Читать книгу Vergaberecht - Corina Jürschik - Страница 102

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38§ 116 Abs. 2 GWB dient der Umsetzung von Art. 8 Abs. 2 VRL und entspricht dem § 100a Abs. 4 GWB a. F. Die Begriffe „öffentliches Kommunikationsnetz“ und „elektronischer Kommunikationsdienst“ sind gem. Art. 8 VRL entsprechend den Definitionen der Richtlinie 2002/21/EG44 auszulegen. Dabei kann es sich zum Beispiel um öffentliche Kommunikationsnetze i. S. d. § 3 Nr. 16a TKG oder die Bereitstellung eines oder mehrerer elektronischer Kommunikationsdienste i. S. d. § 3 Nr. 17a des TKG handeln.45 Gemäß § 116 Abs. 2 GWB werden Aufträge mit dem hauptsächlichen Zweck, dem öffentlichen Auftraggeber das Anbieten von elektronischen Kommunikationsleistungen für die Öffentlichkeit zu ermöglichen, nicht vom vierten Teil des GWB erfasst. Die Bereichsausnahme greift nur, wenn der öffentliche Auftraggeber selbst der tatsächliche ­Betreiber bzw. Bereitsteller des Kommunikationsnetzes bzw. Kommunikationsdienstes ist.46 Ob der Betrieb des öffentlichen Kommunikationsnetzes im Wettbewerb mit Dritten steht, ist für die Anwendung der Ausnahmevorschrift dagegen ohne Belang.47

39Nach Art. 2 lit. a, c und d der Richtlinie 2002/21/EG48 werden „elektronische Kommunikationsnetze“ definiert als Übertragungssysteme und gegebenenfalls Vermittlungs- und Leitwegeinrichtungen sowie anderweitige Ressourcen – einschließlich der nicht aktiven Netzbestandteile – die die Übertragung von Signalen über Kabel, Funk, optische oder andere elektromagnetische Einrichtungen ermöglichen, einschließlich Satellitennetze, feste (leitungs- und paketvermittelte, einschließlich Internet) und mobile terrestrische Netze, Stromleitungssysteme, soweit sie zur Signalübertragung genutzt werden, Netze für Hör- und Fernsehfunk sowie Kabelfernsehnetze, unabhängig von der Art der übertragenen Informationen. „Elektronische Kommunikationsdienste“ sind gewöhnlich gegen Entgelt erbrachte Dienste, die ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über elektronische Kommunikationsnetze bestehen, einschließlich Telekom­munikations- und Übertragungsdienste in Rundfunknetzen, jedoch ausgenommen Dienste, die Inhalte über elektronische Kommunikationsnetze und -dienste anbieten oder eine redaktionelle Kontrolle über sie ausüben; nicht dazu gehören die Dienste der Informationsgesellschaft i. S. v. Art. 1 der Richtlinie 98/34/EG,49 die nicht ganz oder überwiegend in der Übertragung von Signalen über elektronische Kommunikationsnetze bestehen. Ein „öffentliches Kommunikationsnetz“ ist ein elektronisches Kommunikationsnetz, das ganz oder überwiegend der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste dient, die die Übertragung von Informationen zwischen Netzabschlusspunkten ermöglichen.

40Nachdem es sich um Aufträge im Zusammenhang mit öffentlich zugänglichen Kommunikationsnetzen oder -diensten handeln muss, fallen beispielsweise Beschaffungen im Zusammenhang mit dem nur für die Sicherheitsbehörden zugänglichen BOS-Digitalfunk nicht unter diesen Ausnahmetatbestand. Die Zurverfügungstellung von Übertragungskapazitäten an öffentliche Auftraggeber, mit denen diese Kommunikationsdienste für die Öffentlichkeit bereitstellen, wird dagegen von der Ausnahme erfasst.

41In den Ausnahmebereich fallende Beschaffungen müssen dem „hauptsächlichen Zweck“ dienen, die Bereitstellung entsprechender Netze oder Dienste für die Öffentlichkeit zu ermöglichen. Das heißt, es muss sich um unmittelbar auf die Bereitstellung entsprechender Netze oder Dienste gerichtete Beschaffungen handeln, wie beispielsweise die Errichtung eines Breitbandinfrastrukturnetzes.50

42Für eine „Bereitstellung“ im Sinne der Ausnahme genügt es nicht, dass der Auftraggeber dafür rechtliche Vorgaben in einem Vertrag macht.51 Entscheidend ist vielmehr, dass ein unmittelbarer Zugriff auf den Kommunikationsdienst erfolgt. Das Erfordernis des „unmittelbaren Zugriffs“ auf das Kommunikationsnetz oder den Kommunikationsdienst schließt es aber nicht aus, dass sich der Betreiber/Bereitsteller Dritter zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten bedient. Denn gerade die Beschaffung solcher Dienstleistungen, die hauptsächlich den Zweck haben, dem öffentlichen Auftraggeber die Bereitstellung oder den Betrieb eines öffentlichen Kommunikationsnetzes oder die Bereitstellung eines Kommunikationsdienstes für die Öffentlichkeit zu ermöglichen, ist Gegenstand der Regelung in § 116 Abs. 2 GWB.52

§ 117 GWBBesondere Ausnahmen für Vergaben, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen

Bei öffentlichen Aufträgen und Wettbewerben, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen, ohne verteidigungs- oder sicherheitsspezifische Aufträge zu sein, ist dieser Teil nicht anzuwenden,

1. soweit der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gewährleistet werden kann, zum Beispiel durch Anforderungen, die auf den Schutz der Vertraulichkeit der Informationen abzielen, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens zur Verfügung stellt,

2. soweit die Voraussetzungen des Artikels 346 Absatz 1 Buchstabe a des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union erfüllt sind,

3. wenn die Vergabe und die Ausführung des Auftrags für geheim erklärt werden oder nach den Rechts- oder Verwaltungsvorschriften besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordern; Voraussetzung hierfür ist eine Feststellung darüber, dass die betreffenden wesentlichen Interessen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gewährleistet werden können, zum Beispiel durch Anforderungen, die auf den Schutz der Vertraulichkeit der Informationen abzielen,

4. wenn der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, die Vergabe oder Durchführung nach anderen Vergabeverfahren vorzunehmen, die festgelegt sind durch

a) eine im Einklang mit den EU-Verträgen geschlossene internationale Übereinkunft oder Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einem oder mehreren Staaten, die nicht Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sind, oder ihren Untereinheiten über Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen für ein von den Unterzeichnern gemeinsam zu verwirklichendes oder zu nutzendes Projekt,

b) eine internationale Übereinkunft oder Vereinbarung im Zusammenhang mit der Stationierung von Truppen, die Unternehmen betrifft, die ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland oder einem Staat haben, der nicht Vertragspartei des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraums ist, oder

c) eine internationale Organisation oder

5. 1wenn der öffentliche Auftraggeber gemäß den Vergaberegeln einer internationalen Organisation oder internationalen Finanzierungseinrichtung einen öffentlichen Auftrag vergibt oder einen Wettbewerb ausrichtet und ­dieser öffentliche Auftrag oder Wettbewerb vollständig durch diese Organisation oder Einrichtung finanziert wird. 2Im Falle einer überwiegenden Kofinanzierung durch eine internationale Organisation oder eine internationale Finanzierungseinrichtung einigen sich die Parteien auf die anwendbaren Vergabeverfahren.

Schrifttum: Herrmann/Polster, Die Vergabe von sicherheitsrelevanten Aufträgen, NVwZ 2010, 341 ff.; Hölzl, Anmerkung zu OLG Düsseldorf, VergabeR 2004, 376 ff.; Mösinger/Juraschek, Keine Flucht in Sicherheitsinteressen!; NZBau 2019, 93 ff.; Noch, Anmerkung zu OLG Dresden, VergabeR 2010, 93 ff.

Übersicht Rn.
A. Vorbemerkungen 1–3
B. Ausnahmen vom Anwendungsbereich 4–36
I. Sicherheitsinteressen, Geheimerklärung und Sicherheitsmaßnahmen 4–30
1. Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland (§ 117 Nr. 1 GWB) 8–13
2. Artikel 346 Abs. 1 lit. a AEUV (§ 117 Nr. 2 GWB) 14, 15
3. Geheimerklärung und Sicherheitsmaßnahmen (§ 117 Nr. 3 GWB) 16–30
a) Geheimerklärung 20–24
b) Besondere Sicherheitsmaßnahmen 25–30
II. Völkerrechtliche Verpflichtungen, Stationierung von Truppen, Internationale Organisation 31–35
1. Völkerrechtliche Verpflichtungen (§ 117 Nr. 4 lit. a GWB) 32
2. Stationierung von Truppen (§ 117 Nr. 4 lit. b GWB) 33, 34
3. Internationale Organisation (§ 117 Nr. 4 lit. c GWB) 35
III. Besondere Vergaberegeln (§ 117 Nr. 5 GWB) 36

A.Vorbemerkungen

1Durch Art. 15 bis 17 VRL und Art. 24 bis 26 SRL wurde eine neue Kategorie von Aufträgen eingeführt, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen, ohne jedoch in den Anwendungsbereich der VSVR1 zu fallen, weshalb sie auch nicht von den in der VSVR geregelten Ausnahmen2 erfasst sein können.3 Um diese neue Kategorie von Aufträgen besser abgrenzen zu können, hat der deutsche Gesetzgeber Aufträge im Anwendungsbereich der VSVR im GWB als „verteidigungs- oder sicherheitsspezifische Aufträge“ bezeichnet.4

2§ 117 GWB setzt Art. 15 Abs. 2 und 3, Art. 17 VRL sowie Art. 24 Abs. 2 und 3, Art. 27 SRL um und erfasst solche Aufträge und Wettbewerbe (§ 103 Abs. 6 GWB), die zwar Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte beinhalten, aber nicht die Voraussetzungen des § 104 GWB für Verteidigung- oder sicherheitsspezifische öffentliche Aufträge erfüllen und somit nicht von den besonderen Ausnahmen des § 145 GWB erfasst werden können.

3Wie alle Ausnahmen sind auch die besonderen Ausnahmen des § 117 GWB eng auszulegen.5

B.Ausnahmen vom Anwendungsbereich

I.Sicherheitsinteressen, Geheimerklärung und Sicherheitsmaßnahmen

4Auch im Hinblick auf die in § 117 Nr. 1 bis 3 GWB vorgesehenen Ausnahmen müssen Auftraggeber im Einzelfall bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen, prüfen, ob die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind. Deshalb wurde auf eine Konkretisierung bestimmter Bereiche wie der Einsatz der Streitkräfte, Terrorismusbekämpfung, Beschaffung von Informationstechnik oder Telekommunikationsanlagen zum Schutz wesentlicher nationaler Sicherheitsinteressen, wie bislang in § 100 Abs. 8 Nr. 3 GWB a. F. angeführt, verzichtet.6

5Für das Vorliegen der Gründe, die im Interesse der Sicherheit des Staates eine Einschränkung der Bieterbelange erfordern, obliegt dem Auftraggeber die Darlegungs- und im Fall einer Nichterweislichkeit die Beweislast. Die Gründe sind vom öffentlichen Auftraggeber deshalb im Vergabevermerk zu dokumentieren.7 Dabei wird man von einem Auftraggeber keine Begründungstiefe verlangen können, die wiederum seine berechtigten Sicherheitsinteressen schwerwiegend beeinträchtigt.

6Die Abgrenzung zwischen § 117 Nr. 1 und Nr. 2 GWB ist fließend, nachdem sich beide Nummern direkt oder über Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV auf das wesentliche Sicherheitsinteresse berufen. Im Hinblick auf den Wortlaut der jeweils umgesetzten Richtlinienvorschriften dürfte es sich bei § 117 Nr. 2 GWB jedoch um die subsidiäre Vorschrift handeln, die nur zur Anwendung kommt, wenn der Auftrag oder Wettbewerb nicht schon „anderweitig“,8 d. h. über § 117 Nr. 1 GWB von der Anwendung des Vergaberechts ausgenommen ist.

7Die allgemeinen Ausnahmen des § 107 Abs. 2 Nr. 1 GWB kommen neben den besonderen Ausnahmen des § 117 Nr. 1 und 2 GWB zur Anwendung.9 Die Lieferung von Militärausrüstung oder die Vergabe von Verschlusssachenaufträgen i. S. d. § 104 GWB wird jedoch regelmäßig von der besonderen Ausnahme in § 145 GWB erfasst sein, so dass für die Ausnahmen in § 117 Nr. 1 bis 3 GWB Aufträge wie beispielsweise die Lieferung von Polizeiausrüstung infrage kommen.

1.Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland (§ 117 Nr. 1 GWB)

8§ 117 Nr. 1 GWB setzt Art. 15 Abs. 2 UAbs. 1 VRL und Art. 24 Abs. 2 UAbs. 1 SRL um. Diese Richtlinienvorschriften erweitern die Ausnahme von der Anwendung des Vergaberechts aus Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV im Zusammenhang mit der Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel auf sämtliche Verträge, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte aufweisen, ohne in den Anwendungsbereich der VSVR zu fallen. Gleichzeitig greifen die Richtlinienvorschriften zum Zwecke der Klarstellung ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf und lassen die Ausnahme vom Vergaberecht nur insoweit zu, als der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen eines Mitgliedsstaats nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gewährleistet werden kann.10

9§ 117 Nr. 1 GWB übernimmt die Formulierung der Richtlinienvorschriften. Die Anwendung der Ausnahmevorschrift steht ebenso unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Ausnahmeregelung kann dementsprechend nur insoweit in Anspruch genommen werden, wie dies zur Wahrung der wesentlichen Sicherheitsinteressen11 erforderlich und zur Erreichung der verfolgten Ziele angemessen ist.12 Es bedarf einer Feststellung des öffentlichen Auftraggebers, dass keine weniger einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung stehen, die wesentlichen Sicherheitsinteressen zu schützen, als einen Auftrag oder Wettbewerb vollständig von der Anwendung der §§ 97 ff. GWB auszunehmen. Abzuwägen ist dabei beispielsweise, ob den Sicherheitsbelangen unter Umständen schon durch eine Verfahrensart mit Teilnahmewettbewerb, in dem spezifische Vorgaben an die Eignung der Bieter gestellt werden, ausreichend Rechnung getragen werden kann.13 Zudem ist im Hinblick auf die Vorgaben des § 97 Abs. 4 GWB eine losweise Vergabe in Betracht zu ziehen, wenn der Auftrag losweise in einen sicherheitsrelevanten Teil und einen anderen Teil aufgeteilt werden kann.14

10Im Rahmen der Abwägung ist auch zwischen dem Vergabeverfahren bis zum Zuschlag und dem Ausführungsstadium zu unterscheiden, so wie dies § 117 Nr. 3 GWB ausdrücklich vorsieht.15 Werden die Sicherheitsinteressen des Auftraggebers erst im Ausführungsstadium – also nach erfolgter Auftragsvergabe – berührt, besteht regelmäßig keine Rechtfertigung, die Auftragsvergabe einem Wettbewerb zu entziehen, in welchem dem Sicherheitsinteresse auch durch eine vertiefte Eignungsprüfung Rechnung getragen werden kann.16

11Im Fall eines Nachprüfungsverfahrens können die Nachprüfungsinstanzen berechtigten Sicherheitsbedürfnissen erforderlichenfalls durch zusätzliche Maßnahmen nachkommen, so wie dies gem. § 165 Abs. 2 GWB zur Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen geschehen kann.17

12Die Abwägung muss ergeben, dass gerade durch die Anwendung vergaberechtlicher Bestimmungen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung staatlicher Sicherheitsinteressen droht und, dass demgegenüber die Bieterinteressen an einem förmlichen und mit subjektivem Rechtsschutz ausgestatteten Vergabeverfahren zurück zu treten haben.18

13Als Beispiel für weniger einschneidende Maßnahmen führt § 117 Nr. 1 GWB Anforderungen an, die auf den Schutz der Vertraulichkeit der von dem öffentlichen Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens zur Verfügung gestellten Informationen abzielen. Hierzu gehört gem. § 5 Abs. 3 VgV insbesondere die Abgabe einer Verschwiegenheitserklärung.

2.Artikel 346 Abs. 1 lit. a AEUV (§ 117 Nr. 2 GWB)

14§ 117 Nr. 2 GWB dient der Umsetzung von Art. 15 Abs. 2 UAbs. 2 VRL und Art. 24 Abs. 2 UAbs. 2 SRL. Diese Richtlinienvorschriften nehmen ausdrücklich Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV in Bezug. Die Fassung der neu in § 117 Nr. 2 GWB übernommenen Ausnahme für Aufträge, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte beinhalten, orientiert sich am Wortlaut der in § 100 Abs. 6 Nr. 1 GWB a. F. festgelegten allgemeinen Ausnahme.19

15Über den Verweis auf Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV sind wiederum die wesentlichen Sicherheitsinteressen angesprochen. Die Bezugnahme auf Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV erlaubt es nämlich, Verträge vom Vergaberecht auszunehmen, wenn deren Anwendung einen öffentlichen Auftraggeber zwingen würde, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland widerspricht.20 Auftraggeber müssen dazu darlegen, warum ein förmliches Vergabeverfahren ihren Sicherheitsanforderungen ausnahmsweise nicht gerecht werden kann und daher eine Inanspruchnahme von Art. 346 AEUV gerechtfertigt ist.21

3.Geheimerklärung und Sicherheitsmaßnahmen (§ 117 Nr. 3 GWB)

16§ 117 Nr. 3 GWB setzt Art. 15 Abs. 3 VRL und Art. 24 Abs. 3 SRL in das deutsche Recht um. Anders als noch Art. 14 VKR 2004/18/EG greifen die neuen Richtlinienvorschriften ausdrücklich das Verhältnismäßigkeitsgebot auf. Das Vergaberecht ist danach lediglich dann nicht anzuwenden, wenn ein Mitgliedstaat festgestellt hat, dass die betreffenden wesentlichen Interessen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gewährleistet werden können.

17§ 117 Nr. 3 GWB übernimmt ebenso wie § 117 Nr. 1 GWB den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Abwägungserfordernis.22 Als Beispiel für weniger einschneidenden Maßnahmen führt die Vorschrift wie in § 117 Nr. 1 GWB Anforderungen an, die auf den Schutz der Vertraulichkeit der von dem öffentlichen Auftraggeber im Rahmen eines Vergabeverfahrens zur Verfügung gestellten Informationen abzielen.23

18Nachdem § 117 Nr. 3 GWB ausdrücklich die Vergabe und die Ausführung des Auftrags anspricht, kann der öffentliche Auftraggeber auch dann nicht von einem Wettbewerb absehen, wenn ausschließlich das Ausführungsstadium von einer Geheimerklärung oder besonderen Sicherheitsmaßnahmen betroffen ist, die Vergabe an sich aber ohne Gefährdung der zu schützenden Sicherheitsinteressen durchgeführt werden kann. Muss beispielsweise ein bauausführendes Unternehmen erst im Ausführungsstadium einen militärischen Sicherheitsbereich betreten, besteht im Hinblick auf die geforderte enge Auslegung der Ausnahmevorschriften kein Grund, den Auftrag nicht im Wettbewerb zu vergeben.

19§ 117 Nr. 3 GWB übernimmt im Wesentlichen den Wortlaut des § 100 Abs. 8 Nr. 1 und 2 GWB a. F.

20a) Geheimerklärung. Der Ausnahmetatbestand der Geheimerklärung umschreibt die Möglichkeit, Aufträge zum Schutz betroffener Sicherheitsbelange verschlossen zu halten. Anders als § 100 Abs. 8 Nr. 1 GWB a. F. führt § 117 Nr. 3 GWB nicht mehr ausdrücklich an, dass die Geheimerklärung mit „den inländischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ übereinstimmen muss.

21Grundlage für eine Geheimerklärung in Deutschland ist das Gesetz über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes (Sicherheitsüberprüfungsgesetz – SÜG) vom 20.4.199424 und die darauf beruhende Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen (VS-Anweisung VSA)25. Weder das SÜG noch die VSA sehen jedoch ein bestimmtes Verfahren vor, in welchem die Geheimerklärung zu erfolgen hat. Es wird lediglich geregelt, dass die Einstufung von einer „amtlichen Stelle“ oder auf deren Veranlassung erfolgen muss (§ 4 Abs. 1 SÜG, § 5 Abs. 1 VSA). Amtliche Stelle ist diejenige Stelle, die eine Verschlusssache herausgegeben hat. Diese kann – muss aber nicht – identisch mit der Vergabestelle sein.26

22Die Grade der Geheimhaltung lassen sich § 4 Abs. 2 SÜG entnehmen. Abhängig von ihrer Schutzbedürftigkeit können geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse („Verschlusssachen27), unabhängig von ihrer Darstellungsform als STRENG GEHEIM, GEHEIM, VS – VERTRAULICH oder VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH eingestuft werden. Verschlusssachen sind beispielsweise GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann (§ 4 Abs. 1, 2 Nr. 2 SÜG). Für Verschlusssachen i. S. d. § 104 GWB ist die besondere Ausnahme in § 145 GWB einschlägig.

23Die Geheimerklärung i. S. d. § 117 Nr. 3 GWB knüpft zwar nicht an die Geheimhaltungsgrade des SÜG, sondern an Art. 15 Abs. 3 VRL und Art. 24 Abs. 3 SRL an, die keine Einschränkungen hinsichtlich des Geheimhaltungsgrades vorsehen.28 Die Einstufung als VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH wird aber dennoch für eine Ausnahme über § 117 Nr. 3 GWB noch nicht genügen, was sich auch daran zeigt, dass nur die Vergabe von Aufträgen mit einer Einstufung VS – Vertraulich und höher die Teilnahme an der Geheimschutzbetreuung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie voraussetzt.29

24Auf die Frage, ob die Beschaffungsabsicht oder das Projekt als solches öffentlich bekannt ist, kommt es für die Berechtigung einer Geheimerklärung nicht an.30 Zu beachten ist aber auch hier, dass ein Geheimhaltungserfordernis allein unter Umständen nicht von einer Auftragsvergabe in einem Ausschreibungsverfahren befreit.31

25b) Besondere Sicherheitsmaßnahmen . Die Entscheidung, ob die Vergabe und die Ausführung eines Auftrags besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordern sowie die Bestimmung solcher Sicherheitsanforderungen obliegt den zuständigen staatlichen Stellen.32 Es ist deshalb für die Erfüllung des Ausnahmetatbestands nicht ausreichend, dass besondere Sicherheitsmaßnahmen nur nach den Vorgaben der jeweils vergebenden Stelle zur Anwendung kommen. Erforderlich ist schon nach dem Wortlaut, dass diese Maßnahmen durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften vorgegeben sein müssen.33

26Der deutsche Gesetzgeber hat durch das Sicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG) besondere Sicherheitsmaßnahmen vorgeschrieben. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SÜG ist eine Person, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden soll, vorher einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen. Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit nach dem SÜG übt unter anderen derjenige aus, der an einer sicherheitsempfindlichen Stelle innerhalb einer lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtung oder innerhalb einer besonders sicherheitsempfindlichen Stelle des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Verteidigung („Militärischer Sicherheitsbereich“) beschäftigt ist oder werden soll (vorbeugender personeller Sabotageschutz, § 1 Abs. 4 SÜG) oder sich potenziell Zugang zu Verschlusssachen34 verschaffen kann. Der Zugang zu Verschlusssachen VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH stellt noch keine sicherheitsempfindliche Tätigkeit dar (§ 1 Abs. 2 SÜG).35 Lebenswichtig sind solche Einrichtungen, die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind und deren Beeinträchtigung erhebliche Unruhe in großen Teilen der Bevölkerung und somit Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entstehen lassen würden (§ 1 Abs. 5 Nr. 1 SÜG).

27§ 7 SÜG nennt die Arten der Sicherheitsüberprüfung, deren Voraussetzungen entsprechend der vorgesehenen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit in den §§ 8 bis 10 SÜG beschrieben sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist nach dem Wortlaut der Vorschriften die jeweilige Sicherheitsüberprüfung grundsätzlich durchzuführen. Im Rahmen der einfachen Sicherheitsüberprüfung kann aber die zuständige Stelle bei Tätigkeiten in einem Sicherheitsbereich von der Sicherheitsüberprüfung absehen, wenn Art oder Dauer der Tätigkeit dies zulassen (§ 8 Abs. 2 SÜG). Außerdem kann die zuständige Stelle im Einzelfall abhängig von der Art und Dauer der Tätigkeit statt der erweiterten Sicherheitsüberprüfung eine niedrigere Stufe wählen. Die zuständige Stelle hat hier einen Ermessensspielraum.36

28Nachdem das SÜG an die Tätigkeit anknüpft, sind dem SÜG nicht nur solche Personen unterworfen, die in einem Anstellungsverhältnis zur Behörde stehen oder zu ihr in ein Anstellungsverhältnis treten wollen. Ihrem Zweck entsprechend sind die Bestimmungen des Gesetzes ebenfalls anzuwenden, wenn eine Behörde einer Person sicherheitsempfindliche Tätigkeiten zuweisen oder übertragen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 SÜG) oder wenn sie eine Verschlusssache an eine nicht-öffentliche Stelle weitergeben will (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 SÜG). Beispielsweise ist die Objektplanung für das Neubauprojekt des Bundesnachrichtendienstes als sicherheitsempfindlich i. S. v. § 1 Abs. 2 Nr. 2 SÜG eingestuft worden, nachdem die Planer schon mit den Auslobungsunterlagen Zugang zu geheimen Tatsachen hatten und ihre Tätigkeit darüber hinaus den (weiteren) geheim zu haltenden Gegenstand der Objektplanung des Neubauvorhabens des Bundesnachrichtendienstes hervorbringen sollte. Die Planer waren deshalb denselben Sicherheitsanforderungen – und zwar einer erweiterten Sicherheitsüberprüfung nach § 10 Nr. 2, 3 und § 12 SÜG – zu unterwerfen, denen nach dem SÜG auch die Bediensteten des Bundesnachrichtendienstes zu unterziehen sind.37

29Auch die Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG)38 enthalten Sicherheitsmaßnahmen i. S. d. § 117 Nr. 3 GWB, nachdem § 7 LuftSiG eine Zuverlässigkeitsüberprüfung bestimmter Personen vorsieht.39 Sicherheitsmaßnahmen, die allein an die Eigenschaft des Auftraggebers als Flughafenbetreiber anknüpfen, also nicht durch die Verfahrensweise bei einer Auftragsvergabe veranlasst sind oder die völlig unabhängig von einer Beschaffung ergriffen werden müssen, sind aber keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen im Sinne der Ausnahmevorschrift.40

30Allein der Umstand, dass die Ausführung des Auftrags eine besondere Überprüfung nach dem LuftSiG oder dem SÜG verlangt, führt nicht dazu, die Auftragsvergabe zwingend und ohne weitere Abwägung zwischen den Sicherheitsinteressen des Auftraggebers und den Interessen der Bieter dem Anwendungsbereich des vierten Teils des GWB zu entziehen. Im Hinblick darauf, dass das SÜG vom 20.4.1994 stammt, der vierte Teil des GWB aber erst am 1.1.1999 in Kraft getreten ist, kann das Erfordernis der Abwägung auch nicht damit verneint werden, dass der Gesetzgeber mit dem Erlass des SÜG bereits eine Abwägung der Bieterinteressen zugunsten der Sicherheitsinteressen vorgenommen habe.41

II.Völkerrechtliche Verpflichtungen, Stationierung von Truppen, Internationale Organisation

31§ 117 Nr. 4 lit. a bis c GWB dient der Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 lit. a bis c VRL und Art. 27 Abs. 1 lit. a bis c SRL. § 117 Nr. 4 lit. a und c GWB gehen hinsichtlich öffentlicher Aufträge und Wettbewerbe, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen der allgemeinen Ausnahme in § 109 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b GWB vor.42

1.Völkerrechtliche Verpflichtungen (§ 117 Nr. 4 lit. a GWB)

32§ 117 Nr. 4 lit. a GWB entspricht der allgemeinen Ausnahme in § 109 Abs. 1 Nr. 1 lit. a GWB auf deren Kommentierung deshalb verwiesen werden kann.43 Die entsprechende Vorschrift für die Vergabe von verteidigungs- oder sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen findet sich in § 145 Nr. 7 lit. a GWB.

2.Stationierung von Truppen (§ 117 Nr. 4 lit. b GWB)

33Ausgenommen vom Anwendungsbereich sind nach § 117 Nr. 4 lit. b GWB Aufträge aufgrund einer internationalen Übereinkunft oder Vereinbarung im Zusammenhang mit der Stationierung von Truppen, wenn für die Vergabe dieser Aufträge andere Vergabeverfahren festgelegt sind.44 Vergibt also beispielsweise ein deutscher Auftraggeber Aufträge auf der Grundlage des NATO-Truppenstatutes im Zusammenhang mit der deutsch-französischen Brigade, ist er nicht an das Vergaberecht des vierten Teils des GWB gebunden, sondern hat lediglich die jeweiligen Regeln des Abkommens über die Truppenstationierung zu beachten. Die entsprechende Vorschrift für die Vergabe von verteidigungs- oder sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen findet sich in § 145 Nr. 7 lit. b GWB.

34Unter die Ausnahme fallen auch Beschaffungsverfahren der im Bundesgebiet stationierten ausländischen Truppen, wenn die Beschaffung unmittelbar durch die Behörden der ausländischen Truppen oder ihres zivilen Gefolges erfolgt. Erfolgt die Beschaffung dagegen durch die deutschen Behörden, werden also die Verträge über Lieferung und Leistungen zwischen den deutschen Behörden und den Auftragnehmern abgeschlossen, gilt deutsches Vergaberecht,45 wenn dafür keine besonderen, den deutschen Auftraggeber verpflichtende Verfahrensregeln bestehen. Dafür ist es nicht erforderlich, dass gänzlich andere, vom deutschen Vergaberechtsregime abweichende Normen zur Anwendung kommen. Es genügt vielmehr, wenn sich aus der anwendbaren internationalen Übereinkunft oder Vereinbarung ergibt, dass die bei der Vergabe von Aufträgen anzuwendenden Regelungen in Abweichung zu den für den „Normalfall“ geltenden Normen festgelegt werden.46

3.Internationale Organisation (§ 117 Nr. 4 lit. c GWB)

35§ 117 Nr. 4 lit. c GWB entspricht der allgemeinen Ausnahme in § 109 Abs. 1 Nr. 1 lit. b GWB auf deren Kommentierung deshalb verwiesen werden kann.47 Die entsprechende Vorschrift für die Vergabe von verteidigungs- oder sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen findet sich in § 145 Nr. 7 lit. c GWB.

III.Besondere Vergaberegeln (§ 117 Nr. 5 GWB)

36§ 117 Nr. 5 GWB setzt Art. 17 Abs. 2 VRL und Art. 27 Abs. 2 SRL um und entspricht der allgemeinen Ausnahme in § 109 Abs. 1 Nr. 2 GWB.48 § 117 Nr. 5 GWB geht hinsichtlich öffentlicher Aufträge und Wettbewerbe, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen, der allgemeinen Ausnahme in § 109 Abs. 1 Nr. 2 GWB vor,49 die jedoch neben der besonderen Ausnahme zur Anwendung kommt.50

§ 118 GWBBestimmten Auftragnehmern vorbehaltene öffentliche Aufträge

(1) Öffentliche Auftraggeber können das Recht zur Teilnahme an Vergabeverfahren Werkstätten für Menschen mit Behinderung und Unternehmen vorbehalten, deren Hauptzweck die soziale und berufliche Integration von Menschen mit Behinderung oder von benachteiligten Personen ist, oder bestimmen, dass öffentliche Aufträge im Rahmen von Programmen mit geschützten Beschäftigungsverhältnissen durchzuführen sind.

(2) Voraussetzung ist, dass mindestens 30 Prozent der in diesen Werkstätten oder Unternehmen Beschäftigten Menschen mit Behinderung oder benachteiligte Personen sind.

Übersicht Rn.
A. Vorbemerkungen 1–4
B. Bevorzugte Institutionen 5–9
I. Werkstätten und Sozialunternehmen (§ 118 Abs. 1 GWB) 5, 6
II. Voraussetzung der Bevorzugung (§ 118 Abs. 2 GWB) 7
III. Bekanntmachung 8
IV. Ermessen 9

A.Vorbemerkungen

1§ 118 GWB dient der Umsetzung des Art. 20 Abs. 1 VRL, des Art. 24 Satz 1 KVR und des Art. 38 Abs. 1 SRL. Für die Vergabe öffentlicher Aufträge durch Sektorenauftraggeber und für die Vergabe von Konzessionen kommt § 118 GWB über die Verweisung in § 142 GWB bzw. § 154 GWB zur Anwendung. § 118 GWB hat keine Entsprechung im bisherigen deutschen Vergaberecht.1

2Die Bevorzugung bestimmter Auftragnehmer beruht auf den Erwägungen, dass Beschäftigung und Beruf wesentlich zur Integration von Menschen mit Behinderung und benachteiligten Personen in die Gesellschaft beitragen. In diesem Zusammenhang können Werkstätten für Menschen mit Behinderung und Unternehmen, deren Hauptzweck die soziale und berufliche Integration dieser Personen ist (Sozialunternehmen), eine wichtige Rolle spielen, indem sie neben einer geschützten Arbeitsumgebung auch besondere Unterstützung, Förderung und Hilfestellung für diese Personengruppen anbieten. Unter normalen Wettbewerbsbedingungen ist es für diese Institutionen jedoch häufig schwierig, öffentliche Aufträge zu erhalten. Daher sollte den öffentlichen Auftraggebern die Möglichkeit eröffnet werden, Vergabeverfahren von vornherein auf diese Institutionen zu beschränken.2

3Für Bauleistungen sieht § 6 EU Abs. 3 Nr. 3 VOB/A vor, dass ein öffentlicher Auftraggeber das Recht zur Teilnahme an dem Vergabeverfahren unter den Voraussetzungen des § 118 GWB beschränken kann.

4Von dieser Möglichkeit der Beschränkung des Teilnehmerkreises unberührt bleibt die Möglichkeit für die öffentlichen Auftraggeber zur Bevorzugung von geschützten Werkstätten bei der Zuschlagserteilung nach § 141 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch sowie den auf dieser Grundlage angewandten Verwaltungsvorschriften.3 Unberührt bleibt auch die Möglichkeit, über § 128 Abs. 2 GWB Vorgaben zu sozialen oder beschäftigungspolitischen Belangen für die Auftragsausführung zu machen.

B.Bevorzugte Institutionen

I.Werkstätten und Sozialunternehmen (§ 118 Abs. 1 GWB)

5§ 118 Abs. 1 GWB übernimmt Art. 20 Abs. 1 Satz 1 HS 1 VRL, Art. 24 Satz 1 HS 1 KVR sowie Art. 38 Abs. 1 HS 1 SRL und sieht in der ersten Alternative die Möglichkeit vor, Werkstätten für Menschen mit Behinderung und Sozialunternehmen bei der Auftragsvergabe zu bevorzugen. Ein Wettbewerb findet in diesen Fällen nur noch zwischen den Werkstätten für Menschen mit Behinderung und den Sozialunternehmen statt. Die Teilnahme anderer privatwirtschaftlicher Bewerber oder Bieter ist ausgeschlossen.4 VRL und SRL nennen als benachteiligte Personen Arbeitslose, Angehörige benachteiligter Minderheiten oder auf andere Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängte Personen.5

6Nach der zweiten Alternative des § 118 Abs. 1 GWB kann der öffentliche Auftraggeber bestimmen, dass der Auftrag im Rahmen eines Programms mit geschützten Beschäftigungsverhältnissen durchzuführen ist. Der Begriff „geschützte Beschäftigungsverhältnisse“ wurde insbesondere in Art. 19 VKR 2004/18/EG verwendet. Eine weitere Erläuterung lässt sich jedoch weder den Richtlinien, noch der Gesetzesbegründung entnehmen. Denkbar sind hier Programme zur Förderung des Arbeitsmarktes im Sinne der Sozialgesetzbücher.

II.Voraussetzung der Bevorzugung (§ 118 Abs. 2 GWB)

7§ 118 Abs. 2 GWB bestimmt in Umsetzung der Vorgabe des Art. 20 Abs. 1 Satz 1 HS 2 VRL, des Art. 24 Satz 1 HS 2 KVR sowie des Art. 38 Abs. 1 HS 2 SRL, als Voraussetzung für die Bevorzugung, dass mindestens 30 Prozent der in den Werkstätten oder Sozialunternehmen Beschäftigen Menschen mit Behinderung oder benachteiligte Personen sein müssen.

III.Bekanntmachung

8Die Vorgabe aus Art. 20 Abs. 2 VRL, Art. 24 Satz 2 KVR sowie Art. 38 Abs. 2 SRL, im Aufruf zum Wettbewerb auf diese Artikel Bezug zu nehmen, wird laut amtlicher Begründung zum GWB auf Verordnungsebene umgesetzt.6 Die Vergabeverordnungen nehmen zwar nicht ausdrücklich auf § 118 GWB Bezug. Jedoch ergibt sich schon aus den Anhängen der Richtlinien, dass in Vorinformationen, Auftragsbekanntmachungen oder Teilnahmebedingungen darauf hingewiesen werden muss, wenn es sich um einen Auftrag handelt, der geschützten Werkstätten vorbehalten ist oder bei dem die Ausführung nur im Rahmen von Programmen für geschützte Beschäftigungsverhältnisse erfolgen darf.7 Dementsprechend verweisen die Vergabeverordnungen unter anderem hinsichtlich Vorinformationen und Vergabebekanntmachungen auf die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 2015/1986, die in Abschnitt III (rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle und technische Angaben) des jeweiligen Formulars zu Ziffer III.1.5 Angaben zu vorbehaltenen Aufträgen verlangt.8

IV.Ermessen

9Nach dem Wortlaut des § 118 Abs. 1 GWB steht dem öffentlichen Auftraggeber ein Ermessen zu, ob er von der Beschränkung des Wettbewerbs über diese Vorschrift Gebrauch macht und von welcher Alternative. Der Auftraggeber wird deshalb auch zu begründen und zu dokumentieren haben, wenn er von der Möglichkeit, den Teilnehmerkreis über § 118 Abs. 1 GWB zu beschränken, keinen Gebrauch macht, obwohl genügend geeignete Werkstätten und Sozialunternehmen für eine Auftragsausführung bereit stünden.

Vergaberecht

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