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ОглавлениеWie im richtigen Leben
Bettina von Clausewitz
Die Kleinfamilie als Glücksbringer oder als Auslaufmodell, als Fels in der Brandung einer immer anspruchsvoller werdenden Alltagswelt oder als Relikt eines engen, kleinbürgerlichen Wertesystems, das nicht mehr in die moderne Zeit passt? Die Antwort darauf ist widersprüchlich und zugleich vielschichtig. Zahlreiche Studien belegen, dass Jugendliche nach wie vor von der traditionellen Kleinfamilie träumen: Vater, Mutter, Kind(er), Haus und Garten, wie sie im Kino und in der Werbung allgegenwärtig sind. Familie wird mit Glück, Harmonie und Geborgenheit assoziiert. Und obwohl es die Kleinfamilie zu biblischen Zeiten nicht gab, wird gelegentlich auch die „Heilige Familie“ aus der Weihnachtsgeschichte als Vorbild herangezogen: Maria sitzt mit dem Kind auf dem Arm auf dem Esel und lässt sich von Josef am Zügel durchs Leben führen.
In den Köpfen und Herzen vieler Menschen, egal, ob christlich geprägt oder nicht, ist das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie nach wie vor sehr lebendig. In der Realität jedoch hat längst ein tief greifender Wandel stattgefunden, der zu einer „Pluralisierung der Lebensformen“ geführt hat, wie es in der Familiensoziologie heißt: Neben der traditionellen Kleinfamilie gibt es Patchwork-Familien und Alleinerziehende, Wohngemeinschaften und gleichgeschlechtliche Beziehungen. Ein Wandel, der in den Gemeinden ebenso wie in der Gesellschaft ablesbar ist. Und die Kirchen reagieren. „Familie ist da, wo Menschen unterschiedlicher Generationen füreinander Verantwortung übernehmen“, meint die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, Familie sei als zentraler Ort des Lebens nicht an bestimmte Formen gebunden. Ende 2013 will sich die westfälische Landessynode mit dem Schwerpunktthema „Familie“ beschäftigen, um auch ihre kirchlichen Angebote dazu neu zu gestalten. Ähnliche Diskussionsprozesse gibt es bundesweit überall in den Kirchen.
„Wie im richtigen Leben“ lautet der Titel dieses Buches, denn das Familienleben hat seit den Aufbrüchen der 1968er-Generation viele neue Facetten hinzugewonnen. Die traditionelle Kleinfamilie ist im „richtigen Leben“ nur noch ein Modell unter vielen, und die Ehe auf Lebenszeit wird von der jüngeren Generation mittlerweile bestaunt wie ein Relikt aus alten Zeiten. Trotzdem hat Familie als Konzept nicht an Wert verloren und wird auch nicht ad acta gelegt – ganz im Gegenteil, wie die Interviews in diesem Buch belegen. Sie wird neu buchstabiert, oft unter Schmerzen und nach heftigen Brüchen neu angepasst und vielfach anders gelebt als noch in der Eltern- und Großelterngeneration.
In dieser Hinsicht scheinen Anleihen bei biblischen Zeiten durchaus zeitgemäß, denn auch die »Heilige Familie« aus der Weihnachtsgeschichte war in Wirklichkeit eingebettet in einen weit verzweigten Familienclan. Die ganz auf sich gestellte Kleinfamilie von heute dagegen, die in manchen kirchlichen Kreisen nach wie vor als das (!) Familienmodell gilt, wird von vielen schlicht als Überforderung empfunden. Deshalb ist es nur konsequent, dass sich viele Paare oder Alleinerziehende andere Familienmodelle suchen, in denen ihre Kinder aufwachsen können. Denn Verantwortung, Liebe und Vertrauen entwickeln sich auch in anderen Lebensformen, wie gleich mehrere der hier Interviewten deutlich machen. Auch Jesus würde heute wohl kaum in der klassischen Kleinfamilie leben. Deshalb geht es in diesem Buch nicht darum, die oft zitierte „Erosion der Kleinfamilie“ zu beklagen, sondern nach zeitgemäßen Alternativen zu suchen, die nicht weniger christlich sind.
Die elf Familienporträts dieses Buches und das abschließende Experteninterview waren für mich selbst wie eine Abenteuerreise in das Leben der anderen. Oft unerwartet und bewegend. Denn alle haben mit großer Offenheit und Ehrlichkeit von ihren Träumen und Sehnsüchten erzählt, von Scheitern, Brüchen und Neuanfängen, von verletzenden Erfahrungen in der Herkunftsfamilie und dem Bemühen, die Fehler, an denen sie selbst gelitten haben, in der eigenen Familie nicht zu wiederholen Bei allen gehörte viel Mut dazu, so offen und öffentlich aus dem eigenen Leben zu erzählen. Dafür möchte ich allen danken, die mir nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihr Vertrauen geschenkt haben, mit denen ich viele Cappuccinos und manches Glas Rotwein getrunken habe und mit denen ich etliche Stunden ins Gespräch vertieft auf diversen Sofas oder gemütlichen Küchenbänken verbracht habe. Um diesen persönlichen Charakter zu erhalten, sind die meisten Interviews im mündlichen Erzählstil geblieben, so, als säßen Sie selbst beim Lesen da und lauschten einer Erzählung. Familiengeschichten eben – wie im richtigen Leben.
Bettina von Clausewitz, Essen, im Dezember 2012
Buchtipps:
Wer zu einzelnen der hier Porträtierten noch mehr wissen möchte, kann von Christina Brudereck „Zwischenzeilen. Gesammelte Gedichte“ (SCM-Collection) lesen oder von Andreas Malessa „Altherrensommer: Männer in der Drittlife-Krise“ (Gütersloher Verlagshaus) oder von Henning Scherf „Wer nach vorne schaut, bleibt länger jung“ (Herder Verlag); alle genannten Bücher sind 2012 erschienen.