft eines einzelnen“14 zu koordinieren weiß, und die „Präcision und Klarheit der Richtung“15 vorgibt.
Herr R.’s Konzentrationsschwierigkeiten zeugen möglicherweise von einer Desorganisation und Dysregulation seiner Affekte, einem „Mangel an System“16 und einer Unfähigkeit, Handlungsimpulse zu hemmen. Seine Reaktionen sind durch „Plötzlichkeit“17 und „Unhemmbarkeit“18 gekennzeichnet und lassen ein Fehlen der negativen Potenz, der „Potenz (…) des nicht-zu“,19 vermuten, durch das sein Handeln in „eine[ ] tödliche[ ] Hyperaktivität“20 abzugleiten droht.
Durch das Gefühl, von Reizen überflutet zu werden, entsteht bei ihm ein tiefes Gefühl der Ohnmacht, das Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung unmöglich zu machen scheint. Die Möglichkeitsbedingungen eines „positiven Eigenwollens“21 scheinen somit bei ihm nicht gegeben zu sein.
Herr R.’s Bitte an den Therapeuten, ihn zu bremsen und zum Thema zurückzuführen, kann als Versuch einer externalen Zentrierung betrachtet werden, bei dem der Gesprächspartner als dirigierende Kraft und Hilfs-Ich fungieren soll. In dem Wunsch nach externaler Hilfe kommen Herr R.’s Reaktivität und sein Bedürfnis, im Sinne Deleuzes ein Knecht zu sein, zum Ausdruck. Da er sich selbst nicht zu befehlen weiß, sucht er nach einem General, dem er gehorchen und nachgeben kann. So lässt Nietzsche Zarathustra sagen: „Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art.“22 Die erhofften Anweisungen des Therapeuten ersetzen dabei die eigene aktive Selbstdisziplinierung, zu der Herr R. nicht in der Lage ist.
Abb. 3: Externale Zentrierung beim Herrschaftsgebilde des schwachen Willens durch den Therapeuten
Für den Neurobiologen, Hirnforscher und Philosophen Manfred Spitzer resultieren Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen aus einer mangelnden Hemmung störender Impulse im Frontalhirn.23 Die Unfähigkeit zur Impulshemmung bezeichnet Spitzer auch als Mangel an „Selbstkontrolle“,24 Fehlen von „Selbstbeherrschung“25 und „Willensstärke“26 oder als Unzulänglichkeit der „exekutiven Funktion“.27
Nach aktuellem Stand der psychiatrischen Forschung erscheinen Aufmerksamkeitsstörungen als „Folge biologischer Unregelmäßigkeiten in Kombination mit bestimmten dysfunktionalen Umgebungsbedingungen“.28 So zeigen sich bereits in den ersten Lebensjahren „individuelle Unterschiede in der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu kontrollieren“.29 Die amerikanische Psychologin Marsha Linehan hat auf den Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur „Fokussierung und Lenkung“30 der Aufmerksamkeit und der „Emotionsregulation“31 hingewiesen. Durch die „Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einen positiven Reiz“32 oder die „Abwendung der Aufmerksamkeit von einem negativen Reiz“33 können positive Stimmungen verstärkt oder aufrechterhalten werden.
Die „Dysfunktion des emotionsregulierenden Systems“34 als direkte Folge von Aufmerksamkeitsstörungen gilt als eines der Hauptmerkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie wird durch „ausgeprägte Stimmungsschwankungen“35 und „intensive Emotionen“36 charakterisiert. Da die Betroffenen eine „niedrige Schwelle für emotionale Reaktionen besitzen“37 reagieren sie „sehr schnell“38 und sind meist „emotional stark erregt“.39 Aufgrund der Intensität der Erregung wirkt diese häufig „selbstverstärkend“40 und verlangsamt die Rückkehr zu einer ausgeglichenen „emotionalen Grundstimmung“.41 Aus diesem Grund befindet sich auch Herr R. meist in einem für viele Borderline-Patienten typischen „andauernden Krisenzustand“.42
Seine Grundeinstellung der Welt und seinen Mitmenschen gegenüber ist von Empörung und Wut gekennzeichnet, und er steigert sich meist leiblich in seine Erregung hinein.
Auch im motorischen Bereich muss er dabei dem stärksten Antrieb folgen und scheint „von seinen Muskeln kontrolliert“43 zu werden, denn er springt während des Gesprächs immer wieder auf, um gestikulierend im Raum auf und ab zu gehen. Sein Ärger wird auch in Mimik und Gestik deutlich: so sind seine Augen oft weit aufgerissen, sein Blick hasserfüllt und seine Körperbewegungen ausladend und demonstrativ. „Schwierigkeiten im Umgang mit Wutgefühlen“44 sind Teil der Definition der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Aufgrund der unglaublichen Energie, über die Herr R. verfügt, stellt sich die Frage, ob er nicht in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen zu den „zur Selbstgesetzgebung Berufenen“45 hätte gehören können.
Herr R.’s Empörung betrifft den Verlauf seines gesamten Lebens. Eine nach den Ausführungen der Psychologin Christa Rhode-Dachser bei vielen Borderline-Patienten vermutete „gesteigerte Vulnerabilität“46 wurde bei Herrn R. möglicherweise durch ein ungünstiges soziales und familiäres Umfeld verstärkt und führte zu gesellschaftlichem Scheitern und psychischer Verstimmung. Da seine Eltern sich scheiden ließen und seine Mutter mit der Erziehung überfordert war, verbrachte er seine Jugend in einer Pflegefamilie.
Nach seinem Hauptschulabschluss machte Herr R. keine Ausbildung, sondern verbrachte den Hauptteil seiner Freizeit vor dem Computer. Er trank viel Alkohol und rauchte Cannabis. Um seinen Drogenkonsum zu finanzieren, verrichtete er gelegentlich Hilfsarbeiten im Rahmen geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, eckte jedoch überall durch sein impulsives Verhalten und seine fehlende Selbstdisziplin an. Nach eigenen Aussagen kam er häufig zu spät und hatte viele Fehlzeiten.
Seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr beschreibt Herr R. als die beste Zeit seines Lebens. Da aufgrund seiner inneren Disgregation Befehlen und Gehorchen keine intrapsychische Einheit zu bilden scheinen, kann auch hier vermutet werden, dass die durch die straffe militärische Hierarchie gewährleistete externale Zentrierung entlastend wirkte. Die von Nietzsche als Erleichterungsmittel empfohlenen Lebensweisen des absoluten Gehorsams und der machinalen Tätigkeit gelten als hervorstechende Kennzeichen des soldatischen Berufes. Die in allen Seinsweisen des Knechts geforderte Folgsamkeit ermöglicht dem Schwachen zwar, eigene „emotionale Reaktionen zu unterdrücken“,47 führt nach Linehan allerdings gleichzeitig zu Gefühlen der „Taubheit“48 und „Leere“.49
Das unkontrollierte Ausleben von Gefühlen oder ihre vollständige Unterdrückung sind die beiden Verhaltensweisen des Sklaven. Entweder dirigiert der jeweils stärkste eigene Affekt oder aber eine außerhalb des Individuums stehende Instanz – niemals jedoch wirkt der eigene Wille als Resultante einer Vielheit von unterschiedlichen Kräften, die zu einer Einheit zusammengeschmolzen sind.
Nietzsche bezeichnet das Bedürfnis „nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein“50 als Zeichen für die Schwäche des Willens, bei der „kein kategorischer Imperativ kommandirt“.51 Der Schwache ist seiner Ansicht nach „eine abhängige Art Mensch, das heißt eine solche, die sich nicht als Zweck ansetzen, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, – die sich als Mittel verbrauchen lassen muß“.52
Gern hätte Herr R. sich als Berufssoldat verpflichtet, sein Antrag wurde jedoch aufgrund seiner publik gewordenen Suchtproblematik abgelehnt.
Seitdem nimmt er unterschiedliche Dienste des psychiatrischen Hilfesystems in Anspruch. Da er durch seine Schwierigkeiten, Bedürfnisse aufzuschieben, hoch verschuldet ist, hat er einen gesetzlichen Betreuer, der ihm sein Geld einteilt, seine Privatinsolvenz regelt und alle behördlichen Angelegenheiten erledigt. Einmal im Monat geht er zu seinem Psychiater und einmal wöchentlich zur Ergotherapie. Beim Leben in seiner kleinen Wohnung unterstützt ihn seine Pflegemutter, die für ihn wäscht und die Wohnung reinigt. Wenn er mit ihr telefoniert, lässt er meist im Sinne Deleuzes einen General in sich aufkommen und gibt ihr im Kommandoton Anweisungen. Da Herr R. nach Einschätzung eines medizinischen Gutachters arbeitsunfähig ist, bezieht er seit etwa einem Jahr Leistungen der Grundsicherung.
Die Verfasstheit des Bruchstück-Menschen, die eine Hemmung der jeweils stärksten Impulse und eine Steuerung der Gefühle stark erschwert, hat somit nicht nur unmittelbare, sondern auch langfristige Folgen.K
Da Herr R.’s Wille schwach ist und er nicht die Kraft besitzt, „das Thun auszuhängen, nicht zu reagiren“,53 hat bei ihm ein Prozess der „Selbstzerstörung“54 begonnen, der seinen „Instinkt der Erhaltung“55 kompromittiert.
Nach Marsha Linehan führt die emotionale Fehlregulation der Borderline-Patienten zu einer „Instabilität des Selbstbildes“56 und einem chronischen „Gefühl der Leere“.57 „Emotionale Beständigkeit und Vorhersehbarkeit“58 sind ihrer Ansicht nach notwendige Grundvoraussetzungen für die „Entwicklung einer eigenen Identität“,59 die durch „die Beobachtung des eigenen Verhaltens und der Reaktion anderer auf dieses Verhalten“60 entsteht.
Der lateinische Begriff Identität wird als „die als ‚selbst‘ erlebte innere Einheit der Person“61 definiert. Aufgrund seiner emotionalen Labilität lebt der Bruchstück-Mensch jedoch „in Zerfallenheit mit sich“62 und erlebt sein Ich nicht als „einheitliches Ganzes“,63 sondern als „eine Ansammlung von Teilen“.64 Die fehlende „Identität mit sich selber“65 führt zu einem „gebrochenen Selbstverhältnis“.66 Da Herr R. sich in seinen Monologen, Emotionen und Affekten verliert, ist es schwierig, ihm im Gespräch im Sinne des Religionsphilosophen Martin Buber zu „begegnen“.L
Durch die fehlende innere Einheit scheinen seine medialen „Klangkörpereigenschaften“67 stark eingeschränkt zu sein – ein interpersonaler „Resonanzkreis“68 im Sinne Sloterdijks kann im Gespräch mit ihm kaum entstehen. Aus diesem Grund hat er große Schwierigkeiten, Freunde zu finden, und berichtet häufig von Zerwürfnissen, Missverständnissen und „zwischenmenschlichem Chaos“.69 Allein seinen Hund, der ihm aufs Wort folgt, bezeichnet Herr R. als treuen Freund. Betrachtet man die Beziehung der beiden unter der Dialektik von Herrn und Knecht, so wird deutlich, dass Herr R. auch in diesem Fall die Rolle des Generals innehat.
Eine Folge seines „bruchstückhafte[n] Selbstgefühl[s]“,70 bei dem jeder Teil des Ichs „isoliert für sich“71 besteht, ist Herr R.’s Unfähigkeit, im Fall einer Verletzung einen Ausgleich durch das Ganze zu schaffen. Ähnlich wie bei vielen anderen Borderline-Patienten wird „die eigene Identität immer wieder von dem jetzigen Moment und der aktuellen Interaktion bestimmt, und kann daher nie stabil sein, (…) das Teil wird zum Ganzen“.72 Aufgrund der daraus resultierenden „emotionalen Verletzbarkeit“73 neigt auch Herr R. häufig dazu, „die Dinge zu dramatisieren“.74 Exemplarisch kann ein von ihm als kränkend und verletzend empfundener Konflikt mit seiner Nachbarin geschildert werden:
Diese habe nach Angaben von Herrn R. seit zwei Jahren den Hausflur nicht mehr geputzt, obwohl sie an der Reihe sei. Die Frau, die sich ebenfalls in psychiatrischer Behandlung befindet, behauptet hingegen, sie sei die Letzte bei der Reinigung des Korridors gewesen. Da Herr R. seitdem aus Protest über diese „Lüge“ nicht mehr geputzt hat, und auf keinen Fall der Nachbarin „zu Willen sein“ möchte, ist der Flur in einem katastrophalen Zustand. Seiner Pflegemutter, die sich bereits mehrmals angeboten hat, das Treppenhaus zu reinigen, untersagt Herr R. streng, sich in den Streit einzumischen. Da er die Kränkung nicht vergessen kann, wächst sein Ressentiment beständig an und äußert sich beim leisesten Gedanken an seine Kontrahentin in Hass- und Rachegefühlen.
Im Gegensatz zum Starken, der das Vermögen besitzt, seine Feinde und auch die eigenen Handlungen nicht lange ernst nehmen zu können, vermehrt sich beim Schwachen das Ressentiment, „je mehr das Rachegefühl auf dauernde, kontinuierlich als ‚verletzend‘ empfundene und der Willensmacht des Verletzten entzogene Zustände übergeht“.75 Nach Max Scheler ist eine „besonders große ‚Verletzlichkeit‘(…) häufig auch bereits das Symptom eines rachsüchtigen Charakters“.76
Durch Kränkungen sieht sich Herr R. stets als Person in Frage gestellt und lehnt infolgedessen die aktive Teilnahme am Leben ab. Er fühlt sich den vitalen Herausforderungen, die Auseinandersetzungen, Schmerz und Leid mit sich bringen, nicht gewachsen und zieht sich immer mehr zurück.
Das reaktive Ausweichen vor den Anforderungen der Welt wird bei Herrn R. auch durch den Gebrauch psychotroper Substanzen deutlich. Durch die Notwendigkeit, ständig auf innere und äußere Reize reagieren zu müssen, kann er schlecht zur Ruhe kommen und fühlt sich oft wie gerädert. Um sich zu entspannen, raucht er täglich Cannabis und bezeichnet diesen Wirkstoff als seine Medikation. Es empört ihn, dass der Staat, der sich ohnehin durch unterlassene Hilfeleistung in seiner Kindheit an ihm versündigt habe, den Handel mit weichen Drogen nicht legalisiere. So werde ihm die einzige Substanz, die ihm helfen könne, offiziell versagt. Der Konsum von Drogen wurde bereits im Kapitel 3.3.1 im Rahmen der Philosophie Peter Sloterdijks als Wunsch nach Befreiung vom Existenzzwang und als Nein zur Welt interpretiert. Eine nachträgliche Einwilligung in den „Nachteil, geboren zu sein“M scheint bei Herrn R. nicht stattgefunden zu haben.
Als pflanzliche oder chemische Substanz erfüllt die Droge das Bedürfnis des Sklaven nach „Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, ‚Sabbat‘, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken“.77 Im Rückzug liegt nach Nietzsche das „‚Glück‘(…) der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden“,78 das „passivisch auftritt“.79
Der Rückzug führt jedoch nicht zur erhofften Zufriedenheit, sondern lässt eine innere Vergiftung entstehen. Diese resultiert aus der Unfähigkeit zu tätiger Selbstverwirklichung und einem daraus folgenden Mangel an Selbstbewusstsein. Herr R. ist sich darüber bewusst, dass er als Grundsicherungsempfänger am Rand der Gesellschaft lebt, keine Anerkennung erhält und aufgrund seiner sozialen Rolle bei Frauen, die ihn interessieren würden, wenig Chancen hat. Um den unerträglichen Schmerz über sein Leben aus dem Bewusstsein zu schaffen, sucht er gemäß dem Mechanismus des Ressentiments unbewusst nach Vorwänden zur „Betäubung von Schmerz durch Affekt“.80 Auf der Suche nach einem schuldigen Täter macht er seine Eltern und die Gesellschaft dafür verantwortlich, dass aus ihm „nichts geworden“ sei. Er blickt mit dem „Giftauge des Ressentiment“81 auf die Schuldigen und spuckt in seinen verbalen Attacken Gift und Galle. Der „zurückgetretene Hass, die Rache des Ohnmächtigen“,82 äußert sich in einem „Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens“.83
Durch Rationalisierungsversuche, die Nietzsche als „Klugheit“84 bezeichnet, und zu den Selbsttäuschungsmanövern rechnen würde, bemüht sich Herr R., seine Lage zu rechtfertigen. Die Rationalisierung bezeichnet in der psychoanalytischen Theorie ein
„Vorgehen, durch welches das Subjekt versucht, einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken, einem Gefühl etc., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben“.85
Um sich selbst „günstigere Bedingungen“86 zu schaffen, ohne aber „das Eigeninteresse zum Vorschein kommen zu lassen“,87 wird „rationalisierend“88 eine neue Interpretation der Wirklichkeit entworfen, und in Form einer allgemeinen Moral zur wahren und allein gültigen Perspektive erklärt.
Zur Legitimation seiner Schwäche beruft sich Herr R. auf seinen Status als „psychisch Kranker“ und trägt seine Diagnosen Borderline-Persönlichkeitsstörung und ADHS wie eine Monstranz vor sich her. Schuld an der Erkrankung sind seiner Ansicht nach, wie bereits gezeigt, andere. Durch den Opferstatus, den er auf Grundlage seiner Wirklichkeitsdeutung beansprucht, nimmt sein Wille zur Macht über die Schuldigen und das Leben in seiner Gesamtheit Gestalt an.
Trotz hohen Leidensdrucks neigt er dazu, die Lösung seiner Probleme, wie viele andere Borderline-Patienten, „von der Umgebung (und häufig dem Therapeuten) zu fordern“.89 Der Versuch, andere zur Lösung der eigenen Probleme zu bewegen, wird in der Fachsprache als „aktive Passivität“90 bezeichnet. Alle Überlegungen des Therapeuten, die auf ein Tätigwerden Herrn R.’s abzielen, lässt dieser geistesgegenwärtig und nie um eine Antwort verlegen, ins Leere laufen. In einem solchen „Schwund des Wollen-Könnens“91 erkennt Nietzsche ein zentrales Merkmal des Nihilismus.
Nach Rhode-Dachser ermöglicht das „merkwürdige, schwer fassbare Schwimmen im Sinne eines fehlenden Fixierungspunktes der Gedanken und Gefühle“92 vieler Borderline-Patienten den Aufbau eines „hochorganisierten Abwehrsystems“.93 Durch die fehlende Fähigkeit, Verbindungen zwischen Sachverhalten herzustellen, können widersprüchliche Versionen der Wirklichkeit koexistieren, und „Omnipotenzillusionen“94 entstehen, in denen die Wirklichkeit „radikal verleugnet“95 wird. Auch Herr R. setzt seiner realen Ohnmacht grenzenlose Omnipotenzphantasien entgegen. Häufig beginnt er seine Sätze mit den Worten: „Wenn ich Kanzler wäre, dann (…)“. Eines seiner Luftschlösser gründet auf der Vorstellung, mit einem in Barcelona lebenden, wohlhabenden Onkel ein Hotel zu eröffnen. Dieser habe beste Beziehungen zur Immobilien- wie auch zur Finanzbranche, und wenn Herr R. nur wolle, sei er in Spanien ein gemachter Mann. Da er jedoch ein Ehrenmann sei, wolle er sich nicht ins gemachte Nest setzen, und seinen Erfolg selbst erarbeiten. Auch habe er momentan kein Geld für ein Flugticket.
Herr R.’s Machtphantasien kommen auch in seiner Vorliebe für das Rechthaben zum Ausdruck. Sein großes Allgemeinwissen verleitet ihn oft, zu dozieren und andere auch ungefragt zu belehren. In der Annahme, Sachverhalte besser zu kennen, als seine Gesprächspartner, lässt er gern einen General in sich aufkommen, schreckt vor keinem Thema zurück und behauptet im Brustton der Überzeugung manchmal Dinge, die allgemein anerkannten Einsichten widersprechen.
Herr R.’s starke Ressentimentgefühle, sein Nein zur Welt und die Fassungslosigkeit über sein daraus resultierendes nicht gelebtes Leben können als Zeichen seiner Verstimmung gewertet werden. In manchen Momenten wird ihm die Diskrepanz zwischen seinen Größenphantasien und seiner realen sozialen Bedeutungslosigkeit schmerzhaft bewusst. Dies treibt ihm die Tränen in die Augen, und er versucht meist schnell, zu einem anderen Thema überzuwechseln. Gemäß dem Mechanismus des Ressentiments scheinen Herrn R.’s Ablenkungsversuche von sich selbst dem Zweck zu dienen, den Schmerz über sein Leben nicht spüren zu müssen.