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2.Soziale und andere besondere Dienstleistungen gemäß Anhang XIV

19Die erleichterten Vergabevorschriften des neuen Sonderregimes sind auf sämtliche, in Anhang XIV VRL ausdrücklich genannten sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen anwendbar. Anhang XIV hat abschließenden Charakter. Die erfassten Dienstleistungen werden unter Bezugnahme auf spezifische Posten des mit der Verordnung (EG) Nr. 2195/200248 angenommenen „Gemeinsamen Vokabulars für öffentliche Aufträge“ (Common Procurement Vocabulary (CPV)) identifiziert. Hierbei handelt es sich um ein einheitliches Klassifizierungssystem zur Vereinheitlichung der Referenzsysteme, die öffentliche Auftraggeber zur Beschreibung des Auftragsgegenstands verwenden. Das CPV ist mittels eines maximal neunstelligen numerischen CPV-Codes hierarchisch in Abteilungen, Gruppen, Klassen, Kategorien und Unterkategorien strukturiert. Auf Dienstleistungen, deren CPV-Codes nicht in Annex XIV genannt sind, findet das Sonderregime keine Anwendung. Vielmehr ist vollumfänglich das Vergaberecht anwendbar; die Auflistung ist dabei auch mit Blick auf den unter großen Anstrengungen erzielten, politischen Kompromiss zum Sonderregime insgesamt eng auszulegen.49 Als Ordnungsvorgabe hat das CPV grundsätzlich keine bieterschützende Wirkung, ist jedoch maßgeblich für die Anwendung des Sonderregimes und dessen Rechtsfolgen. Die CPV-Codes sowie diesen zugeordneten Erläuterungen sollte der Auftraggeber möglichst präzise zur Detaillierung des Auftragsgegenstands verwenden, zudem gelten seit Beginn 2020 zwingende Vorgaben der EU-Kommission hinsichtlich der Nennung des CPV-Hauptcodes in der Vorinformation und Auftragsbekanntmachung.50 Vor allem die unterschiedlichen amtlichen Sprachfassungen der VRL führen in der Praxis zum Teil bislang zu Schwierigkeiten in der Anwendung, was sich jedoch mit den neuen EU Maßgaben zumindest teilweise verbessern sollte.51

20Zu den genannten Dienstleistungen gehören beispielsweise Arbeitsmarktdienstleistungen des Sozialgesetzbuchs II, III und IV52. Erfasst ist auch der Einsatz von Krankenwagen zur reinen Patientenbeförderung. Allerdings sind Notfallrettungsdienste und der Einsatz von Krankenwagen, sofern er in Zusammenhang mit allgemeinen und fachspezifischen ärztlichen Dienstleistungen in einem Rettungswagen steht, gem. § 107 Nr. 453 gänzlich vom Anwendungsbereich des Vergaberechts ausgenommen. Andere Dienstleistungen wie Rettungs- oder Feuerwehrdienste, soweit nicht vom Anwendungsbereich nach Maßgabe der Bereichsausnahme des § 107 Nr. 4 ausgenommen, bieten regelmäßig nur dann ein grenzüberschreitendes Interesse, wenn sie aufgrund eines relativ hohen Auftragswerts eine ausreichend große kritische Masse erreichen.54

21Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen werden in der Regel nur von Wirtschaftsteilnehmern angeboten, die an dem konkreten Ort der Erbringung angesiedelt sind. Jedoch fallen Großaufträge im Oberschwellenbereich in den Anwendungsbereich, da diese für verschiedene Wirtschaftsteilnehmer wie Reiseagenturen oder andere Zwischenhändler auch grenzüberschreitend von Interesse sein können.55 Vom Sonderregime erfasst sind z. B. Verpflegungsdienste für Privathaushalte, Essen auf Rädern, Verpflegungsdienste für Schulen und die Auslieferung von Schulmahlzeiten56 oder Dienstleistungen und der Betrieb von Kantinen.

22Dies gilt ebenso für bestimmte Dienstleistungen im juristischen Bereich, wie etwa juristische Beratung und Vertretung, Patent- und Urheberrechtsberatung, rechtliche Dokumentations- und Beglaubigungsdienste oder Verwaltungsdienstleistungen bei Gericht, sofern sie nicht bereits nach § 116 Abs. 1 Nr. 157 ausgenommen sind. Typischerweise sind ausschließlich Fragen des nationalen Rechts betroffen. Bei Rechtsfragen des Unionsrechts oder sonstigen internationalen Vorschriften können Großaufträge jedoch etwa für internationale Anwaltskanzleien grenzüberschreitend interessant sein.58 Für die Mehrheit von Ausschreibungen durch Kommunen oder kommunale Unternehmen für die Rechtsberatung wird wohl künftig die UVgO einschlägig sein.59

23Dienstleistungen des Gesundheits- und Sozialwesens sowie dazugehörige Dienstleistungen des Anhangs XIV sind erfasst, soweit sie in den Anwendungsbereich des GWB fallen. Dabei stellt der Unionsgesetzgeber klar, dass Dienstleistungen im Rahmen der gesetzlichen Sozialversicherung nicht der Richtlinie unterliegen, wenn sie als nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse organisiert werden.60

24Anhang XIV erfasst darüber hinaus Postdienste, wie beispielsweise Post- und Fernmeldedienste, Kurierdienste, Briefpostdienste, Paketpostdienste, Post-Schalterdienste oder die Vermietung von Postfächern. Für andere Postdienste hingegen, deren CPV-Codes nicht in Anhang XIV aufgeführt sind, findet das Sonderregime keine Anwendung. Auf die folgenden Dienste ist daher vollumfänglich das Vergaberecht anwendbar: 64120000-3 (Kurierdienste), 64121000-0 (Multi-modale Kurierdienste), 64121100-1 (Postzustellung), 64121200-2 (Paketzustellung), 60160000-7 (Postbeförderung auf der Straße), 60161000-4 (Paketbeförderung), 60411000-2 (Luftpostbeförderung im Linienverkehr), 60421000-5 (Luftpostbeförderung im Gelegenheitsverkehr).61

25Weitere soziale oder andere besondere Dienstleistungen können beispielsweise Dienstleistungen von extraterritorialen oder internationalen Organisationen und Körperschaften, religiösen Vereinigungen, Detekteien und Sicherheitsdiensten, Reifenrunderneuerung oder Schmiedearbeiten sein.62

C.Verfahren

26Gemäß Abs. 1 kann der öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen zwischen offenem Verfahren, nicht offenem Verfahren, Verhandlungs­verfahren mit Teilnahmewettbewerb, wettbewerblichen Dialog und Innovationspartnerschaft frei wählen.63 Die in Art. 26 Abs. 4 VRL niedergelegten Zulassungsvoraussetzungen eines Verhandlungsverfahrens oder eines wettbewerblichen Dialogs finden keine Anwendung. Jedoch sind im Übrigen die Vorschriften des 4. Teils, Abschnitte 1 und 2 (§§ 97 ff. GWB) sowie die Verfahrensvorschriften der Vergabeverordnung grundsätzlich uneingeschränkt anwendbar und bis zur endgültigen Auftragsvergabe einzuhalten.64 Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb ist hingegen nur dann zulässig, soweit dies aufgrund dieses Gesetzes gestattet ist. Dies hat zur Folge, dass die hierfür einschlägigen Zulassungsvoraussetzungen des § 65 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 14 Abs. 4 VgV zu beachten sind.65

27Mit der freien Verfahrenswahl soll es dem öffentlichen Auftraggeber ermöglicht werden, den Besonderheiten der jeweiligen Dienstleistungen Rechnung zu tragen und fachliche sowie praktische Expertise der Bieter zu berücksichtigen.66 Abgesehen von der Verfahrenswahl können diese Besonderheiten etwa auch bei der Leistungsbeschreibung, den Eignungs- und Zuschlagskriterien oder den Ausführungsbedingungen durch Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien berücksichtigt werden. Beispielsweise kann der öffentliche Auftraggeber in der Leistungsbeschreibung – abhängig von der Möglichkeit zur Standardisierung von Leistungsanforderungen – eine unterschiedliche Gewichtung von Preis und anderen Qualitätskriterien beim Zuschlag einräumen.67

D.Zulässige Auftragsänderungen

28Abs. 2 regelt die zulässige Auftragsänderung für soziale und andere besondere Dienstleistungen i. S. d. Anhangs XIV VRL ohne erneute Durchführung eines Vergabeverfahrens. Abweichend von der allgemeinen Regelung des § 132 Abs. 3 S. 1 Nr. 268 ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags unter der Voraussetzung zulässig, dass der Wert der Änderung nicht mehr als 20 Prozent des ursprünglichen Auftragswerts beträgt. Diese Wertgrenze entspricht der bisherigen in der VOL/A zur freihändigen Vergabe bei nichtprioritären Dienstleistungen. Der Bundesgesetzgeber hat sich für soziale und andere besondere Dienstleistungen für eine Erweiterung der in § 132 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 festgelegten Grenze entschieden, um dem öffentlichen Auftraggeber ausreichend Flexibilität bei steigender Nachfrage solcher Dienstleistungen durch äußere, nicht vorhersehbare und beeinflussbare Umstände zu ermöglichen. Dies soll beispielsweise bei einem Anstieg nach Arbeitsmarktdienstleistungen durch konjunkturelle Rahmenbedingungen der Fall sein: Durch weitere, nicht vorhersehbare Verschlechterungen wirtschaftlicher Rahmenbedingungen oder regionaler Veränderungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt etwa bei Unternehmensinsolvenzen kann sich innerhalb der Vertragslaufzeit ein erheblicher Mehrbedarf gegenüber der ursprünglichen Planung vor Ausschreibung ergeben. Nach dem Willen des Bundesgesetzgebers soll dem Auftraggeber in solchen Fällen die Möglichkeit eingeräumt werden, zeitnah vereinbarte Teilnehmerkontingente zu erweitern und damit den Bedürfnissen der Betroffenen insbesondere im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich Rechnung zu tragen.69 Bis zu der Wertgrenze von 20 % können Anschlussaufträge ohne Neuausschreibung gestaffelt oder gebündelt erfolgen; hierfür ist der Gesamtwert der Änderungen entscheidend.70 Mit Ausnahme des erhöhten Werts bleiben die übrigen Voraussetzungen zur zulässigen Vertragsänderung des § 132 GWB anwendbar. Damit muss bei der Änderung der Gesamtcharakter des öffentlichen Auftrags erhalten bleiben und darf nicht zu einer wesentlichen Abweichung vom ursprünglichen Auftrag führen.71

§ 131 GWBVergabe von öffentlichen Aufträgen über Personenverkehrsleistungen im Eisenbahnverkehr

(1) 1Bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen, deren Gegenstand Personenverkehrsleistungen im Eisenbahnverkehr sind, stehen öffentlichen Auftraggebern das offene und das nicht offene Verfahren, das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb, der wettbewerbliche Dialog und die Innovationspartnerschaft nach ihrer Wahl zur Verfügung. 2Ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb steht nur zur Verfügung, soweit dies aufgrund dieses Gesetzes gestattet ist.

(2) 1Anstelle des § 108 Absatz 1 ist Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (ABl. L 315 vom 3.12.2007, S. 1) anzuwenden. 2Artikel 5 Absatz 5 und Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 bleiben unberührt.

(3) 1Öffentliche Auftraggeber, die öffentliche Aufträge im Sinne von Absatz 1 vergeben, sollen gemäß Artikel 4 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 verlangen, dass bei einem Wechsel des Betreibers der Personenverkehrsleistung der ausgewählte Betreiber die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die beim bisherigen Betreiber für die Erbringung dieser Verkehrsleistung beschäftigt waren, übernimmt und ihnen die Rechte gewährt, auf die sie Anspruch hätten, wenn ein Übergang gemäß § 613a des Bürgerlichen Gesetzbuchs erfolgt wäre. 2Für den Fall, dass ein öffentlicher Auftraggeber die Übernahme von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Sinne von Satz 1 verlangt, beschränkt sich das Verlangen auf diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die für die Erbringung der übergehenden Verkehrsleistung unmittelbar erforderlich sind. 3Der öffentliche Auftraggeber soll Regelungen vorsehen, durch die eine missbräuchliche Anpassung tarifvertraglicher Regelungen zu Lasten des neuen Betreibers zwischen der Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung und der Übernahme des Betriebes ausgeschlossen wird. 4Der bisherige Betreiber ist nach Aufforderung durch den öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, alle hierzu erforderlichen Angaben zu machen.

Schrifttum: Bayreuther, Die Anordnung eines Betriebsübergangs bei Vergabe von Verkehrsdienstleistungen nach § 131 III GWB, NZBau 2016, 459 ff.; Bayreuther, Die Verfassungskonformität des § 131 III GWB, NZA 2016, 1506 ff.; Bayreuther, Betriebs-/Beschäftigtenübergang und Tariftreueverlangen nach Neuvergabe eines Dienstleistungsauftrags im ÖPNV, NZA 2014, 1171 ff.; Binder/Jürschik, Was bedeutet das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz für die Direktvergabe nach VO 1370/2007, Der Nahverkehr 4/2016, 37 ff.; Jürschik/Bücke, Tariftreue in Baden-Württemberg nur ein stumpfes Schwert?, VBlBW 5/2020, 6 ff.; Kirch, Die Direktvergabe an einen internen Betreiber nach der VO 1370, V+T 2011, 355 ff.; Knauff, Neuerungen im EU-Verkehrsmarktrecht – Änderungen der Personenverkehrsdienstleistungsverordnung (EG) Nr. 1370/2007 durch die Verordnung (EU) 2016/2338, NZR 1/2018, 26 ff.; Knauff, EuZW 2014, Neues zur Inhouse-Vergabe, 486 ff.; Lenz/Jürschik, Zulässigkeit der Inhouse-Vergabe im ÖPNV – Busverkehr und -vergabe Heinsberg, NVwZ 2020, 335 ff.; Reidt/Stickler, Die Neuregelung in § 131 Abs. 3 GWB zur Arbeitnehmerübernahme im Schienenpersonennahverkehr, VergabeR 2016, 708 ff.; Reidt, Die Personalübernahme im Schienenpersonennahverkehr, VergabeR 2018, 387 ff.; Rohrmann, Zeit ist reif für „Tariftreue 4.0“, Der Nahverkehr 3/2015, 23 ff.; Rohrmann/Pfaff, Beschäftigungsübergang im SPNV im europäischen Vergleich, Der Nahverkehr 1-2/2016, 68 ff.; Ziekow, Inhouse-Geschäft und öffentlich-öffentliche Kooperationen: Neues vom europäischen Vergaberecht?, NZBau 2015, 258 ff.; Ruge/von Tiling, Die Anordnung der Personalübernahme durch die Vergabestelle im Konflikt mit dem Grundgesetz, NZA 2016, 1055 ff.

Übersicht Rn.
A. Vorbemerkungen 1–2a
B. Vergabe von Eisenbahnverkehrsleistungen (§ 131 Abs. 1 GWB) 3–5
C. Vorrang der Direktvergabe nach VO 1370 (§ 131 Abs. 2 GWB) 6–11
I. Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 2 VO 1370 (§ 131 Abs. 2 Satz 1 GWB) 8, 9
II. Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 5 VO 1370 (§ 131 Abs. 2 Satz 2 GWB) 10
III. Weitere Direktvergabetatbestände nach VO 1370 11
D. Übernahme des Personals (§ 131 Abs. 3 GWB) 12–16

A.Vorbemerkungen

1§ 131 GWB regelt das Verhältnis zwischen dem Spezialvergaberecht der VO 1370 für den öffentlichen Personenverkehr im Bereich der Eisenbahnen und dem allgemeinen Vergaberecht. Die Regelung soll die anwendbaren Vorschriften für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen über Eisenbahndienste klarstellen.1 § 131 Abs. 1 GWB zählt die zulässigen Verfahrensarten auf und stellt damit sicher, dass die bisherige Rechtslage fortbesteht und Aufträge im Wettbewerb vergeben werden.2 Damit geht der deutsche Gesetzgeber über das europäische Recht hinaus, wonach die Vergaberichtlinien im Anwendungsbereich der VO 1370 nicht anzuwenden sind.3 Der deutsche Gesetzgeber nutzt damit den Spielraum aus, der den Mitgliedstaaten durch die Vergaberechtlinien eröffnet wurde.4 § 131 Abs. 2 GWB stellt klar, dass die Direktvergabe an einen internen Betreiber nach Art. 5 Abs. 2 VO 1370 aber auch weiterhin zulässig sein soll; das spezielle Inhouse-Geschäft der VO 1370 soll dem allgemeinen Inhouse-Geschäft vorgehen. Deklaratorisch wird mit § 131 Abs. 2 Satz 2 GWB klargestellt, dass die Notmaßnahmen nach Art. 5 Abs. 5 VO 1370, die auch einen Direktvergabetatbestand enthalten, zulässig bleiben. § 131 Abs. 3 GWB enthält schließlich Vorgaben für die Übernahme von Arbeitnehmer(innen) im Fall des Betreiberwechsels. Die Verfassungskonformität des § 131 Abs. 3 GWB wird unterschiedlich beurteilt;5 bislang hat der Gesetzgeber das aber nicht zum Anlass genommen, eine Änderung der Rechtslage herbeizuführen.

2§ 131 GWB gilt nur für öffentliche Aufträge über Eisenbahnpersonenverkehrsleistungen. Die Regelung enthält insofern keine Aussage über öffentliche Dienstleistungsaufträge mit Bussen und Straßenbahnen (ÖPNV).6 Der Versuch, die Absätze 2 bis 4 des § 131 GWB auf öffentliche Aufträge über Personenverkehrsleistungen auf der Straße für entsprechend anwendbar zu erklären, konnte sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen.7 Insofern bleibt wie bisher nur die Möglichkeit, Art. 4 Abs. 5 VO 1370 im Bereich der Busse und Straßenbahnen direkt anzuwenden.8 Teilweise wird auf die Anwendung auch in Landesgesetzen zum Vergabe- und Tariftreuerecht hingewiesen.9 Als „Nicht-Vergabe-Vorschrift“ ist Art. 4 Abs. 5 VO 1370 grundsätzlich auch bei der Vergabe „echter“ öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Bereich der Busse und Straßenbahnen anwendbar, die nach dem Vergaberegime der Vergaberichtlinien bzw. dem GWB vergeben werden (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 3 VO 1370).10 Für den ÖPNV-Bereich sind in Deutschland ergänzend die Regelungen des PBefG (vgl. §§ 8a, 8b PBefG) maßgeblich. Dabei gilt es Folgendes zu beachten: Das Vergaberegime der VO 1370 gilt im Bereich der Busse und Straßenbahnen nur für öffentliche Aufträge in Form von Dienstleistungskonzessionen (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 VO 1370), entgegen der bisherigen herrschenden Meinung der nationalen Rechtsprechung11 nicht bei Vorliegen der Inhouse-Voraussetzungen12 auch nicht bei „einseitigen Akten“13. Nach § 149 Nr. 12 GWB werden Dienstleistungskonzessionen über Personenverkehrsdienstleistungen i. S. d. § 1 PBefG von der Anwendbarkeit des Unterabschnitt 3 des 3. Abschnitts des GWB („Vergabe von Konzessionen“) ausgenommen. Für diese Aufträge gestaltet § 8b PBefG das wettbewerbliche Verfahren nach Art. 5 Abs. 3 VO 1370 aus.14 Auch steht den zuständigen Behörden für diese Aufträge die Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 2 und Abs. 4 VO 1370 offen, wenn die Voraussetzungen der Direktvergabetatbestände vorliegen (vgl. § 8a Abs. 3 PBefG).15 Nimmt der öffentliche Dienstleistungsauftrag die Form eines „echten“ öffentlichen Dienstleistungsauftrages an („Bruttovertrag“), ist das Vergaberegime der Vergaberichtlinien maßgeblich (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 VO 1370). Die VO 1370 gilt in diesem Fall aber außerhalb ihrer Vergaberegelungen in Art. 5 VO 1370 (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 3 VO 1370). Das PBefG gilt ergänzend (vgl. § 8a Abs. 2 Satz 1 PBefG).

2aDie bieterschützende Wirkung des § 131 Abs. 3 GWB ist umstritten. Sie lässt sich aber annehmen, wenn man darauf abstellt, dass die Regelung nicht nur dem Schutz der Arbeitnehmer dient, sondern wegen der wettbewerblichen Relevanz auch den Bietern.16

B.Vergabe von Eisenbahnverkehrsleistungen (§ 131 Abs. 1 GWB)

3Nach § 131 Abs. 1 GWB steht für die Vergabe von Eisenbahnverkehrsleistungen das offene und das nicht offene Verfahren (§ 119 Abs. 3 und 4 GWB), das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb (§ 119 Abs. 5 GWB), der wettbewerbliche Dialog (§ 119 Abs. 6 GWB) und die Innovationspartnerschaft (§ 119 Abs. 7 GWB) „nach Wahl“ den öffentlichen Auftraggebern zur Verfügung. Das anzuwendende Verfahren steht damit im Belieben des öffentlichen Auftraggebers und ist nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des jeweiligen Verfahrens abhängig.17 Dies sollte den Aufgabenträgern im Bereich des Eisenbahnverkehrs mehr Flexibilität ermöglichen.18 Anders verhält es sich allerdings für das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb i. S. d. § 17 Abs. 5 VgV; dieses soll nur bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen19, also im Fall des § 14 Abs. 4 VgV zulässig sein (vgl. § 131 Abs. 1 Satz 2 GWB).

4§ 131 Abs. 1 GWB stellt mit der Aufzählung der zulässigen Verfahrensarten sicher, dass die bisherige Rechtslage im Wesentlichen fortbesteht und Aufträge im Eisenbahnverkehr im Wettbewerb vergeben werden.20 Die Direktvergabe, die die VO 1370 mit Art. 5 Abs. 6 im Bereich des Eisenbahnverkehrs unter dem Vorbehalt des nationalen Rechts zulässt, wird damit nicht gestattet. Der BGH hatte in der Sache S-Bahn-Verkehr Rhein/Ruhr21 schon zur alten Rechtslage entschieden, dass im Anwendungsbereich des GWB das deutsche Recht der Direktvergabe im Bereich der Eisenbahnen nach Art. 5 Abs. 6 VO 1370 entgegensteht. Das wird jetzt normativ festgeschrieben.

5Der bisherigen Rechtslage entsprach es auch, dass neben dem GWB-Vergaberecht über § 4 Abs. 2 Nr. 2 VgV a. F. der erste Abschnitt der VOL/A für die Vergabe von Eisenbahnverkehrsdienstleistungen als „nachrangige Dienstleistungen“ anzuwenden war. Die Richtlinie 2014/24/EU führt die Unterscheidung zwischen „vorrangigen“ und „nachrangigen“ Dienstleistungen nicht fort. Entsprechend wird dies auch von der Neuregelung der Vergabe von Eisenbahnpersonenverkehrsdienstleistungen in § 131 Abs. 1 GWB aufgegeben.22

C.Vorrang der Direktvergabe nach VO 1370 (§ 131 Abs. 2 GWB)

6Die VO 1370 sieht mit Art. 5 Abs. 2, 3a 4, 4a, 4b, 5 und 6 verschiedene Tatbestände vor, die es erlauben, einen Auftrag ohne ein wettbewerbliches Verfahren „direkt“ zu vergeben (sog. Direktvergabe). § 131 Abs. 2 GWB regelt nur das Verhältnis der Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 2 VO 1370 zur allgemeinen Inhouse-Vergabe nach § 108 GWB. Außerdem geht § 131 Abs. 2 Satz 2 GWB auf die Not(direkt)vergabe nach Art. 5 Abs. 5 VO 1370 ein.

7Im Falle einer Direktvergabe nach VO 1370 ist Art. 6 Abs. 1 Satz 2 VO 1370 zu beachten. Dieser enthält Anforderungen an die beihilferechtliche Zulässigkeit für die Ausgleichsleistungen und damit auch an die Finanzierung des öffentlichen Personenverkehrs. Danach sind bei jeder wie auch immer geschaffenen Ausgleichsleistung im Zusammenhang mit einem öffentlichen Dienstleistungsauftrag, der direkt vergeben wird, die Bestimmungen des Anhangs der VO 1370 einzuhalten.23

I.Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 2 VO 1370 (§ 131 Abs. 2 Satz 1 GWB)

8Nach § 131 Abs. 2 Satz 1 GWB ist „anstelle“ des § 108 Abs. 1 GWB der Direktvergabetatbestand des Art. 5 Abs. 2 VO 1370 anzuwenden. Art. 5 Abs. 2 VO 1370 enthält einen Spezialtatbestand für die Inhouse-Vergabe im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs. Die Voraussetzungen der Vergabe an einen internen Betreiber nach Art. 5 Abs. 2 VO 1370 sind zwar an die allgemeinen Inhouse-Voraussetzungen, wie sie der EuGH entwickelt hat,24 angelehnt. Die Voraussetzungen weichen aber im Detail deutlich von denen der EuGH-Rechtsprechung ab.25 Es handelt sich deshalb um einen Spezialtatbestand für die Inhouse-Vergabe im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs,26 der schon nach bisheriger Rechtsprechung der allgemeinen Inhouse-Vergabe vorgeht.27 § 131 Abs. 2 Satz 1 GWB ordnet normativ an, dass dies auch künftig der Fall ist.28

9Der Verweis des § 131 Abs. 2 Satz 1 GWB nur auf den Absatz 1 des § 108 GWB bedeutet nicht, dass die übrigen Absätze des § 108 GWB bei der Inhouse-Vergabe im Bereich der Eisenbahnen anzuwenden wären. Denn § 131 Abs. 2 Satz 1 GWB sollte gerade die Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 2 VO 1370 unter Berücksichtigung des Spezialcharakters der Vorschrift sicherstellen.29 Der Verweis bedeutet insofern nicht, dass die Kontrolle bei einer Vergabe durch eine Mehrzahl von öffentlichen Auftraggebern von diesen gemeinsam auszuüben wäre. Die VO 1370 lässt die Kontrolle nur einer zuständigen örtlichen Behörde genügen (Art. 5 Abs. 2 VO 1370), während § 108 Abs. 4 GWB wie die Richtlinie 2014/24/EU die „gemeinsame Kontrolle“ vorsieht und damit der Rechtsprechung des EuGH30 zur Inhouse-Vergabe durch mehrere öffentliche Auftraggeber entspricht.31 Eine Verschärfung der Inhouse-Vergabe im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs wollte der Gesetzgeber nicht erreichen; der Verweis ist insofern redaktionell fehlerhaft.32

II.Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 5 VO 1370 (§ 131 Abs. 2 Satz 2 GWB)

10§ 131 Abs. 2 Satz 2 GWB stellt klar, dass Art. 5 Abs. 5 und Art. 7 Abs. 2 VO 1370 weiterhin im Bereich der Eisenbahnverkehrsdienstleistungen anwendbar bleiben.33 Art. 5 Abs. 5 VO 1370 enthält mit einem Katalog von Notmaßnahmen ein erleichtertes Vergabeverfahren bei einer drohenden Unterbrechung der Verkehrsdienste („Notvergabe“). Art. 7 Abs. 2 VO 1370 sieht Bekanntmachungsverpflichtungen bei wettbewerblichen Verfahren und Direktvergaben vor (sog. Vorinformation). Die Bekanntmachungsverpflichtungen gelten allerdings nicht im Falle der Notvergabe (vgl. Art. 7 Abs. 2 VO 1370 a. E.). Weder die Notvergabe nach Art. 5 Abs. 5 VO 1370, noch die Bekanntmachungspflichten nach Art. 7 Abs. 2 VO 1370 stehen unter dem Vorbehalt des nationalen Rechts. Die Klarstellung des § 131 Abs. 2 Satz 2 GWB ist deshalb rein deklaratorisch.34

III.Weitere Direktvergabetatbestände nach VO 1370

11Die Direktvergabemöglichkeit nach Art. 5 Abs. 6 VO 1370 speziell für den Eisenbahnbereich wird von § 131 GWB nicht ausdrücklich erwähnt. Ebenso verhält es sich mit den übrigen eisenbahnspezifischen Direktvergabetatbeständen der VO 1370 (Art. 5 Abs. 3a, 4a und 4b VO 1370), wobei dies der nachträglichen Änderung der VO 1370 durch die am 23.12.2016 veröffentlichte VO 2016/2338 geschuldet ist. Nach Art. 5 Abs. 6 VO 1370 können die zuständigen Behörden – sofern dies nicht nach nationalem Recht untersagt ist – Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnverkehr direkt vergeben. Die Direktvergabe nach Art. 5 Abs. 6 VO 1370 hat in Deutschland bisher keine praktische Bedeutung gehabt; im Anwendungsbereich des GWB stand nationales Recht dem Direktvergabetatbestand entgegen.35 Daran soll sich auch künftig nichts ändern.36 Der Gesetzgeber hat dies mittelbar über § 131 Abs. 1 GWB klargestellt, wonach nur die dort genannten Verfahren zur Vergabe von Aufträgen über Personenverkehrsleistungen im Eisenbahnverkehr zulässig sind.37 Dies gilt entsprechend für die weiteren mit VO 2016/2338 eingeführten Direktvergabetatbestände (Art. 5 Abs. 3a, 4a, 4b VO 1370). Auch diesen steht mit § 131 GWB nationales Recht entgegen.

D.Übernahme des Personals (§ 131 Abs. 3 GWB)

12Nach Art. 4 Abs. 5 Satz 1 VO 1370 kann die zuständige Behörde unbeschadet des nationalen Rechts und des Unionsrechts, einschließlich der Tarifverträge zwischen den Sozialpartnern, den ausgewählten Betreiber eines öffentlichen Dienstes verpflichten, den Arbeitnehmern, die zuvor zur Erbringung der Dienste eingestellt wurden, die Rechte zu gewähren, auf die sie Anspruch gehabt hätten, wenn ein Übergang im Sinne der Richtlinie 2001/23/EG (umgesetzt durch § 613a BGB) erfolgt wäre (Rechtsfolgenanordnung). Dies stellt nun auch § 131 Abs. 3 GWB klar und übernimmt eine entsprechende Ermächtigung der zuständigen Behörden in das GWB-Vergaberecht.38 Zugleich ergibt sich aus der Regelung, dass der Anwendung von Art. 4 Abs. 5 VO 1370 kein nationales Recht entgegensteht.39 Umgesetzt werden kann die Verpflichtung des Neubetreibers durch Verwaltungsakt der zuständigen Behörde bzw. des öffentlichen Auftraggebers bei der Zuschlagserteilung oder – was praktikabler sein dürfte – durch Abgabe einer Selbstverpflichtungserklärung der Bieter im Vergabeverfahren.40 Mit der Verpflichtung treffen im Zuschlagsfall die Rechtsfolgen des § 613a BGB vollständig den neuen Betreiber.41 Dabei ist zu beachten, dass ein „echter“ Betriebsübergang nach der Entscheidung des EuGH in der Sache „Grafe u. a. ./. Südbrandenburger Nahverkehrs GmbH u. a.“ schon vorliegen kann, wenn zwar aus bestimmten Gründen (z. B. Ausschreibungsanforderungen an die eingesetzten Fahrzeuge) keine Betriebsmittel (z. B. Busse, Züge etc.) übernommen werden, aber der neue Betreiber (Ausschreibungsgewinner) einen wesentlichen Teil der Belegschaft des bisherigen Betreibers übernimmt und die Verkehre ohne Unterbrechung fortsetzt. Dann kommt es auf die „Rechtsfolgenanordnung“ nicht an; die Rechtsfolgen ergeben sich unmittelbar aus § 613a BGB.42

13Aus der Ausgestaltung als „Soll“-Vorschrift, die über die „Kann-Regelung“ in Art. 4 Abs. 5 VO 1370 hinausgeht, ergibt sich, dass nur in begründeten Ausnahmefällen bzw. bei Vorliegen eines sachlichen Grundes von einer entsprechenden Verpflichtung durch den öffentlichen Auftraggeber abgesehen werden darf (Regelfall).43 Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn der Zuschnitt des Personenverkehrsnetzes in Bezug auf Bedarf und Qualifikation erheblich vom bestehenden Status abweicht.44 Die Gesetzesbegründung nennt dafür beispielsweise Mehr- oder Minderleistungen durch Vergrößerung bzw. Verkleinerung von Netzen mit Auswirkungen auf den Personaleinsatz oder Änderungen in der Traktionsart.45 Das nationale Recht ist mit der Ausgestaltung als „Soll“-Vorschrift strenger als die VO 1370, die die Verpflichtung in das Ermessen der zuständigen Behörde stellt.46 Die Gestaltung bleibt aber hinter den Regelungen anderer EU-Länder zurück, die den Beschäftigungsübergang verpflichtend vorsehen.47 Diese kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens eingebrachte „Soll“-Regelung wird gleichwohl zu einer Änderung der deutschen Vergabepraxis führen, weil bisher der Beschäftigtenübergang eine absolute Ausnahme bildet.48

14Die Ausgestaltung als „Soll“-Vorschrift soll dadurch abgemildert werden, dass nur diejenigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu übernehmen sind, die für die Erbringung der übergehenden Verkehrsdienstleistung unmittelbar erforderlich sind (vgl. § 131 Abs. 3 Satz 2 GWB).49 Die „Erforderlichkeit“ richtet sich nach dem Bedarf des neuen Betreibers.50 Damit sollen dem Neubetreiber etwaige Wettbewerbsvorteile gesichert werden.51 Vom Übergang erfasst werden sollen nur operativ tätige Mitarbeiter bestimmter Tätigkeitsgruppen, die überwiegend und hinreichend lang in den entsprechenden Funktionen im Wettbewerbsnetz beschäftigt waren.52 Um Zuordnungsprobleme bei größeren Einheiten zu vermeiden, die ihr Personal auf verschiedenen Linien einsetzen, sollte der von dem Übergang erfasste Personenkreis schon in der Ausschreibung näher beschrieben sein.53

15Der öffentliche Auftraggeber soll nach § 131 Abs. 3 Satz 3 GWB Regelungen vorsehen, durch die eine missbräuchliche Anpassung tarifvertraglicher Regelungen zu Lasten des neuen Betreibers zwischen der Veröffentlichung der Auftragsbekanntmachung und der Übernahme des Betriebs ausgeschlossen wird. § 131 Abs. 3 Satz 3 GWB soll dem Fall vorbeugen, in dem der Altbetreiber kurz vor dem Auslaufen des Verkehrsvertrages zur Schädigung potentieller Neubetreiber ungünstige Tarifverträge abschließt. Der Neubetreiber wäre wegen der tarifvertraglichen Nachbindung gegenüber den übergehenden Arbeitnehmer(innen) des Altbetreibers an die neuen Tarifverträge gebunden. Denn sie werden nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Betreiber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Missbräuchliche Änderungen sollen zum Schutz des Neubetreibers deshalb nach dem Willen des Gesetzgebers keine Wirkung entfalten.54 Probleme dürfte es aber schon bereiten, eine „missbräuchliche Anpassung“ zu identifizieren. Im Lichte der Tarifautonomie dürfte nicht jede Anpassung in dem Zeitraum ab der Auftragsbekanntmachung per se „missbräuchlich“ sein. Vielmehr wird man verlangen müssen, dass Schädigungsabsicht vorliegt und diese z. B. dadurch nach außen tritt, dass die tarifvertragliche Neuregelung erheblich von branchenüblichen (repräsentativen) Tarifverträgen nach oben abweicht. Eine Regelung zur Vorbeugung missbräuchlicher Anpassungen könnte etwa darin liegen, den Altbetreiber vertraglich zum Unterlassen zu verpflichten bzw. eine solche Regelung von vornherein in die Verkehrsverträge zu integrieren. Die Tarifautonomie wird den Aufgabenträgern allerdings nur einen geringen Regelungsspielraum belassen.

16Wenn der Aufgabenträger den zukünftigen Betreiber zur Gewährung der Rechte nach § 613a BGB verpflichtet, so sind nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 VO 1370 in den Vergabeunterlagen und zusätzlich im öffentlichen Dienstleistungsauftrag die betreffenden Arbeitnehmer(innen) aufzuführen und transparente Angaben zu ihren vertraglichen Rechten und zu den Bedingungen zu machen, unter denen sie als in einem Verhältnis zu den betreffenden Diensten stehend gelten.55 Um diese Angaben machen zu können, steht dem öffentlichen Auftraggeber nach § 131 Abs. 3 Satz 4 GWB ein Auskunftsanspruch gegen den bisherigen Betreiber zu.56 Dieser hat nach Aufforderung durch den öffentlichen Auftraggeber alle Angaben zu den betreffenden Arbeitnehmer(innen) und deren vertraglichen Rechten und Bedingungen zu machen. Die ungenaue Verweisung („hierzu“) ist dem Gesetzgebungsverfahren geschuldet; die Regelung schloss ursprünglich an den Satz 1 des § 131 Abs. 3 GWB an.57 Bei der Veröffentlichung ist der Schutz personenbezogener Daten und Geschäftsgeheimnisse – etwa durch anonymisierte Mitteilung58 – zu berücksichtigen.

§ 132 GWBAuftragsänderungen während der Vertragslaufzeit

(1) 1Wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit erfordern ein neues Vergabeverfahren. 2Wesentlich sind Änderungen, die dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen öffentlichen Auftrag unterscheidet. 3Eine wesentliche Änderung liegt insbesondere vor, wenn

1. mit der Änderung Bedingungen eingeführt werden, die, wenn sie für das ursprüngliche Vergabeverfahren gegolten hätten,

a) die Zulassung anderer Bewerber oder Bieter ermöglicht hätten,

b) die Annahme eines anderen Angebots ermöglicht hätten oder

c) das Interesse weiterer Teilnehmer geweckt hätten,

2. mit der Änderung das wirtschaftliche Gleichgewicht des öffentlichen Auftrags zugunsten des Auftragnehmers in einer Weise verschoben wird, die im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehen war,

3. mit der Änderung der Umfang des öffentlichen Auftrags erheblich ausgeweitet wird oder

4. ein neuer Auftragnehmer den Auftragnehmer in einer anderen als den in Absatz 2 Nummer 4 vorgesehenen Fällen ersetzt.

(2) 1Unbeschadet Absatz 1 ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn

1. in den ursprünglichen Vergabeunterlagen klare, genaue und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind, die Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Auftragsänderungen enthalten, und sich aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändert,

2. zusätzliche Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen erforderlich geworden sind, die nicht in den ursprünglichen Vergabeunterlagen vorgesehen waren, und ein Wechsel des Auftragnehmers

a) aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann und

b) mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den öffentlichen Auftraggeber verbunden wäre,

3. die Änderung aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte, und sich aufgrund der Änderung der Gesamtcharakter des Auftrags nicht verändert oder

4. ein neuer Auftragnehmer den bisherigen Auftragnehmer ersetzt

a) aufgrund einer Überprüfungsklausel im Sinne von Nummer 1,

b) aufgrund der Tatsache, dass ein anderes Unternehmen, das die ursprünglich festgelegten Anforderungen an die Eignung erfüllt, im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung, wie zum Beispiel durch Übernahme, Zusammenschluss, Erwerb oder Insolvenz, ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, sofern dies keine weiteren wesentlichen Änderungen im Sinne des Absatzes 1 zur Folge hat, oder

c) aufgrund der Tatsache, dass der öffentliche Auftraggeber selbst die Verpflichtungen des Hauptauftragnehmers gegenüber seinen Unterauftragnehmern übernimmt.

2In den Fällen der Nummer 2 und 3 darf der Preis um nicht mehr als 50 Prozent des Werts des ursprünglichen Auftrags erhöht werden. 3Bei mehreren auf­ein­ander folgenden Änderungen des Auftrags gilt diese Beschränkung für den Wert jeder einzelnen Änderung, sofern die Änderungen nicht mit dem Ziel vorgenommen werden, die Vorschriften dieses Teils zu umgehen.

(3) 1Die Änderung eines öffentlichen Auftrags ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens ist ferner zulässig, solange sich der Gesamtcharakter des Auftrags nicht ändert und der Wert der Änderung

1. die jeweiligen Schwellenwerte nach § 106 nicht übersteigt und

2. bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen nicht mehr als 10 Prozent und bei Bauaufträgen nicht mehr als 15 Prozent des ursprünglichen Auftragswertes beträgt.

2Bei mehreren aufeinander folgenden Änderungen ist der Gesamtwert der Änderungen maßgeblich.

(4) Enthält der Vertrag eine Indexierungsklausel, wird für die Wertberechnung gemäß Absatz 2 Satz 2 und 3 sowie gemäß Absatz 3 der höhere Preis als Referenzwert herangezogen.

(5) Änderungen nach Absatz 2 Nummer 2 und 3 sind im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt zu machen.

Schrifttum: Brüning/Pfannkuch, Neuausschreibungspflicht bei Vertragsänderung, VergabeR 2015, 144 ff.; Greb/Stenzel, Die nachträgliche Vertragsanpassung als vergaberechtsrelevanter Vorgang, NZBau2012, 404 ff.; Frenz, Ausschreibungspflicht wesentlicher Vertragsverlängerungen und -änderungen, NZBau 2017, 323 ff.; Hölzl, Zur Frage der primär- und vergaberechtlichen Relevanz von Vergleichen im öffentlichen Auftragswesen, NZBau 2014, 704 ff.; Krohn, Vertragsänderungen und Vergaberecht – Wann besteht eine Pflicht zur Neuausschreibung?, NZBau 2008, 619 ff.; Kulartz/Duikers, Ausschreibungspflicht bei Vertragsänderungen, VergabeR 2008, 728 ff.; Kunde, Nennung von Vertragsanpassungsklauseln in Auftragsbekanntmachung, NZBau 2014, 550 ff.; Malmendier/Wild, Vertragsänderungen versus Vergaberecht: Möglichkeiten und Grenzen der Änderung von ausschreibungspflichtigen Verträgen bei Leistungsstörungen, VergabeR 2014, 12 ff.; Queisner, Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit, VergabeR 2017, 299 ff.; Rosenkötter/Fritz, Vertragsänderungen nach den neuen Richtlinien, VergabeR 2014, 290 ff.; Scharen, Vertragslaufzeit und Vertragsänderung als vergaberechtliche Herausforderung?, NZBau 2009, 679 ff.; Wagner/Jürschik, Die Vergaberechtswidrigkeit von Verträgen wegen wesentlicher Vertragsänderung und deren Folgen, VergabeR 2012, 401 ff.; Ziekow, Auftragsänderungen nach der Auftragsvergabe, VergabeR 2016, 278 ff.

Übersicht Rn.
A. Allgemeines 1–6
B. Definition der „wesentlichen Änderung“ (§ 132 Abs. 1 Satz 2 GWB) 7, 8
C. Legaldefinierte Fallgruppen einer wesentlichen Auftragsänderung(§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1–4 GWB) 9–19
I. Einführung von wesentlich neuen Vergabebedingungen (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GWB) 9–12
II. Verschiebung des wirtschaftlichen Gleichgewichts (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 GWB) 13, 14
III. Erhebliche Ausweitung des Auftragsumfangs (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB) 15–17
IV. Wechsel des Auftragnehmers (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB) 18–19
D. Legaldefinierte Fallgruppen einer zulässigen Auftragsänderung (§ 132 Abs. 2 Satz 1 GWB) 20–38
I. Überprüfungsklauseln und Optionen im ursprünglichen Vertrag (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB) 21–25
II. Erforderlichkeit zusätzlicher Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB) 26–28
III. Änderung aufgrund nicht vorhersehbarer Umstände (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB) 29–34
IV. Zulässiger Wechsel des Auftragnehmers (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GWB) 35–38
E. Grenzen einer zulässigen Änderung (§ 132 Abs. 2 Satz 2 und 3 GWB) 39, 40
F. De-minimis-Klausel (§ 132 Abs. 3 GWB) 41–45
G. Wertberechnung bei Indexierung des Vertrages (§ 132 Abs. 4 GWB) 46
H. Bekanntmachungspflichten (§ 132 Abs. 5 GWB) 47

A.Allgemeines

1Der Beschaffungsbedarf der öffentlichen Auftraggeber wird nicht nur durch den Abschluss neuer Verträge mit Wirtschaftsteilnehmern gedeckt, sondern auch dadurch, dass bereits bestehende und praktizierte Verträge inhaltlich geändert und erweitert werden oder ihre Laufzeit verlängert wird. Die Frage der Ausschreibungspflichtigkeit öffentlicher Verträge stellt sich deshalb nicht nur im Falle des Neuabschlusses eines Vertrags, sondern auch im Falle solcher Vertragsänderungen oder -verlängerungen. Keine Rolle spielt es dabei, ob ein bestehender Vertrag durch eine Zuschlagserteilung im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung zustande gekommen ist oder nicht.

2Die Einbeziehung der Änderung und Verlängerung bestehender öffentlicher Verträge in das Vergaberechtsregime stellt die einzige, allerdings praktisch überaus relevante Ausnahme von der Regel dar, dass der zeitliche Geltungsanspruch des Vergaberechts grundsätzlich mit Erteilung des Zuschlags an den bevorzugten Bieter endet und die Implementierung des damit geschlossenen öffentlichen Vertrags den allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen unterliegt.1 Diese Ausweitung des Vergaberechts über die Phase der Vertragsanbahnung hinaus erfährt ihre Rechtfertigung aber dadurch, dass es durch eine wiederholte vergabefreie Vertragsverlängerung und/oder Vertragsänderung ein Leichtes wäre, Lieferbeziehungen der öffentlichen Auftraggeber dem Wettbewerb dauerhaft zu entziehen.2 Der Geltungsanspruch des Vergaberechts reicht allerdings nicht so weit, dass öffentliche Auftraggeber verpflichtet wären, einen – auch bereits längerfristig – bestehenden Vertrag zu kündigen, um einen vorzeitigen Wettbewerb zum Neuabschluss unter zwischenzeitlich veränderten Verhältnissen am Beschaffungsmarkt zu ermöglichen.3

3Allerdings bestand von Anfang an Einigkeit darin, dass die Änderung eines bestehenden öffentlichen Vertrages ein gewisses Gewicht aufweisen muss, um die Pflicht zur Beendigung des laufenden Vertrages und zur Ausschreibung des geänderten bzw. zeitlich andauernden Bedarfs der öffentlichen Hand zu rechtfertigen und den öffentlichen Auftraggebern ein Mindestmaß an Flexibilität zur Anpassung bestehender Verträge an geänderte Rahmenbedingungen einzuräumen, derer sie insbesondere bei längerfristig eingegangenen Leistungsbeziehungen mit Dritten bedürfen. Deshalb erfordern, wie nunmehr in gem. § 132 Abs. 1 Satz 1 GWB geregelt, nur wesentliche Änderungen eines öffentlichen Vertrages während der Vertragslaufzeit ein neues Vergabeverfahren. Zur Fixierung der Grenzlinie zwischen vergaberechtlich erheblichen und unerheblichen Vertragsänderungen entwickelte die Rechtsprechung als Faustformel den Grundsatz, dass die Änderung eines bestehenden öffentlichen Vertrages als ausschreibungspflichtig qualifiziert werden muss, wenn sie in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen bei wertender Betrachtung einer Neuvergabe gleichkommt. Mehr Klarheit hierzu schaffte erst eine Entscheidung des EuGH vom 19.6.2008 – Pressetext,4 in der der EuGH erstmals zu dieser grundsätzlichen Frage Stellung nahm und für die Vergabepraxis praktikable Abgrenzungskriterien entwickelte. Die vom EuGH in der genannten Entscheidung und in einer Reihe weiterer Entscheidungen zu diesem Grundsatzthema5 anhand einer Reihe von Fallgruppen ausdifferenzierten Leitlinien hat der Unionsgesetzgeber nunmehr weitgehend unverändert in Art. 72 VRL in das geschriebene Recht übernommen. Der deutsche Gesetzgeber hat wiederum Art. 72 VRL eins zu eins in § 132 GWB in das deutsche Recht umgesetzt.

4Für Sektorenauftraggeber und Konzessionsauftraggeber gilt § 132 GWB grundsätzlich entsprechend. Allerdings gilt für Sektorenauftraggeber die Wertbeschränkung nach § 132 Abs. 2 Satz 2 und 3 GWB nicht, vgl. § 142 Nr. 3 GWB. Das Gleiche gilt für die Vergabe von Konzessionen, die Tätigkeiten nach § 102 Abs. 2 bis 6 GWB betreffen, vgl. § 154 Nr. 3 a) GWB. Die Obergrenze des § 132 Abs. 3 Nr. 2 beträgt für Bau- und Dienstleistungskonzessionen einheitlich 10 % des Wertes der ursprünglichen Dienstleistung, § 154 Nr. 3 b) GWB.

5Nachträgliche Änderungen eines öffentlichen Vertrages können bereits in einem sehr frühen Stadium der Vertragsdurchführung vorgenommen werden. So erkannte der EuGH in einem Fall, in dem der Auftraggeber zwischen der Zuschlagsentscheidung und dem Vertragsschluss die Änderung der Zusammensetzung einer Arbeitsgemeinschaft genehmigte, auf eine wesentliche Änderung des Vertrages, die nicht ohne eine Neuausschreibung hätte realisiert werden können6.

6Auch wenn die Parteien eines öffentlichen Vertrages die Modalitäten ihrer Leistungsbeziehungen nicht durch eine einvernehmliche Änderung des Vertrages nachträglich modifizieren, sondern zur Behebung von Streitigkeiten über den Vertragsinhalt und die Vertragsdurchführung einen Vergleichsvertrag schließen und darin von Regelungen des Ursprungsvertrages abweichen, kann hierin eine vergaberechtlich unzulässige Vertragsänderung liegen7. Auch der Begriff der wesentlichen Vertragsänderung ist nach Maßgabe der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts funktional ohne Rücksicht auf Rechtsförmlichkeiten zu definieren.

B.Definition der „wesentlichen Änderung“ (§ 132 Abs. 1 Satz 2 GWB)

7Wann eine wesentliche Änderung eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit vorliegt, definiert der Gesetzestext in § 132 Abs. 1 Satz 2 GWB in Umsetzung des entsprechenden Richtlinientextes. Danach sind Änderungen wesentlich, die „dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen öffentlichen Auftrag unterscheidet“. Diese tautologisch anmutende Definition bleibt in ihrer Aussagekraft nicht nur hinter der bereits oben wiedergegebenen, ebenfalls zirkelschlüssigen8 Faustformel der nationalen obergerichtlichen Rechtsprechung zurück9, sondern auch und vor allem hinter der, mit der der EuGH in seiner Pressetext-Entscheidung die Grenze zwischen wesentlichen und unwesentlichen Vertragsänderungen zu ziehen versucht hat. Der EuGH hatte in dieser Entscheidung klargestellt, dass Änderungen der Bestimmungen eines öffentlichen Auftrags während seiner Geltung als Neuvergabe anzusehen sind, wenn sie „wesentlich andere Merkmale aufweisen als der ursprünglich andere Auftrag und damit den Willen der Parteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen dieses Vertrages erkennen lassen“.10 Obwohl die Definition dies nahelegen könnte, hängt die Feststellung, ob eine Änderung wesentlich ist, nicht vom gemeinsamen Willen der Parteien ab, eine Änderung als wesentlich zu qualifizieren, sondern ist allein anhand einer objektiven Bewertung vorzunehmen, ob und inwieweit der geänderte Vertrag zu einer Veränderung des Kreises der Bieter bzw. Bewerber geführt hätte oder hätte führen können.11

8Eine für die Vergabepraxis handhabbare und rechtssichere Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Änderungen lässt sich daher nur anhand der Beschreibung konkreter Szenarien bzw. Fallkonstellationen treffen, bei deren Vorliegen unter Anlegung des Maßstabs der Intensität der Auswirkungen auf einen Wettbewerb eine wertende Zuordnung zu den Kategorien wesentlich oder unwesentlich erfolgen kann. Dieser vom EuGH entwickelten Technik bedient sich der Gesetzgeber in Umsetzung entsprechender Regelungen in der VRL in § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1–4 GWB, in denen Fallgruppen einer wesentlichen Auftragsänderung, und in § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1–4 GWB, in denen Fallgruppen einer zulässigen vergaberechtsfreien Auftragsänderung legaldefiniert werden.

C.Legaldefinierte Fallgruppen einer wesentlichen Auftragsänderung

(§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1–4 GWB)

I.Einführung von wesentlich neuen Vergabebedingungen (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GWB)

9Jeder öffentliche Auftrag ist seinem Inhalt und Gegenstand nach abschließend definiert durch die Bedingungen, die der öffentliche Auftraggeber der Ausschreibung zugrunde gelegt hat.12 Eine Änderung des Vertrages – sowohl hinsichtlich seiner Laufzeit als auch seines Gegenstandes – setzt somit voraus, dass der Auftraggeber diese ursprünglichen Vergabebedingungen während der Laufzeit nachträglich ändert. Die erste Fallgruppe einer wesentlichen Auftragsänderung bestimmt der Gesetzgeber daher in § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Buchst. a) bis c) GWB mittels der Auswirkungen, die die nachträglichen Änderungen der Vergabebedingungen aller Voraussicht nach auf den Vergabewettbewerb gehabt hätten, wären sie bereits zu dieser Zeit verbindlich vorgegeben gewesen. Der Grad und die Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Auswirkungen bemisst sich daran, ob und inwieweit bei Zugrundelegung der geänderten Vertragsbedingungen in der ursprünglichen Ausschreibung

– die Zulassung anderer Bewerber oder Bieter möglich gewesen wäre,

– der Auftraggeber das Angebot eines anderen Bewerbers oder Bieters hätte annehmen können oder ggf. sogar müssen oder

– das Interesse weiterer Wirtschaftsteilnehmer zur Beteiligung an der Ausschreibung geweckt worden wäre.

10Eine unter Auslegung dieser Maßstäbe wesentliche Vertragsänderung liegt deshalb immer dann vor, wenn der Umfang der geschuldeten Leistungen einschließlich der korrespondierenden Gegenleistungen durch die Hinzufügung weiterer Leistungselemente auf neue, bislang nicht geschuldete Leistungen ausgeweitet wird,13 z. B. durch die Erweiterung eines Vertrages über die Abfallentsorgung um weitere Abfallfraktionen oder durch die Ersetzung von Leistungselementen durch alternative Leistungselemente, die an deren Stelle treten.14 Solche Änderungen führen zwangsläufig Bedingungen ein, die potenziell einen anderen Bieterkreis angesprochen hätten, wenn sie bereits zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestanden hätten. Der Auftraggeber hätte wahrscheinlich andere Angebote erhalten und seine Zuschlagsentscheidung auf anderer Grundlage treffen müssen.

11Das Gleiche hat zu gelten bei einem Austausch von Leistungselementen, auch wenn dieser sich innerhalb des Grundtyps des Vertrags, zum Beispiel eines Entsorgungsvertrages oder eines IT-Vertrages, bewegt.

12Lediglich geringfügige Steigerungen oder Reduzierungen des Umfangs vertragsgegenständlicher Leistungen verändern das Preis-Leistungs-Verhältnis dagegen nicht wesentlich und stellen daher keinen vergaberechtsrelevanten Vorgang dar.15 Von einer Geringfügigkeit einer Steigerung des Leistungsumfangs ist auszugehen, wenn diese sich unterhalb der in § 132 Abs. 3 GWB normierten Geringfügigkeitsschwellen bewegt.16 Ebenfalls unterhalb der Wesentlichkeitsschwelle verbleiben geringfügige Änderungen in den Modalitäten der Vertragsdurchführung (z. B. die Aufstellung neuer technisch verbesserter Abfallbehälter oder die Änderung von Fristen für die Ausübung vertraglicher Rechte).

II.Verschiebung des wirtschaftlichen Gleichgewichts (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 GWB)

13Eine Vertragsänderung ist auch dann wesentlich, wenn sie das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrages in einer im ursprünglichen Vertrag nicht vorgesehenen Weise zugunsten des Auftragnehmers ändert. Hiermit sind vor allem nachträgliche Erhöhungen des Auftragspreises erfasst, die zu einer Begünstigung des Auftragnehmers führen, der bei der ursprünglichen Ausschreibung mit dem erhöhten Preis möglicherweise nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hätte. Das Gleiche gilt, wenn der Auftraggeber nachträglich auf bestimmte Leistungselemente verzichtet, ohne dass dies mit einer entsprechenden Reduzierung des Auftragspreises einhergeht, oder der Auftraggeber zugunsten des Auftragnehmers nachträglich auf wesentliche Rechte aus dem Vertrag verzichtet.

14Eine nachträgliche Senkung des Auftragspreises oder die Verbesserung sonstiger Konditionen des Vertrages sind dagegen vergaberechtlich grundsätzlich nicht als wesentliche Änderung einzustufen, weil der Auftragnehmer mit dem in der ursprünglichen Ausschreibung gebotenen Preis ohnehin bereits der wirtschaftlichste Bieter gewesen ist und so eine nachträgliche Wettbewerbsverzerrung zu Lasten von Mitbietern regelmäßig nicht eintreten kann.17 Anders ist dies allerdings zu beurteilen, wenn der Auftragnehmer mit dem Auftraggeber eine Preissenkung vereinbart, um eine ihm ansonsten drohende Kündigung und eine Neuausschreibung des Vertrages abzuwenden18 oder die Preisreduzierung im Zusammenhang mit weiteren nachträglichen Änderungen des Vertrages steht, die in ihrer Gesamtschau zu einer Wettbewerbsverzerrung führen19.

III.Erhebliche Ausweitung des Auftragsumfangs (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB)

15Wird der Umfang der geschuldeten Leistungen um Leistungen erweitert, die im ursprünglichen Leistungsspektrum nicht enthalten waren, liegt stets eine ausschreibungspflichtige wesentliche Vertragsänderung vor. Dies gilt unabhängig davon, ob der absolute Wert der Vertragsänderung für sich genommen den maßgeblichen Schwellenwert überschreitet.20 § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GWB stellt in der Sache damit einen Unterfall der nachträglichen Einführung von wesentlichen neuen Vertragsbedingungen dar, die bereits durch § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GWB als grundsätzlich wesentliche Auftragsänderung definiert wird. Wird nämlich nachträglich das Leistungsspektrum durch die Erweiterung des Auftragsgegenstandes verändert, so rechtfertigt dies allein die Feststellung, dass eine Ausschreibung mit dem erweiterten Leistungsspektrum wahrscheinlich einen anderen Bieterkreis angesprochen und zu anderen, speziell darauf zugeschnittenen Angeboten geführt hätte.

16Wird zwar nachträglich keine neue Leistung in das Leistungsspektrum des Vertrages eingefügt, jedoch der Umfang einer von Anfang an geschuldeten Leistung nicht nur geringfügig ausgedehnt, so liegt ebenfalls ein Fall einer wesentlichen Vertragsänderung vor. Hätte der größere Umfang der vom Auftraggeber benötigten Leistung nämlich bereits der ursprünglichen Ausschreibung zugrunde gelegen, so wäre zwar möglicherweise kein anderer Kreis von Wirtschaftsteilnehmern angesprochen worden, jedoch wäre die Grundlage der Preiskalkulation der Bieter eine andere gewesen. Zudem hätten sich solche Bieter beteiligen können, denen der ursprüngliche Auftragsumfang zu gering war und die aus diesem Grunde von der Abgabe eines Angebots abgesehen haben. Der Auftraggeber hätte demnach auch in diesem Fall seine Zuschlagsentscheidung auf der Basis einer anderen Auftragsstruktur treffen müssen.

16aAuch im umgekehrten Fall einer nachträglichen Verringerung des Leistungsspektrums oder einer nicht nur geringfügigen Reduzierung des Umfangs einer von Anfang an geschuldeten Leistung liegt eine wesentliche Änderung eines öffentlichen Auftrags und ein weiterer Unterfall des § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GWB vor, weil der reduzierte Auftrag, wäre er von Anfang an nur mit dem verringerten Umfang ausgeschrieben worden, für eine größere Anzahl von Wirtschaftsteilnehmern durchführbar und damit wirtschaftlich interessant gewesen wäre.21 Zudem hätten bei reduziertem Auftragsumfang die vom Auftraggeber gestellten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit gemäß des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 97 Abs. 1 Satz GWB) entsprechend reduziert werden können oder sogar müssen. Die Notwendigkeit der Neuausschreibung eines im Umfang reduzierten Vertrages entfällt auch dann nicht, wenn die nachträgliche Reduzierung auf einem Vergleich mit dem Auftragnehmer zur Überwindung von Schwierigkeiten bei der Auftragsdurchführung beruht.22 Nur wenn die Reduzierung des Auftragsumfangs aufgrund von Umständen erforderlich geworden ist, die der Auftraggeber auch bei Einhaltung seiner Sorgfaltspflichten zum Zeitpunkt der ursprünglichen Ausschreibung nicht vorhersehen konnte, liegt ein Fall einer ohne Neuausschreibung zulässigen Auftragsänderung gemäß § 132 Abs. 2 Satz 3 GWB vor.23

16bAuftraggeber können demnach der Pflicht zur Neuausschreibung im Falle nachträglicher wesentlicher Änderungen des Auftragsumfangs entgegenwirken, wenn sie bei der Bestimmung des Auftragsgegenstandes in den Vertragsunterlagen Anpassungsklauseln vorsehen und sich darin Möglichkeiten vorbehalten, nach der Auftragsvergabe gewisse Änderungen vorzunehmen.

17Eine erhebliche Ausweitung des Auftragsumfangs kann auch durch eine Vertragsverlängerung erfolgen, sofern diese im Ursprungsvertrag nicht bereits als Option angelegt oder vorgesehen war. Die Verlängerung stellt in diesem Fall den Abschluss eines neuen Vertrages dar, der einer Neuvergabe bedarf.24

IV.Wechsel des Auftragnehmers (§ 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB)

18Die früher lebhaft umstrittene Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Austausch des Auftragnehmers während der Laufzeit des Vertrages eine wesentliche, die Pflicht zur Neuausschreibung auslösende Änderung des Vertrages darstellt, ist durch die jüngste Vergaberechtsreform i. S. d. Rechtsprechung des EuGH, insbesondere seiner „Pressetext“-Entscheidung geklärt worden. Danach ist die Ersetzung des ursprünglichen Auftragnehmers durch einen neuen Auftragnehmer grundsätzlich als erneute Auftragsvergabe zu qualifizieren und demnach ausschreibungspflichtig.25 Eine Ersetzung des ursprünglichen Auftragnehmers und damit eine wesentliche Vertragsänderung liegt z. B. dann vor, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer die Kündigung wegen mangelhafter Ausführung des Vertrages erklärt und den Auftrag anschließend von einem anderen, in der ursprünglichen Ausschreibung unterlegenen Wirtschaftsteilnehmer ausführen lässt.26 Dieser nunmehr in § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB gesetzlich verankerte Grundsatz verweist jedoch auf eine Reihe von Fallgestaltungen, die in § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GWB geregelt sind und bei deren Vorliegen der Austausch der Auftragnehmer ausnahmsweise ohne eine neue Ausschreibung erfolgen kann.

18aWird ein Vertrag nach der Zuschlagserteilung auf eine (mittelbare) Schwestergesellschaft übergeleitet, liegt ein Fall einer Unternehmensumstrukturierung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. b GWB vor.27 Einer Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens bedarf es deshalb nicht, wenn auch die Schwestergesellschaft die ursprünglich festgelegten Eignungskriterien erfüllt und die Überleitung des Vertrages nicht mit weiteren wesentlichen Änderungen des Auftrags einhergeht.

19Vom Grundsatz des § 132 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 GWB nicht erfasst ist der Austausch von Nachunternehmern während eines laufenden Vertrages. Ein solcher Nachunternehmeraustausch ist in der Regel ohne eine neue Ausschreibung problemlos möglich, denn dieser wird bereits durch die Regelungen des § 4 Nr. 4 VOL/B und§ 4 Abs. 8 VOB/B, die zwingender Bestandteil öffentlicher Verträge sind, unter der Voraussetzung erlaubt, dass der Auftraggeber dies schriftlich genehmigt.28 Aufgrund des lediglich untergeordneten Leistungsanteils, den ein Nachunternehmer im Zuge der Auftragserfüllung erbringt, stellt ein Nachunternehmerwechsel außerdem auch der Sache nach regelmäßig keine wesentliche Auftragsänderung dar. Die Rechtsprechung hat deshalb auch nur in sehr speziell gelagerten Fällen dem Wechsel eines Nachunternehmers die Qualität einer wesentlichen Vertragsänderung zuerkannt, etwa dann, wenn die Heranziehung eines bestimmten Nachunternehmers anstelle eines anderen unter Berücksichtigung der wesentlichen Merkmale der betreffenden Leistung ein ausschlaggebendes Motiv für den Abschluss des Vertrages war.29

D.Legaldefinierte Fallgruppen einer zulässigen Auftragsänderung (§ 132 Abs. 2 Satz 1 GWB)

20Weitere Rechtsklarheit in Bezug auf die Grenzziehung zwischen wesentlichen, die Pflicht zu einer Neuausschreibung begründenden, und zulässigen und damit vergabefrei zu realisierenden Änderungen eines laufenden Vertrages schaffen die Regelungen des § 132 Abs. 2 Satz 1 GWB, mit denen die in Art. 72 Abs. 1 VRL legaldefinierten Fallgruppen einer zulässigen, d. h. vergabefreien Änderung laufender Verträge in das deutsche Recht umgesetzt werden. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Ausnahmen von der Pflicht zur Neuausschreibung vor, ist eine Änderung ohne Neuausschreibung auch dann zulässig, wenn sie nach ihrer Art und ihrem Inhalt materiell die Merkmale einer wesentlichen Änderung i. S. d. § 132 Abs. 1 Satz 3 GWB erfüllt.

I.Überprüfungsklauseln und Optionen im ursprünglichen Vertrag (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB)

21Gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB werden zunächst solche Änderungen eines bestehenden Vertrages von der Ausschreibungspflicht ausgenommen, die bereits im Vertrag selbst als dessen integraler Bestandteil vorgesehen oder angelegt waren. Im Gesetz werden Vertragsbestimmungen, die eine spätere inhaltliche Änderung oder eine zeitliche Verlängerung des Vertrages zulassen oder bereits vorsehen, zusammenfassend als Überprüfungsklauseln oder Optionen bezeichnet. Hierzu zählen etwa Preisanpassungsklauseln, nach denen der Preis für eine vertragliche Leistung während der Vertragslaufzeit geändert werden kann,30 ebenso wie Klauseln zur Verlängerung der Vertragslaufzeit. Durch derartige Klauseln wird der ausgeschriebene Vertrag lediglich ausgeführt, nicht geändert.

22Die Wirkung einer Befreiung vom Ausschreibungszwang tritt nur dann ein, wenn die Überprüfungsklauseln oder Optionen des Ursprungsvertrages klar, genau und eindeutig formulierte Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Auftragsänderungen enthalten.31 Lediglich allgemein gehaltene Sprech- oder Anpassungsklauseln erfüllen diese Anforderungen nicht, es fehlt ihnen an der erforderlichen vergaberechtlichen Transparenz, um eine Dispensierung von der Ausschreibungspflicht begründen zu können. Auch wenn Überprüfungsklauseln oder Optionen dem öffentlichen Auftraggeber im Ergebnis ein ungebundenes Ermessen im Hinblick auf die Herbeiführung einer Änderung oder deren Art und Umfang einräumen, scheiden sie als Grundlage für eine zulässige vergabefreie Vertragsänderung aus. Der Auftraggeber muss daher große Sorgfalt walten lassen, wenn er sicherstellen will, dass durch hinreichend konkret formulierte Vertragsklauseln ein ausgeschriebener Vertrag rechtssicher an sich später ändernde Rahmenbedingungen vergabefrei angepasst werden kann.

23Umstritten ist, ob und inwieweit der Auftraggeber Änderungsvorbehalte bereits in der Bekanntmachung erwähnen und ggf. inhaltlich umreißen muss. Dies wird z. T. mit dem Argument verneint, dass hierin eine vom Gesetz nicht geforderte formelle Anforderung gestellt werde.32 Demgegenüber hat die obergerichtliche Rechtsprechung eine Pflicht des Auftraggebers bejaht, Änderungsvorbehalte bereits in der Bekanntmachung anzugeben und inhaltlich so weit zu beschreiben, dass sich ein Bewerber oder Bieter eine Vorstellung von möglichen späteren Veränderungen des Vertragsinhalts machen kann.33 Im Interesse einer größtmöglichen Transparenz und Rechtssicherheit einer Ausschreibung kann Auftraggebern nur empfohlen werden, i. S. d. wiedergegebenen Linie der Vergaberechtsprechung zu verfahren.

24Verbleiben Vertragsänderungen im Rahmen einer wirksamen und hinreichend konkreten Überprüfungsklausel oder Option, so unterliegen sie wertmäßig im Gegensatz zu anderen Fällen einer zulässigen vergaberechtsfreien Vertragsänderung keiner pauschalen Obergrenze. Die einzige Schranke für eine Vertragsänderung per Überprüfungsklausel oder Option besteht darin, dass sich durch die Änderung der Gesamtcharakter des Vertrages nicht ändern darf. Eine weitere Schranke hat die Rechtsprechung für den Fall angenommen, dass in einer Erweiterungsklausel die Möglichkeit einer unbegrenzten Steigerung der nach dem Vertrag zu erbringenden Leistung vorgesehen ist.34

25Insbesondere lässt sich eine wertmäßige Beschränkung von Optionen oder Überprüfungsklauseln auch nicht durch eine Übertragung der Rechtsprechung zu Bedarfs- oder Eventualpositionen begründen.35 Auch in diesem Fall war die Möglichkeit einer Änderung für alle Bieter erkennbar und konnte bei der Kalkulation des Preises berücksichtigt werden.

II.Erforderlichkeit zusätzlicher Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB)

26Insbesondere bei der Abwicklung komplexerer Beschaffungsvorhaben kann der Fall eintreten, dass der Auftraggeber zusätzliche, in den ursprünglichen Vergabeunterlagen, nicht enthaltene Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen benötigt, um das Beschaffungsziel zu erreichen. Wäre der Auftraggeber gezwungen, allein aus diesem Anlass eine Neuausschreibung durchzuführen, könnte dies in vielen Fällen zu erheblichen, auch in Ansehung wettbewerblicher Belange nicht zu rechtfertigenden finanziellen und zeitlichen Nachteilen führen. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 GWB sieht deshalb die Möglichkeit vor, dass der Auftraggeber zusätzlichen Bedarf im Wege einer Änderung des ursprünglichen Vertrages decken kann, ohne dafür ein neues Vergabeverfahren durchführen zu müssen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Beauftragung eines anderen Auftragnehmers mit der Erbringung zusätzlich benötigter Leistungen aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) GWB) oder mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den öffentlichen Auftraggeber verbunden wäre (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b) GWB).

27Eine Beauftragung des bereits gebundenen Auftragnehmers mit zusätzlichen Leistungen ist beispielsweise dann unverzichtbar, wenn der Auftraggeber darauf angewiesen ist, dass die Zusatzleistungen austauschbar und technisch kompatibel mit den bereits in den ursprünglichen Vergabebedingungen definierten Leistungen sind36 und ein neuer Auftragnehmer diese nicht oder nur mit unverhältnismäßigem technischen oder wirtschaftlichen Aufwand bereitstellen könnte. Gemäß des Grundsatzes, dass der Wettbewerb Mittel für die öffentliche Beschaffung ist und nicht umgekehrt, soll der Auftraggeber durch die Möglichkeit der vergabefreien Beschaffung von Mehr- oder Zusatzleistungen davor bewahrt werden, Nachteile und Schwierigkeiten bei der Nutzung der beschafften Leistungen und finanziellen Mehraufwand zu Lasten der öffentlichen Hand in Kauf nehmen zu müssen, nur um dem Wettbewerbsgrundsatz Genüge zu tun. Der Inanspruchnahme dieses Ausnahmetatbestandes werden allerdings Grenzen gesetzt. Diese werden überschritten, wenn der Auftraggeber vergabefreie Zusatzbeauftragungen lediglich aus Beschleunigungs- und Vereinfachungsgründen vornimmt oder um eigene Managementfehler zu kaschieren.

28Für die vergabefreie Beschaffung von Mehr- oder Zusatzleistungen setzt § 132 Abs. 2 Satz 2 GWB eine pauschale Obergrenze von 50 % des ursprünglichen Auftragswerts fest.37

III.Änderung aufgrund nicht vorhersehbarer Umstände (§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB)

29Der Ausnahmetatbestand des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB soll dem öffentlichen Auftraggeber die Flexibilität verschaffen, derer er bedarf, wenn er während der Vertragsdurchführung Umständen ausgesetzt ist, die eine Änderung des Ursprungsvertrages zwingend erforderlich machen, um das Vertragsziel zu erreichen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass solche externen Umstände für den Auftraggeber auch bei Anwendung der von ihm zu erwartenden Sorgfalt nicht vorhersehbar waren. Dass der Unionsgesetzgeber die Hürden für die Inanspruchnahme dieses Ausnahmetatbestandes nicht eben niedrig setzen will, geht aus folgender Definition von unvorhersehbaren Umständen im Erwägungsgrund (109) der VRL hervor:

30„Unvorhersehbare Umstände“ sind Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch den öffentlichen Auftraggeber unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Projekts, der bewährten Praxis und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können38.

31Für die rechtssichere Inanspruchnahme dieses Ausnahmetatbestandes muss der öffentliche Auftraggeber damit eine Reihe von Nachweisen führen, nämlich dass

– er die Vorbereitung und Durchführung der Ausschreibung mit der praxisüblichen Sorgfalt betrieben hat,

– er aufgrund der Art und Merkmale des spezifischen Beschaffungsvorhabens auch unter Berücksichtigung der zu fordernden Praxiserfahrung nicht mit dem Eintritt von Umständen rechnen musste, auf die er später reagieren musste,

– die antizipierende Berücksichtigung der später eingetretenen Umstände einen personellen oder finanziellen Aufwand erfordert hätte, der in keinem vernünftigen wirtschaftlichen Verhältnis zu dem Nutzen der präventiven Ausschaltung eines relativ unwahrscheinlichen Risikos gestanden hätte oder

Vergaberecht

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