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Weise Großmütter und der Rhythmus der Jahreszeiten
ОглавлениеMeine eine Großmutter ist 1901 geboren und 2000 gestorben, sie wurde 99 Jahre alt und hat ein ganzes Jahrhundert erlebt, das muss man erst einmal schaffen. Sie hat zwei Weltkriege miterlebt, die ganzen Zerstörungen und politischen Veränderungen und auch den unglaublichen Wandel in Bezug auf die Freiheiten von Frauen. In meiner Familie war es wichtig, eine gute Berufsausbildung zu haben, und wir Mädchen wurden immer aufgefordert nicht aufzugeben. Wenn ich beispielsweise über Mathematik klagte, bekam ich zu hören: „Kind, lernen zu dürfen ist ein Privileg und nicht selbstverständlich.“ Andererseits war meine Großmutter bestimmt keine Abtreibungsbefürworterin und manches war ihr fremd. Ich glaube, ich habe sie nie in einer langen Hose gesehen, sie trug immer Röcke und Kostüme.
Die andere Großmutter war blind. Das war auch etwas Besonderes. Sie war unglaublich witzig, war ganz früh Witwe geworden, pflegte die behinderte Tochter. Da könnte man jetzt denken: so viele Schicksalsschläge in einem Leben! Aber trotzdem war sie eine der lebensfrohesten, weisesten und witzigsten Personen, die ich kenne. Jemand, der so tapfer bleibt, so fröhlich ist und immer weiter an das Gute im Menschen glaubt und sich auch so ein Gottvertrauen bewahrt hat, das hat meine Schwestern und mich tief geprägt.
Wenn ich jedoch an Geheimnisse denke oder Frau- und Erwachsenwerden, dann habe ich darüber eher mit Freundinnen geredet. Meine Mutter war dafür keine Ansprechperson, sie ist mir erst in den letzten Jahren ganz vertraut geworden. In meiner Jugend war sie eher distanziert. Dass sie ihren eigenen Beruf aufgegeben hatte, das habe ich in der Phase, als ich dabei war, meinen Beruf zu finden, gar nicht verstanden. Ich dachte immer: „Die tut alles für den Papa, meine Güte, das willst du niemals so haben!“ Erst später, in den letzten Jahren, als sie an Krebs erkrankte, ist sie mir als eigene Persönlichkeit näher gekommen.
Meine Mutter hat mir einen tiefen Sinn für den Jahreszyklus und das Kirchenjahr vermittelt. Im Sommer gab es Obst und Gemüse und es wurde Marmelade für den Winter eingekocht. Niemals hätte es bei uns Zuhause im Dezember Erdbeeren gegeben. Ab und zu kamen Mamas Cousinen aus ihrem Heimatdorf und brachten Erbsen, Bohnen und Kürbisse. Ich habe gelernt, dass man nicht immer alles haben kann, wenn man es gerne hätte, und dass etwas dann lecker ist, wenn es reif ist, und nicht, weil man das Geld hat, es zu kaufen, wann immer man will. Meine Mutter hat mir den Rhythmus, die Regelmäßigkeit von Sonntag und Alltag, von feiern und arbeiten beigebracht. Sie hat mir gezeigt, mich unterbrechen zu lassen und nicht einfach immer so weiter zu arbeiten, zu leben, zu konsumieren. Sie gab jeder Zeit im Jahr ihre eigene Note.