Читать книгу Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven - Barbara Gründler - Страница 22
5.1.2 Herr E.
ОглавлениеEine weitere Hypothese zum Verständnis des Bruchstück-Menschen entstand bei meiner Arbeit mit Herrn E. Das Gefühl, permanent auf seine Umwelt reagieren zu müssen und die fehlende Fähigkeit zur inneren Zentrierung durch Selbstüberwindung, haben bei ihm zu einer leidvollen Fixierung auf einen bestimmten Umweltreiz geführt. Dieser Vorgang soll anhand seiner Beschwerden geschildert werden, die im ICD-10 als wahnhafte Störung1 (F 22.0) oder paranoide Psychose2 Bezeichnung finden. Im psychiatrischen Sprachspiel handelt es sich dabei um eine „Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“.3
Bei wahnhaften Störungen steht meist eine einzelne Wahnidee im Mittelpunkt des Erlebens. Häufig handelt es sich um „einen Verfolgungswahn, einen hypochondrischen Wahn, einen Größenwahn, einen Querulantenwahn, einen Eifersuchtswahn oder einen Wahn, dass der Körper der betreffenden Person deformiert sei“.4 Begleitende depressive Symptome sind keine Seltenheit. Ein Teil des klinischen Bildes kann von gelegentlichen akustischen Halluzinationen bestimmt werden. Der Inhalt des Wahns kann häufig „mit der Lebenssituation des Betreffenden in Beziehung gesetzt werden“.5
Herr E. ist ein 58-jähriger, schmächtiger Herr italienischer Abstammung, der viel Wert auf sein Äußeres legt. Als ehemaliger Kellner lebt er von seiner kleinen Frührente. Seine beiden erwachsenen Söhne leben in Italien, und seine deutsche Ex-Frau hat nach ihrer Scheidung vor zwanzig Jahren erneut geheiratet.
Aus einer Akademikerfamilie stammend, hat Herr E. aufgrund von Aufmerksamkeits- und Lernschwierigkeiten als einziges von vier Geschwistern nicht das Gymnasium in Florenz besuchen und studieren können. Mit Schrecken erinnert er sich an Situationen, in denen er unter der Aufsicht seines strengen Vaters die Hausaufgaben machen sollte, und vor lauter Angst die Fragen nicht verstand. Seine ältere Schwester stand manchmal im Korridor und versuchte vergeblich, dem verängstigten, hochsensiblen und empfindlichen kleinen Bruder mit Händen und Füßen die Antworten vorzusagen. Nach eigenen Schilderungen war Herr E. als Kind verunsichert, schüchtern, überangepasst und brav. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass er im Gegensatz zu Herrn R. eher zur Unterdrückung seiner Gefühle als zu impulsiven Gefühlsausbrüchen neigte.
Auch heute noch fühlt sich Herr E. zutiefst verunsichert. Ähnlich wie Herr R. kann er sich nur schlecht konzentrieren, verspürt eine innere Unruhe und verliert im Gespräch häufig den Faden. Obwohl er Gedichte mag, ist er nicht in der Lage zu lesen, da er ständig in Gedanken abschweift. Auch er kann als Prototyp des disgregierten Menschen betrachtet werden, der durch eigene Gedankengänge und Umweltreize vom Thema abgelenkt wird.
Ein akustischer Reiz seines Umfeldes hat für ihn jedoch eine besondere Bedeutung erlangt, da er sich von ihm beherrscht fühlt. Es handelt sich dabei um Klopfgeräusche aus der Wohnung seines alleinstehenden Nachbarn, der in dem hellhörigen Altbau eine Etage über Herrn E. wohnt. Das Klopfen bezieht er auf sich und erlebt es als Signal und Maßregelung. Obwohl Herr E. nach eigenen Angaben durch seine Wohnung schleicht, Schubladen und Türen lautlos schließt und sein Geschirr behutsam auf Korkuntersetzern abstellt, befürchtet er, zu laut zu sein, und empfindet die Klopfgeräusche als Rüge und Strafe. Da der scheinbar allwissende und allgegenwärtige Nachbar auf unerklärliche Weise immer in dem Zimmer klopft, in dem sich Herr E. gerade befindet, hat dieser die eigene Wohnung schon vergeblich nach Wanzen oder versteckten Videokameras abgesucht. Um dem Nachbarn im Hausflur nicht zu begegnen, stielt er sich durch das Treppenhaus. Es sei bereits vorgekommen, dass Herr E. hinter der Wohnungstür des Nachbarn dessen Stimme und den Ausruf „eine Frechheit, immer diese lauten Ausländer“ vernommen habe.
Da die Signale des Nachbarn verstummen, wenn Herr E. Besuch hat, konnte er den quälenden Sachverhalt noch nicht vor Zeugen belegen. Von seinen Söhnen, die zweimal im Jahr zu Besuch kommen, werde er nicht ernst genommen, sondern enerviert belächelt. Einmal habe er seinen ganzen Mut zusammengenommen und den Nachbarn gefragt, ob er zu laut sei. Dieser habe nach Angaben von Herrn E. scheinheilig gelächelt und beteuert, dass er aus der Nachbarwohnung nie etwas höre und Herr E. sich keine Sorgen machen müsse. Nach Angaben von Herrn E. verhielte sich der Nachbar selbst meist rücksichtslos und rumore tagsüber und nachts geräuschvoll herum.
In seiner Wohnung fühlt sich Herr E. durch die gesamte Situation nicht heimisch und kann sich nicht auf häusliche Freizeitbeschäftigungen konzentrieren. Wenn er allein spazieren gehe, gelinge es ihm nicht, sich zu entspannen, da er immer an den Nachbarn denken müsse. Für Ausflüge in die Stadt habe er leider kein Geld, und würde sein Cousin ihn nicht manchmal zum Essen einladen, wäre seine Lage noch trostloser.
Da es keine Zeugen für die Klopfgeräusche gibt, kann nicht eindeutig geklärt werden, ob Herr E. tatsächlich von seinem Nachbarn drangsaliert wird, oder ob er lediglich nicht-intentionale Geräusche aus dem Obergeschoss auf sich bezieht bzw. unter sogenannten akustischen Halluzinationen leidet, soll in der vorliegenden philosophischen Arbeit jedoch kein Urteil über Wahrheit und Irrtum gefällt werden.
Auf die Tatsache, dass der Mensch „kein richtiges Prinzip der Wahrheit und mehrere vorzügliche des Irrtums hat“,6 und seine Einbildungskraft Nichtigkeiten „zu einem Gebirge“7 aufblähen kann, hat schon Blaise Pascal hingewiesen. Durch Vorurteile, Äußerlichkeiten, Gewohnheiten, Leidenschaften, Zu- und Abneigung werde jeder Mensch täglich zum Opfer von Einbildung und Wahn, und so schreibt der französische Philosoph und Mathematiker: „Der Wahn ist der ihn beherrschende Teil des Menschen, Herr des Irrtums und des Falschen, und um so arglistiger ist er, weil er es nicht immer ist (…), da das Wahre und das Falsche gleiches Zeichen tragen.“8 Im Gegensatz zu den meisten Psychiatern, die den Wahn ausschließlich als Krankheitssymptom betrachten, erkennt Pascal diesem Phänomen somit universelle und für alle Menschen verbindliche Gültigkeit zu.
Die Tatsache, dass die Angst vor Nachbarn eine Konstante im Leben des schüchternen und zurückhaltenden Herrn E. darstellt, und schon zu mehreren Umzügen geführt hat, kann allerdings als Hinweis darauf gewertet werden, dass der im Sinne Nietzsches unter einer Dezentrierung leidende Mann selbst Teil des Problems sein könnte. Die Idee eines Umzugs, die im Rahmen der Therapie bereits erörtert wurde, verwirft Herr E., da er befürchtet, erneut auf „verrückte“ Nachbarn zu stoßen. Das Urteil seines Psychiaters über seine Beschwerden kommt in der o.g. Diagnose „Wahnvorstellungen“ zum Ausdruck.
Ohne die Wirklichkeitseinschätzung Herrn E.’s negieren und ausschließen zu wollen, könnte dessen Verfasstheit als Bruchstück-Mensch eine Möglichkeit der Annäherung an das als „Wahn“ bezeichnete und bei ihm stark ausgeprägte Phänomen darstellen. Seine Art der Wahrnehmung wird dabei als knechtische Überlebensstrategie des Ressentiment-Menschen interpretiert.
Seine möglicherweise konstitutionell bedingte Schwäche, die schon in der Kindheit durch Ablenkbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten sichtbar wurde, traf auf ein wenig verständnisvolles familiäres Umfeld und ließ Herrn E., wie viele Verstimmte, zu einem „von Grund auf verunsichert[en]“9 Menschen heranwachsen.
Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Luc Ciompi, der sich insbesondere mit der Entstehung der Schizophrenie beschäftigt hat, bringt in seinem zurzeit im psychiatrischen Sprachspiel sehr aktuellen Diathese-Stress-Modell angelegte Eigenschaften und Stress miteinander in Verbindung. Die Wechselwirkung dieser Faktoren führe zu verletzlichen Persönlichkeiten, „welche dazu neigen, auf Belastungen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Verwirrung, Denkstörungen, Derealisations- und Depersonalisationserlebnissen bis zu Wahn und Halluzinationen zu reagieren“.10 Der am Frankfurter Max-Planck-Institut tätige Psychologe Peter Uhlhaas vermutet, dass bei Patienten mit Schizophrenie „die Selbstorganisation des Gehirns deutlich beeinträchtigt“,11 die „neuronalen Netzwerke (…) weniger organisiert“12 und die „funktionelle Architektur des Gehirns“13 verändert seien. Sowohl Wortwahl als auch Beschreibung lassen an Nietzsches „Herrschafts-Gebilde“14 vom Typus des niedergehenden Lebens denken.
Wie schon im vorhergehenden Fallbeispiel vermutet wurde, können die dem Bruchstück-Menschen fehlenden „inneren Strukturen“15 zu einem Gefühl der „Zerrissenheit“,16 „Spaltung“17 und der „Unmöglichkeit, sich als einheitliche Person zu empfinden“,18 führen.
Das Wort Person wird von dem lateinischen Verb personare abgeleitet, und bedeutet „mit Tönen füllen“19 oder „widerhallen“.20 Aus dem sogenannten „Ich-Zerfall“,21 den auch der Psychologe Stavros Mentzos bei vielen Schizophrenen beobachtet, kann möglicherweise ein Mangel an Resonanzfähigkeit resultieren und den Bruchstück-Menschen zu einem „dissonantisch verstörten“22 Subjekt mit einem „chronische[n] Disharmonieerleben“23 werden lassen. Dieser Zustand hindert ihn daran, Teil des „offenen Fließraums“24 zu werden, von dem bei Peter Sloterdijk die Rede ist.
Das Fehlen eines „stabilen ‚Ich-Kerns‘“25 kann dazu führen, dass der Betroffene sich zunehmend „brüchig“26 fühlt und den Anstrengungen, „sich zusammenzuhalten“,27 nicht mehr standhalten kann. Diese im psychiatrischen Sprachspiel als Dekompensation bezeichnete Verfasstheit hat Zarathustra im Blick, wenn er den Bruchstück-Menschen „zertrümmert (…) und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin“28 in Erscheinung treten lässt.
Der Wahn kann vor diesem Hintergrund als „Versuch, das Selbst zu retten“,29 betrachtet werden, da er eine „selbststabilisierende Funktion“30 übernimmt. Obwohl Herr E. grundsätzlich nicht in der Lage ist, sich zu konzentrieren, gelingt es ihm überraschend leicht, seine Aufmerksamkeit auf die Klopfgeräusche zu fokussieren. Dieser Umstand lässt vermuten, dass die Konzentration auf den realen oder fiktiven Umweltreiz eine Lösungsstrategie darstellt und als Versuch einer externalen Zentrierung betrachtet werden kann.
Abb. 4: Externale Zentrierung beim Herrschaftsgebilde des schwachen Willens durch den Wahn
Da Herr E. das Gefühl hat, im Mittelpunkt des Interesses seines Nachbarn zu stehen, sieht er seine eigene Existenz bestätigt. Dadurch gelingt es ihm, die „Auslöschung, in der die Identität verloren geht“,31 abzuwenden. Das Gefühl, die Zielperson einer Verfolgung zu sein, ermöglicht somit die „Absicherung ihrer eigenen Ich-Identität und die Sicherung ihrer Ich-Grenzen“.32
Zudem stellt der Wahn nach Stavros Mentzos eine Möglichkeit zur „Externalisierung“33 eines Konfliktes dar: So hat der Verfolgungswahn häufig „seine Wurzeln im Gefühl, den eigenen Ansprüchen und jenen der anderen nicht zu genügen“.34 Das Gefühl, etwas falsch zu machen, gründet in der Lebensgeschichte Herrn E.’s und wurde vermutlich früh internalisiert. Nicht nur das Unvermögen, den Ansprüchen seines Vaters gerecht zu werden, sondern auch die Ablehnung, mit der er in Deutschland als Ausländer häufig konfrontiert war, prägte sein negatives Selbstbild.
Ohne das Vorliegen einer Willenserkrankung würde die durch die Ablehnung ausgelöste intrapsychische Dissonanz als Teil der „Vielheit“35 der Triebe vermutlich „zur Einheit zusammengeschmolzen“.36 Dieses Einschmelzen ist nach Einschätzung des Psychiaters und Philosophen Klaus Dörner notwendig, um „Spaltungen zu überbrücken, zu kitten, Fremdes auszuhalten und Konflikte zu lösen“.37 Auch für Nietzsche ist „alle Einheit (…) nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit“38 und stellt ein Herrschaftsgebilde dar, „das Eins bedeutet, aber nicht eins ist“.39
Da beim Menschen des schwachen Willens jedoch „atomistische[ ] Anarchie“40 herrscht, und er die Spannung der Triebe untereinander nur schwer ertragen kann, ist das „Maß der Spannung und der Belastung“41 nur gering. Um das Selbst zu konsolidieren, werden bei extrem verletzlichen und wenig belastbaren Menschen daher vermutlich Anteile abgespalten, die „nicht als Identität wahrgenommen“42, sondern als nicht zugehörig erlebt werden. Bei diesem Abwehrmechanismus gehorcht der Schizophrene nach Einschätzung des Psychiaters Asmus Finzen dem „Gesetz (…) des Alles oder Nichts“,43 welches an das von Nietzsche geschilderte Bedürfnis des Schwachen „nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein“44 erinnert.
Der abgespaltene Anteil, der Herrn E. unbarmherzig Verhaltensvorgaben zu erteilen scheint, illustriert möglicherweise ein „durch Willens-Erkrankung in’s Unsinnige aufgethürmtes, bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem ‚du sollst‘“.45 Die mutmaßlichen Befehle des Nachbarn übernehmen die Funktion der „Regulierung und der Steuerung des Handelns“46 und dienen der „Selbstkonsolidierung“.47 Dies ist nach Mentzos der Grund, „warum der Wahnkranke um seinen Wahninhalt, um seine paranoide Überzeugung regelrecht kämpft“.48 Auch Herr E. reagiert sehr ungehalten, wenn seine Söhne oder der Psychiater seine Wahrnehmung anzweifeln und verfällt in glühende Rechtfertigungsreden.
Den „Fanatismus“,49 der auch in „wahnhaften Überzeugungen“50 zum Ausdruck kommt, bezeichnet Nietzsche als einzige Form der „‚Willensstärke‘, zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden“51 könnten.
Nach Mentzos Hypothese kann der Wahn als „Modus der Abwehr“52 betrachtet werden, der es ermöglicht, die „Zerspaltung zu überbrücken und einen Rest von Identität und Kontakt zur Umwelt aufrecht zu erhalten“.53
Die Fremdbestimmung als „nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment“54 und kann als Zeichen für Herrn E.’s Reaktivität gewertet werden. Durch den Zwang, ständig reagieren zu müssen, kommt er nicht zur Ruhe und berichtet von einer tiefen Erschöpfung.
Aus Angst vor dem als übermächtig erlebten Nachbarn versucht er, sich unsichtbar zu machen und diesem auszuweichen. Wie Nietzsches Sklave, den alles Versteckte als „seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal“55 anmutet, und der sich auf das „Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen“56 versteht, lässt er sein Handeln von außen bestimmen und fühlt sich ohnmächtig. Die Bemerkung, er fühle sich als „Gefangener seiner selbst“ illustriert sein Lebensgefühl in anschaulicher Weise. Durch dieses reduzierte Leben nimmt Herr E. sich selbst gegenüber eine verneinende Haltung ein.
Ebenso wie Nietzsches Sklaven geht ihm „das wirklichkeitsbezogene Handeln aus sich selbst fast ganz ab[ ]“,57 und er vermag „keine positiven Inhalte zu setzen“.58 Die Fixierung auf die Klopfgeräusche erlaubt es ihm, als Knecht zu gehorchen und enthebt ihn der Verpflichtung, Verantwortung für sein Leben und seine Freizeitgestaltung zu übernehmen.
Aufgrund seiner Hemmung, eine „die Außenwelt umgestaltende, wahrnehmbare Aktion“59 zu wagen, erfolgten bislang keine Versuche, die Situation zu verändern. Sein „Aufsichbeharren“60 ist „zum Prinzip des Misstons und zur Quelle der Verstimmung“61 geworden, die bei der Begegnung mit Herrn E. spürbar wird: seine Fixierung auf den geschilderten Sachverhalt ruft bei seinen Mitmenschen oft eine leichte Gereiztheit hervor.
Als Mensch des Ressentiments ist Herrn E.’s ursprüngliche Leistung „die der Negation“.62 Um den Schmerz über seine Verfasstheit nicht spüren zu müssen, findet er in dem vermeintlich mächtigen Nachbarn einen Angriffspunkt für den Affekt der umwertenden Rache und erlebt diesen als schuldigen Täter. Als Antwort auf die Frage nach den Beweggründen des Nachbarn für ein derartiges Verhalten äußerte Herr E., dass dieser vermutlich „psychisch krank“ sei. Auf die negative Konnotation dieses Begriffes wurde im Kapitel 3.3.1 bereits hingewiesen. Mit der Detraktion des Nachbarn vollbringt Herr E. in Anlehnung an Nietzsches Sklaven eine rein geistige Handlung. „Durch die Ablösung des Handelns von der Wirklichkeit wird die eigene, eingeschränkte Weise des Daseins gerechtfertigt, ihr rationalisierend scheinbare Wirklichkeit verliehen“.63
Die Ursache seiner Unzufriedenheit muss Herr E. somit nicht bei sich selbst suchen, sondern kann mit Hilfe seiner Interpretation „vorteilhaftere Daseinsbedingungen“64 für sich schaffen.
Der Wahn als der ihn beherrschende Teil des Menschen kann als Überlebensstrategie für Menschen, die beherrscht werden wollen, betrachtet werden. Durch die externale Zentrierung wird eine „Grundabwehr des Ich-Zerfalls“65 ermöglicht. Da im Fall von Herrn E. das „Problem (…) die ‚Lösung‘“66 zu sein scheint, hat der Verstimmte möglicherweise recht mit der Vermutung, dass ein Umzug wenig sinnvoll wäre. Die relative Stabilisierung des Selbst ist jedoch „bei weitem nicht optimal“67 und wird „sehr teuer bezahlt“,68 da sie mit großem persönlichem Leid verbunden ist und eine reale Selbstübernahme verhindert.
Ein weiterer Hinweis auf die Hypothese, dass Herr E. seinen Nachbarn benötigt, um sein Unwohlsein zu rechtfertigen, liegt in seiner widersprüchlichen Einstellung zum Thema Ruhe, nach der er sich inständig sehnt, und die er gleichzeitig fürchtet. Sein Cousin plant, ein Eigenheim auf dem Land zu kaufen, in das auch Herr E. einziehen soll. Herr E. freut sich zwar über die Geste des Cousins, befürchtet aber, dass es dort zu ruhig sein könnte, da völlige Ruhe ihn immer sehr „kribbelig“ und unruhig mache.
Bei der Betrachtung der „mannigfaltige[n] Unruhe der Menschen“69 stellte schon Blaise Pascal fest, dass alles Unglück der Menschen ihrer Unfähigkeit, „in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können“,70 entspringe. Ohne Zerstreuung müsste der Mensch des Ressentiments jedoch seinen Schmerz und seine Unzufriedenheit spüren, und so wünscht er sich nichts inständiger als Ablenkung von sich selbst.N