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3.1 „Psychische Krankheit“ – Versuch einer Begriffsklärung

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Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie wird heute von den meisten Menschen zunächst ohne große Vorbehalte verwendet. Die im psychiatrischen Fachbereich übliche Terminologie war jedoch seit jeher einem ständigen Wandel unterworfen und Ausdruck des herrschenden Zeitgeistes. Während in früheren Zeitaltern die Begriffe „Geisteskrankheit“, „Nervenleiden“, „Irrsinn“ oder „Wahnsinn“ verwendet wurden, spricht man heute eher von „psychischer Störung“, „psychischer Krankheit“ oder „seelischer Krankheit“.

Aktuell zu beobachten ist ein Vormarsch des Begriffs „psychische Störung“. Alle Menschen, die heute im Rahmen des deutschen Gesundheitssystems eine Dienstleistung psychiatrischer Institutionen in Anspruch nehmen, tragen eine Diagnose aus der, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen, Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10).B Um die in diesem Klassifikationsmanual beschriebene Gruppe von Menschen soll sich die folgende Untersuchung drehen.

In der Fach- und Umgangssprache, sowie in der Fachliteratur, werden die betroffenen Menschen allerdings nicht in Anlehnung an das Nomen als „psychisch Gestörte“ oder als „psychisch gestört“ bezeichnet, sondern gelten weiterhin als „psychisch Kranke“ bzw. in der adjektivierten Form als „psychisch krank“. Selbst im ICD-10 ist immer noch die Rede von „psychiatrischen Erkrankungen“1 und „psychisch Kranke[n]“.2

Über den Referenten der Begriffe „psychische Störung“ oder „psychische Krankheit“ gehen auch in Fachkreisen die Ansichten stark auseinander. Im Mittelpunkt der Diskussion steht häufig die Frage, ob diese Termini auf nosologische Entitäten verweisen, oder nicht. In verdinglichenden Begriffen, wie eine Psychose oder eine Depression, liegt nach Ansicht des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers ein „Rest jener alten Vorstellungen, nach denen die Krankheiten besondere Wesen waren, die von den Menschen Besitz ergriffen hatten“.3

Zur Veranschaulichung unterschiedlicher Standpunkte sollen nur einige Beispiele aufgezählt werden: Während der Philosoph und Psychologe Michel Foucault als wichtigster Vertreter der Antipsychiatriebewegung keinen „festen und bestimmten Begriff des ‚Wahnsinns‘“4 voraussetzte, und keinen „un- oder übergeschichtlichen Inhalt“5 dieses Terminus definierte, kritisiert der Psychiater Edward Shorter als Vertreter der biologischen Psychiatrie aufs Schärfste den Standpunkt, „daß Schizophrenie und Depression soziale Konstrukte ohne biologische Grundlage seien“.6 Eine Definition der Entität „Geisteskrankheit“ ist er dem Leser in seinem Werk Geschichte der Psychiatrie jedoch leider schuldig geblieben.

Persönlichkeitsstörungen, die laut ICD-10 als „psychische Störung“ gelten, definiert Shorter lediglich als „übersteigerten Ausdruck ganz gewöhnlicher Charaktermerkmale“7 und spricht von der „Pathologisierung eines normalen Verhaltens“.8 Im Bereich der Neurosen gebe es, laut Shorter, vielleicht „viele verschiedene psychische Störungen, vielleicht nur einige wenige oder auch gar keine“.9

Auch der Neurologe und Leiter der psychiatrischen Klinik der Berliner Charité Andreas Heinz hat sich in seinem unlängst erschienenen Buch Der Begriff der psychischen Krankheit mit diesem Thema auseinandergesetzt. Um die aktuell zu beobachtende, inflationäre Zunahme psychiatrischer Diagnosen einzudämmen, schlägt er Kriterien vor, nach denen nur „Psychosen sowie Suchterkrankungen als psychische Krankheiten im engeren Sinn“10 gelten sollen. Auf diesem Weg versucht er, die vielfältigen Weisen des menschlichen „In-der-Welt-Seins“11 zu schützen und zu bewahren.

Bei der Befragung von Patienten im Rahmen dieser Arbeit wurde deutlich, dass die Begriffe „psychische Krankheit“ und „psychische Gesundheit“ erst mit naiver Selbstverständlichkeit gebraucht wurden, bei genauerem Nachfragen und Bedenken jedoch die Unsicherheit über ihre Bedeutung stark anstieg.

So kam eine ältere Dame, die unter der Homosexualität ihres Sohnes sehr litt, und diesen als „psychisch krank“ bezeichnete, durch die im Rahmen der Therapie vorgeschlagene, gemeinsame Lektüre eines kurzen Aufsatzes des Kommunikationswissenschaftlers und Psychoanalytikers Paul Watzlawick ins Nachdenken. In einer Textpassage wird beschrieben, dass in den USA die Homosexualität beim Übergang vom DSM-IIC zum DSM-III nicht mehr als Störung klassifiziert wurde. Paul Watzlawick spricht davon, dass man so „mit einem Federstrich Millionen Menschen von ihrer ‚Krankheit‘ geheilt“12 habe und lobt diesen „therapeutischen Erfolg“13 als eine der größten Spontanheilungen der Menschheitsgeschichte.

Unser Gespräch führte dazu, dass sich die Frau in der Folgezeit bemühte, die „Erkrankung“ ihres Sohnes aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Monate später berichtete sie, dass ihr die neue Sichtweise geholfen habe, mit der „scheinbaren Krankheit“ ihres Sohnes, wie sie es nun selber nannte, Frieden zu schließen.

Auch die an unterschiedliche Patienten gerichtete Frage, ob ein erfolgreicher und an das Realitätsprinzip optimal angepasster Geschäftsmann, der sein Tagespensum nur durch die Einnahme von Medikamenten bewältigen könne, psychisch gesund sei, löste regelmäßig Zweifel aus. Einigkeit herrschte jedoch über die stigmatisierende Wirkung des Begriffes „psychisch krank“.

Am Beispiel der Sprachspieltheorie des Philosophen Ludwig Wittgenstein soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich die Sprachverwirrungen um den Begriff der „psychischen Krankheit“ erklären und infolgedessen vermeiden lassen. Diese die Spätphilosophie Wittgensteins konstituierende Theorie hat Peter Sloterdijk als eines „der mächtigsten Argumente des modernen und nachmodernen Pluralismus“14 und Wittgenstein selbst als „Sponsoren der künftigen Intelligenz“15 bezeichnet.

Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven

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