Читать книгу Vergaberecht - Corina Jürschik - Страница 105
Оглавление3Zugleich dient die Eignungsprüfung der Gleichbehandlung der Bewerber und Bieter. Die Angebote können nur sinnvoll miteinander verglichen werden, wenn sichergestellt ist, dass sämtliche Bieter geeignet sind, die Leistung auch zu erbringen, und sich der Auftraggeber auf eine ordnungsgemäße Ausführung verlassen kann. Angebote nicht geeigneter Bieter sind mit denen geeigneter Bieter nicht vergleichbar, da die ordnungsgemäße Leistungserbringung nicht gleichermaßen sichergestellt ist. Die geeigneten Bieter haben einen Anspruch auf Gleichbehandlung, sodass die Vorschriften zur Eignung der teilnehmenden Unternehmen auch gem. § 97 Abs. 6 GWB drittschützende Wirkung entfalten.3
4Darüber hinaus zielen die Festlegungen insbesondere zu den Ausschlussgründen auf die Sicherstellung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, indem sie es der Vergabestelle ermöglichen, bereits im Vorfeld der Auftragserteilung unzuverlässige Bewerber oder Bieter, die Gesetz und Recht missachten, auszusondern.4 Einer solchen Vorprüfung bedarf es, um zu verhindern, dass Unternehmen bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben für die öffentliche Hand rechtswidrig handeln. Sie ist daher auch verfassungsrechtlich angezeigt. Aufgrund dieser umfassenden Schutzfunktion stehen die Bestimmungen zur Eignungsprüfung auch nicht zur Disposition des Bewerbers oder der Vergabestelle.5
III.Anwendungsbereich
5§ 122 GWB steht in Kapitel 1 Abschnitt 2 des Vierten Teils des GWB und ist daher unmittelbar nur gem. § 115 GWB auf die Vergabe öffentlicher Aufträge und die Ausrichtung von Wettbewerben durch öffentliche Auftraggeber anwendbar.6 Darüber hinaus gilt er über § 142 GWB mit Abweichungen auch für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen durch Sektorenauftraggeber,7 gem. § 147 GWB für die Vergabe von verteidigungs- und sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen8 und gem. § 152 Abs. 2 GWB für die Vergabe von Konzessionen.9 Die gesetzlichen Vorgaben gelten auch für Bauaufträge; lediglich auf untergesetzlicher Ebene enthält die VOB/A eigene, teils von der VgV oder der VSVgV abweichende Vorschriften.
B.Eignungsprüfung
I.Begriff der Eignung
6Der Begriff der Eignung wird in der VRL und dem GWB nicht einheitlich verwendet. § 122 Abs. 1, 2 und 3 GWB geht von einem Nebeneinander von Eignung und Eignungskriterien einerseits und Ausschlussgründen andererseits aus. Die Überschrift des § 122 GWB legt angesichts des Regelungsgegenstands dieser Vorschrift nahe, dass mit der Eignung auch das Nichtvorliegen von Ausschlussgründen gemeint ist. Gleiches gilt für Titel II Kap. III Abschn. 3 Unterabschn. 1 VRL mit der Überschrift „Qualitative Eignungskriterien“, der auch die Regelungen zu den Ausschlussgründen enthält. Der Eignungsbegriff kann daher in einem engeren und einem weiteren Sinne verstanden werden.
II.Eignungsgrundsatz (Abs. 1)
7Der Grundsatz des § 122 Abs. 1 GWB verleiht zum einen der Selbstverständlichkeit Ausdruck, dass Aufträge nicht an Unternehmen vergeben werden, die vom Vergabeverfahren ausgeschlossen wurden. Die Ausschlussgründe und näheren Maßgaben für den Ausschluss sind in §§ 123 und 124 GWB geregelt.10
8Zum anderen verlangt § 122 Abs. 1 GWB darüber hinaus, dass Aufträge nur an geeignete Unternehmen vergeben werden dürfen. Diese Eignung (im engeren Sinne) setzt sich aus der Fachkunde und der Leistungsfähigkeit zusammen. Man hätte sie daher auch insgesamt als Leistungsfähigkeit bezeichnen können, um die Doppelbedeutung des Eignungsbegriffs zu vermeiden. Die Fachkunde ist auch ein Aspekt der Leistungsfähigkeit. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, die Terminologie der VRL aufzugreifen, um eine konsistente und widerspruchsfreie Auslegung und Anwendung der Vorschriften in ihrem EU-rechtlichen Kontext sicherzustellen.
III.Die Eignungsprüfung im Vergabeverfahren
9Die Eignungsprüfung einschließlich der Prüfung des Vorliegens von Ausschlussgründen ist Bestandteil der Prüfung von Interessenbekundungen, Teilnahmeanträgen und Angeboten. Die Prüfung von Angeboten erfolgt beim offenen Verfahren grundsätzlich in vier Schritten: Auf die formale Prüfung (vgl. § 56 VgV und § 14 EU VOB/A und die Ausschlussgründe des § 57 Abs. 1 VgV und § 16 EU VOB/A) folgt die Prüfung der materiellen Eignung (§ 42 Abs. 1 VgV, § 16 b EU VOB/A). Der Bewerber oder Bieter muss tatsächlich in der Lage sein, die zu vergebende Leistung in der geforderten Weise auszuführen.11 Werden die Eignungskriterien nicht erfüllt, ist eine Interessenbestätigung, ein Teilnahmeantrag oder ein Angebot gem. § 57 Abs. 1 VgV bzw. § 16 EU VOB/A auszuschließen. Aber auch unabhängig von den gem. § 122 Abs. 4 GWB aufgeführten Eignungskriterien muss sichergestellt sein, dass der Bieter zur Erbringung der Leistungen, wie sie ausgeschrieben ist, in der Lage ist. Dies muss der Auftraggeber spätestens im Zeitpunkt der Vergabeentscheidung klären und bejahen können.12 Der Auftraggeber darf keinen Auftrag an einen Bieter vergeben, der aufgrund gesicherter Erkenntnisse nicht in der Lage ist, die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Während sich die Ausschlussgründe der §§ 123 und 124 GWB gegen die Unternehmen selbst richten, wird nach dem Gesetzeswortlaut bei mangelnder Fachkunde oder Leistungsfähigkeit das Angebot ausgeschlossen. Für den Bewerber oder Bieter läuft das auf das Gleiche hinaus. Gesetzessystematisch wäre insoweit ein Gleichklang vorzugswürdig gewesen. Ein Angebot ist darüber hinaus der Preisprüfung zu unterwerfen (§ 60 VgV, § 16c EU VOB/A) und anhand der Zuschlagskriterien zu werten (§ 127 GWB, § 58 VgV, § 16d EU VOB/A). Im nicht offenen Verfahren, im Verhandlungsverfahren13 und im Verfahren zur Vergabe einer Innovationspartnerschaft erfolgt die Eignungsprüfung gem. § 42 Abs. 2 VgV oder § 6b EU VOB/A im Rahmen eines vorgeschalteten Verfahrensteils, dem Teilnahmewettbewerb.14
IV.Zeitpunkt
10Unabhängig vom Zeitpunkt zur Erbringung des Nachweises der Eignung muss die tatsächliche Eignung nach herrschender Meinung erst bei Beginn der Auftragserfüllung vorliegen.15 Der Nachweis kann daher auch bezogen auf den Leistungsbeginn erbracht werden. Die Eignung muss selbst zum Zeitpunkt der Nachweisbringung oder Entscheidung des Auftraggebers noch nicht vorliegen. In diesem Fall muss der öffentliche Auftraggeber anhand der vorgelegten Nachweise eine Prognose anstellen, ob der Bieter die Eignungskriterien bis zum vorgesehenen Leistungsbeginn sicher erfüllt.16 Unsicherheiten gehen dabei zu Lasten des Bieters. Dies gilt auch für das Nichtvorliegen von Ausschlussgründen.
11Von der Frage, wann die Eignung materiell vorliegen muss, ist die Frage zu trennen, bis wann die Nachweise vorzulegen sind und inwieweit die vorgelegten Nachweise nachgebessert werden können. Ist dem Vergabeverfahren ein Teilnahmewettbewerb vorgeschaltet, müssen die Nachweise, dass keine Ausschlussgründe oder die erforderliche Eignung zum Leistungsbeginn vorliegen, im Interesse der Gleichbehandlung mit Ablauf der Frist für die Einreichung der Teilnahmeanträge vorgelegt werden.17 Das gilt auch im Verhandlungsverfahren.18 Die Nachbesserung der vorgelegten Nachweise ist abgesehen von einer etwa nach § 56 VgV oder § 16a EU VOB/A erlaubten Nachlieferung von Unterlagen19 nicht zulässig.
C.Eignungskriterien (Abs. 2 und Abs. 4)
12§ 122 Abs. 2 GWB legt fest, wie die Eignung i. S. d. § 122 Abs. 1 GWB durch den öffentlichen Auftraggeber bestimmt wird, und enthält inhaltliche Vorgaben an die Eignungskriterien. Diese Vorgaben werden durch zusätzliche inhaltliche und formale Anforderungen an die Festlegung der Eignungskriterien in § 122 Abs. 4 GWB ergänzt.
I.Eignungsfeststellung
13§ 122 Abs. 2 GWB geht davon aus, dass die Eignung auf Basis im Vorhinein festgelegter Kriterien, der Eignungskriterien beurteilt wird. Die Eignungsfeststellung erfolgt mithin in verschiedenen Schritten: Im ersten Schritt legt der öffentliche Auftraggeber die Eignungskriterien fest. § 122 Abs. 4 Satz 2 GWB schreibt vor, wie diese Kriterien transparent zu machen sind. Der Auftraggeber prüft sodann, ob das betreffende Unternehmen, dessen Eignung er zu beurteilen hat, diese Kriterien erfüllt. Nur wenn das der Fall ist, gilt das Unternehmen als geeignet.
II.Kriterien zur Feststellung der Eignung
14Die Eignungskriterien sind die Merkmale, anhand derer der öffentliche Auftraggeber entscheidet, ob ein Unternehmen für die Ausführung des Auftrags geeignet ist. Zur Festlegung der Eignungskriterien müssen die allgemeinen gesetzlichen Vorgaben durch den öffentlichen Auftraggeber auftragsspezifisch konkretisiert werden.20 Damit die Kriterien im Vergabeverfahren handhabbar sind, muss der öffentliche Auftraggeber nicht nur die Art der jeweils relevanten Kriterien umschreiben, sondern auch festlegen, auf Basis welcher Nachweise er die Erfüllung der Eignungskriterien feststellen wird. Zudem kann er zur Vorabkonkretisierung der Ausübung seines Ermessens Mindestanforderungen festlegen. Bei der Festlegung dieser Kriterien einschließlich der Nachweise und Mindestanforderungen steht dem öffentlichen Auftraggeber im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu.21
1.Eignungskriterien nach § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1–3 GWB
15Anders als § 122 Abs. 1 GWB differenziert § 122 Abs. 2 GWB nicht zwischen der Fachkunde und der Leistungsfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit umfasst die Fähigkeit des Unternehmens, die nachgefragte Leistung ordnungsgemäß zu erbringen. Die Fachkunde bezieht sich auf spezielle für die Leistungserbringung erforderliche Sachkenntnisse und ist mithin ein Teilaspekt der umfassenden Leistungsfähigkeit. Diese Differenzierung in § 122 Abs. 1 GWB ist daher für die Eignungsfeststellung nicht von Bedeutung. Vielmehr kommt es auf die Beschreibung der Eignungsmerkmale in § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 3 GWB an, die die Grenze zulässiger Eignungskriterien bilden. Nur Kriterien, die einem dieser Merkmale zugeordnet werden können, dürfen zur Bestimmung der Eignung eines Unternehmens herangezogen werden.22
16Dabei folgen die Eignungskriterien nach § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 3 GWB der Systematik des europäischen Rechts. Art. 58 Abs. 1 Satz 1 VRL gibt die drei Arten von Eignungskriterien vor. Diese Struktur ist so auch in Abschn. III.1) des Musters für die Auftragsbekanntmachung (Standardformular 2) nach § 37 Abs. 2 VgV und § 18 EU VOB/A sowie in Teil IV des Standardformulars für die Einheitliche Europäische Eigenerklärung nach § 50 VgV und § 6b EU VOB/A angelegt.
17a) Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung (Abs. 2 Satz 2 Nr. 1). Das Unternehmen muss befähigt und ihm muss erlaubt sein, den relevanten Beruf auszuüben. Es muss über die Befugnis zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit verfügen. Dies kommt insbesondere in dem Begriff „Erlaubnis“ zum Ausdruck. Die ebenfalls geforderte „Befähigung“ könnte vom Wortsinn auch im Sinne der Leistungsfähigkeit verstanden werden. Aus dem Gesamtzusammenhang, insbesondere der Gegenüberstellung mit den anderen Eignungskriterien lässt sich jedoch ableiten, dass mit diesem Begriff nicht die wirtschaftlich/finanzielle Leistungsfähigkeit oder die technischen Fertigkeiten des Unternehmens gemeint sind, die in § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und 3 GWB genannt werden und von der Befähigung zur Berufsausübung abzugrenzen sind. § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GWB betrifft die Berufsausübung als solche. Das Unternehmen muss die formalen Voraussetzungen erfüllen, die das einschlägige Recht vorschreibt. Erlaubnisse sind insbesondere die öffentlich-rechtlichen Genehmigungen und Gestattungen, die einem Unternehmen insbesondere durch Verwaltungsakt im Einzelfall erteilt werden, z. B. eine Genehmigung zur Personenbeförderung nach § 2 PBefG. Zudem sind bestimmte Tätigkeiten nur bestimmten Berufsständen vorbehalten (vgl. Steuerberatungsgesetz, Rechtsdienstleistungsgesetz oder Wirtschaftsprüferordnung) oder erfordern die Eintragung in ein Berufsverzeichnis wie die Handwerksrolle gem. § 1 Abs. 1 Handwerksordnung (HwO). Soweit die Gesetzgebungskompetenz nicht beim Bund liegt, sind auch landesrechtliche Besonderheiten zu beachten (vgl. Baukammerngesetz NRW). Nur wenn sie diese Voraussetzungen erfüllen, sind Unternehmen rechtlich befähigt, die betreffende berufliche Tätigkeit auszuüben. In diesem Sinne ist das Eignungskriterium des § 122 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GWB zu verstehen.
18Berufsausübungshindernisse können auch privatrechtlich begründet sein. Ein Unternehmen kann einem vertraglichen Wettbewerbsverbot unterliegen, das es daran hindert, bestimmte berufliche Tätigkeiten auszuüben.
19Die Befähigung und Erlaubnis ist nicht abstrakt, sondern gem. § 122 Abs. 4 Satz 1 GWB im Hinblick auf die für die Erbringung der vom öffentlichen Auftraggeber nachgefragten Leistung erforderliche Berufsausübung zu prüfen. Die Erforderlichkeit ist die Mindestanforderung und zugleich die Grenze für die Eignung. Ohne die Befähigung und Erlaubnis, die für die Leistungserbringung notwendige Tätigkeit beruflich auszuüben, darf ein Unternehmen nicht zum Wettbewerb zugelassen oder ihm der Auftrag erteilt werden. Anforderungen, die für die konkrete Leistungserbringung nicht notwendig sind, sind keine Berufsausübungsvoraussetzungen und dürfen nicht verlangt werden.
20Die Bedingungen für die Befähigung zur Berufsausübung „einschließlich Auflagen hinsichtlich der Eintragung in einem Berufs- oder Handelsregister“ sind in dem jeweiligen Standardformular für die Auftragsbekanntmachung unter „Teilnahmebedingungen“ aufzulisten und zu erläutern. Soweit die Erbringung einer Dienstleistung einem besonderen Berufsstand vorbehalten ist, muss dies unter Verweis auf die einschlägige Rechts- oder Verwaltungsvorschrift angegeben werden. Das Standardformular für die Einheitliche Europäische Eigenerklärung sieht in Teil IV Abschn. A Angaben zur Eintragung in das Berufs- oder Handelsregister des Niederlassungsstaats sowie zu der Berechtigung oder Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation vor, wobei das Unternehmen selbst beantworten muss, ob eine solche Berechtigung oder Mitgliedschaft zur Berufsausübung verlangt wird und bejahendenfalls ob diese vorliegt.
21Zusätzliche Regelungen zum Nachweis der Befähigung und der Erlaubnis zur Berufsausübung enthalten § 44 VgV und § 6a EU Nr. 1 VOB/A,23 die die Anforderungen des Art. 58 Abs. 2 VRL umsetzen.
22b) Wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit. Gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 VgV bezweckt das Eignungskriterium der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit sicherzustellen, dass das beauftragte Unternehmen über hinreichende wirtschaftliche und finanzielle Kapazitäten zur Erfüllung des Auftrags verfügt.24 Gerade im Hinblick auf dieses Eignungskriterium ist gem. § 122 Abs. 4 Satz 1 GWB besonders darauf zu achten, dass die Anforderungen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Auftragsgegenstand stehen. Einerseits liegt es durchaus im Interesse des öffentlichen Auftraggebers, dass die Leistungserbringung das Unternehmen nicht überfordert. Das kann schon dann anzunehmen sein, wenn der Auftragswert den Gesamtumsatz nahezu komplett ausmacht und damit Unregelmäßigkeiten bei der Auftragsabwicklung sich unmittelbar in der Leistungsfähigkeit des Auftragnehmers niederschlagen. Andererseits dürfen die Anforderungen nicht überzogen werden, da dies den Wettbewerb ohne Grund einschränkt. Weitere Regelungen insbesondere zu den zulässigen Kriterien, Nachweisen und Mindestanforderungen enthalten § 45 VgV und § 6a EU Nr. 2 VOB/A,25 die die Anforderungen des Art. 58 Abs. 3 VRL umsetzen.
23Die Anforderungen an die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit sind in dem Standardformular für die Auftragsbekanntmachung unter „Teilnahmebedingungen“ aufzulisten und kurz zu beschreiben. Möglicherweise geforderte Mindestanforderungen (Mindeststandards) sind anzugeben. Das Standardformular für die Einheitliche Europäische Eigenerklärung sieht in Teil IV Abschn. B Angaben zur wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit vor.
24c) Technische und berufliche Leistungsfähigkeit. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 VgV bezweckt das Eignungskriterium der technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit sicherzustellen, dass das beauftragte Unternehmen über die erforderlichen personellen und technischen Mittel sowie ausreichende Erfahrungen verfügt, um den Auftrag in angemessener Qualität ausführen zu können. Gemäß § 122 Abs. 4 Satz 1 GWB ist darauf zu achten, dass die Anforderungen mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen und noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Auftragsgegenstand stehen. Es dürfen nur Anforderungen an die personelle und technische Ausstattung gestellt werden, die für die Leistungserbringung erforderlich sind. Die Nachweise müssen geeignet sein, die hierfür notwendige Eignung darzulegen und dürfen keine Überqualifikation verlangen, da dies den Wettbewerb ohne Grund einschränken würde. Weitere Regelungen insbesondere zu den zulässigen Kriterien und Nachweisen enthalten § 46 VgV und § 6a EU Nr. 3 VOB/A,26 die die Anforderungen des Art. 58 Abs. 4 VRL umsetzen.
25Die Anforderungen an die technische und berufliche Leistungsfähigkeit sind in dem Standardformular für die Auftragsbekanntmachung unter „Teilnahmebedingungen“ aufzulisten und kurz zu beschreiben. Möglicherweise geforderte Mindestanforderungen (Mindeststandards) sind anzugeben. Das Standardformular für die Einheitliche Europäische Eigenerklärung sieht in Teil IV Abschn. C Angaben zur technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit vor.
2.Abgrenzung der Eignungskriterien von Zuschlagskriterien
26Die unternehmensbezogenen Eignungskriterien sind grundsätzlich strikt von den angebotsbezogenen Zuschlagskriterien abzugrenzen.27 Die Anwendung der Zuschlagskriterien dient der Auswahl des wirtschaftlich günstigsten Angebots, während mit der Ausschluss- und Eignungsprüfung sichergestellt werden soll, dass der Auftrag an ein leistungsfähiges und verlässliches Unternehmen vergeben wird. Die Auswahl des wirtschaftlichsten Angebots kann daher nicht an Eignungskriterien und Ausschlussgründen gemessen werden.28 Eignungsprüfung und Angebotswertung sind separate Prüfungen, die unterschiedlichen Regeln unterliegen.29 Daher dürfen Eignungskriterien grundsätzlich nur zur Eignungsprüfung und die Zuschlagskriterien nur zur Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots angewendet werden dürfen.30 Ein „Mehr an Eignung“ kann ein „Weniger an Wirtschaftlichkeit“ nicht ausgleichen.31 Bereits in der Rechtsprechung des EuGH hatte sich eine Aufweichung dieses strikten Trennungsgebots angedeutet,32 die im Rahmen der Novellierung des Vergaberechts 2016 Eingang in § 58 Abs. 2 Nr. 2 VgV und § 16d EU VOB/A gefunden hat.33 Danach kann im Rahmen der Angebotswertung „die Organisation, Qualifikation und Erfahrung des mit der Ausführung des Auftrags betrauten Personals berücksichtigt werden, wenn die Qualität des eingesetzten Personals erheblichen Einfluss auf das Niveau der Auftragsausführung haben kann“.34
3.Verhältnismäßigkeit (Abs. 4 Satz 1)
27Gemäß § 122 Abs. 4 Satz 1 GWB müssen die Eignungskriterien mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung und zu diesem in einem angemessenen Verhältnis stehen. Die Bestimmung konkretisiert die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit, die schon nach allgemeinen Grundsätzen gelten und in der Rechtsprechung anerkannt sind.35
28a) Eignung. Eine hinreichende Verbindung zum Auftragsgegenstand besteht nur, wenn das Kriterium geeignet ist, die Fachkunde und Leistungsfähigkeit des Unternehmens im Hinblick auf die ordnungsgemäße Ausführung der konkret zu beschaffenden Leistung zu belegen.36 Das Kriterium muss die Eignung von Unternehmen im Hinblick auf den zu vergebenden Auftrag zum Ausdruck bringen. Es ist auftragsspezifisch festzulegen.
29b) Angemessenheit. Die Unternehmen dürfen nicht unnötig und unsachgemäß überfordert werden. Bei Mindestanforderungen an Umsatz, Mitarbeiter und Ausstattung muss auf die Anforderungen abgestellt werden, die das ausgeschriebene Projekt stellt.37 Referenzen müssen sowohl im Hinblick auf die Mindestanforderungen als auch die Auswahlkriterien an den zu vergebenden Auftrag angelehnt sein. Die Vergabestelle darf keine Überqualifikation fordern. Ein fehlender Zusammenhang wurde zum Beispiel bei der Vergabe einer Dienstleistung angenommen, bei der zum Beleg der Eignung der Nachweis einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis nach § 1 AÜG gefordert wurde; eine solche Anforderung ist nur legitim, wenn auch tatsächlich eine Arbeitnehmerüberlassung beschafft wird.38 Dagegen wurde die Anforderung, dass die Bieter eine Lieferkapazität in Höhe von 100 % der Mindestmengen nachweisen müssen, als angemessen erachtet.39 Ebenso wurde im Rahmen einer Vergabe von Postfach-, Versand- und Verzeichnisdiensten bei einer Eigenerklärung, mit der verbindlich zugesagt wird, bis zum Ablauf der Frist für die Abgabe der Teilnahmeanträge einen Antrag auf Akkreditierung nach §§ 17, 18 De-Mail-Gesetz gestellt zu haben, ein ausreichender Zusammenhang zum Auftragsgegenstand angenommen.40
III.Beurteilungs- und Ermessensspielraum
30Bei der Bestimmung der Eignungskriterien und Durchführung der Eignungsprüfung steht dem öffentlichen Auftraggeber ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu.41 In der Regel basiert diese Entscheidung auf einer Prognose, ob das Unternehmen (ggf. erst zum Zeitpunkt des Leistungsbeginns) leistungsfähig und fachkundig ist oder sein wird.42 Die Nachprüfungsinstanzen dürfen eine solche Entscheidung nur eingeschränkt überprüfen. Dabei wird grundsätzlich nicht geprüft, ob die vom Auftraggeber festgelegten Eignungskriterien oder die vorgenommene Eignungsprüfung inhaltlich richtig sind, sondern nur, ob der öffentliche Auftraggeber die Grenzen des Beurteilungs- und Ermessensspielraums überschritten hat.43 Für die Eignungsprüfung ist angesichts des dem öffentlichen Auftraggeber eingeräumten weiten Beurteilungs- und Ermessensspielraums kein detailliertes Wertungssystem zu fordern.44 Ein Ermessensfehler liegt vor, wenn er von dem ihm eingeräumten Ermessen entweder gar keinen Gebrauch gemacht hat (Ermessensausfall)45 oder er das vorgeschriebene Verfahren nicht eingehalten hat, bei seiner Entscheidung von einem nicht zutreffenden oder nicht vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist oder seine Entscheidung auf sachwidrigen Erwägungen beruht (Ermessensfehlgebrauch).46 Zudem muss der öffentliche Auftraggeber die Grenzen des Ermessens einhalten.47 Nur in den Grenzen, in denen ihm das Ermessen eröffnet ist, darf er es ausüben, also beispielsweise dürfen nur die zugelassenen und in der Auftragsbekanntmachung verlangten Nachweise verlangt werden. Die Ermessensausübung ist fehlerhaft, wenn der öffentliche Auftraggeber einen Bieter gegenüber einem ebenfalls geeigneten und preislich günstigeren anderen Bieter nach dem Prinzip „bekannt und bewährt“ bevorzugt.48 Insbesondere bei der Einschätzung, ob und inwieweit ein Kriterium im Hinblick auf den Auftragsgegenstand geeignet und angemessen ist oder wie sich die Eignung bis zum Leistungsbeginn entwickeln wird, kommt dem Auftraggeber eine Einschätzungsprärogative zu.49 Ihm wird aufgrund seiner Sachnähe ein Spielraum eingeräumt, die tatsächliche Situation und deren Entwicklung (Prognose) zu beurteilen. Wie bei der Ausübung des Ermessens muss der Auftraggeber dabei vom richtigen Sachverhalt ausgehen und darf sich nicht von sachwidrigen Erwägungen leiten lassen.50 Der öffentliche Auftraggeber ist an die vorgenommene Beurteilung der Sachlage und das von ihm ordnungsgemäß ausgeübte Ermessen über die Eignung des Bieters oder Bewerbers gebunden. Gewinnt er dagegen in einem späteren Stadium des Vergabeverfahrens neue Erkenntnisse, die ihm vorher nicht zur Verfügung standen, z. B. neue Informationen über die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens etwa infolge einer Umstrukturierung des Unternehmens, die Zweifel an der Eignung aufkommen lassen können, muss der öffentliche Auftraggeber erneut in die Beurteilung der Eignung eintreten.
IV.Bekanntmachung (Abs. 4 Satz 2)
31Die Eignungskriterien sind gem. § 122 Abs. 4 Satz 2 GWB in der Auftragsbekanntmachung, der Vorinformation oder der Aufforderung zur Interessenbestätigung aufzuführen. Um als geeignet zu gelten, muss ein Unternehmen diese Kriterien erfüllen. Mit der Festlegung und Veröffentlichung der Eignungskriterien sind diese verbindlich, sodass ein Unternehmen keinen Auftrag erhalten oder zum Wettbewerb zugelassen werden darf, wenn es diese Kriterien nicht vollständig erfüllt.51 Weitergehende Anforderungen, die über die ordnungsgemäß bekannt gemachten Eignungskriterien hinausgehen, dürfen von dem öffentlichen Auftraggeber nicht gefordert werden.52 Die Anforderungen des Auftraggebers an die Nachweise der Eignung müssen eindeutig und erschöpfend sein.53 Die Angabe der Verknüpfung mit einer Webdatei (Verlinkung) kann eine konkrete Nennung in der Bekanntmachung allenfalls dann ersetzen, wenn die Verlinkung auf ein elektronisch ohne weiteres zugängliches Dokument erfolgt und kein weiterer Rechercheaufwand erforderlich ist, um sich Kenntnis von den Eignungsanforderungen zu verschaffen.54 Dementsprechend ist ein Link in der Bekanntmachung, der nur auf eine Plattform der Vergabestelle mit mehreren laufenden Vergabeverfahren führt, unzureichend55 und nicht mit dem Sinn und Zweck der Bekanntmachung vereinbar. Der Sinn und Zweck des § 122 Abs. 4 Satz 2 GWB ist, dass der potentielle Bewerber oder Bieter die Möglichkeit hat, sich mit Blick in die Bekanntmachung umfassend mit den Eignungskriterien auseinanderzusetzen, und für sich entscheiden kann, ob er sich an der Ausschreibung beteiligen kann oder will. Dementsprechend muss er bereits aus der Auftragsbekanntmachung die an ihn gestellten Anforderungen transparent und frei zugänglich ersehen können.56 In den Vergabeunterlagen dürfen Eignungsnachweise nur konkretisiert, nicht ausgeweitet oder ergänzt werden.57
32Auch eine Verringerung der einmal in der Bekanntmachung geforderten Eignungsnachweise ist im Nachhinein nicht zulässig. Ein solches nachträgliches Absehen von Eignungsforderungen würde gegen das Prinzip der Gleichbehandlung und den Transparenzgrundsatz verstoßen.58
D.Präqualifikation (Abs. 3)
33Durch ein Präqualifikationssystem können sich Unternehmen anhand vorab aufgestellter objektiver Kriterien unabhängig von einem konkreten Auftrag für eine Vielzahl zukünftiger Aufträge qualifizieren.59 Die Einführung eines Präqualifikationssystems bietet Vorteile für öffentliche Auftraggeber und Unternehmen.60 Der Auftraggeber wird von der Eignungsprüfung im Einzelfall befreit, der Bieter davon, die zur Eignungsprüfung erforderlichen Erklärungen und Nachweise in jedem Verfahren neu vorlegen zu müssen. Die Präqualifizierungsverfahren dienen damit der Entbürokratisierung und Vereinfachung des Vergabeverfahrens und sollen dem Bieter die zeit- und kostenaufwendige Mühe ersparen, für jede neue Ausschreibung, um die er sich bewirbt, erneut die geforderten Eignungsunterlagen zusammenzustellen.61 Für die Vergabestelle bedeutet diese Vorgehensweise gegenüber der Eigenerklärung der Unternehmen erhöhte Sicherheit in Bezug auf die Richtigkeit der dargelegten Eignungskriterien. Die Teilnahme an einem Präqualifikationssystem erfolgt für die Unternehmen allerdings auf freiwilliger Basis. Den Unternehmen steht es frei, ihre Eignung auch weiterhin durch die in den Vergabeunterlagen geforderten Nachweise zu erbringen. Den Bewerbern und Bietern wird mit § 122 GWB das Recht eingeräumt, ihre Eignung unter Verweis auf die Präqualifikation zu belegen.62 Ein öffentlicher Auftraggeber darf für die über die Präqualifikation erbrachten Nachweise hinaus grundsätzlich keine Einzelnachweise fordern. Er muss nach Maßgabe des § 50 Abs. 3 Nr. 1 VgV bzw. § 6b EU VOB/A die Nachweise EU-weit über das Präqualifizierungssystem einholen.63 Der Auftraggeber hat eine Verpflichtung gegenüber dem Antragssteller zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Präqualifikationsunterlagen. Dies stellt nunmehr eine klare Abkehr von der Vorgängerregelung des § 7 EG Abs. 4 VOL/A dar, die die Einbeziehung der Präqualifikationsunterlagen noch in das Ermessen der Auftraggeberseite stellte.64
34Für den Baubereich verweist § 6b EU Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VOB/A auf die für öffentliche Auftraggeber direkt abrufbaren Eintragungen in die allgemein zugängliche Liste des Vereins für die Präqualifikation von Bauunternehmen e.V. Der Verein wird von Bundes- und Landesministerien, den kommunalen Spitzenverbänden sowie den Verbänden des Baugewerbes getragen.65 Die Überprüfung der Eignung der Unternehmen und des Nichtvorliegens von Ausschlussgründen erfolgt durch vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in einem wettbewerblichen Verfahren bestimmte Präqualifizierungsstellen.
35Über die IHK wurde eine bundesweite Präqualifizierungsdatenbank für den Liefer- und Dienstleistungsbereich (PQ-VOL) eingerichtet, über die Unternehmen, die von Auftragsberatungsstellen oder von Industrie- und Handelskammern auf ihre Eignung im VOL-Bereich überprüft wurden, geführt werden. Die Präqualifizierung durch die Liste der Eignungsnachweise im Rahmen der PQ-VOL sieht Eigenerklärungen im Hinblick auf Insolvenz/Liquidation, schwere Verfehlungen, Umsatz und Anzahl der Beschäftigten und aktuelle Referenzen sowie Bescheinigungen hinsichtlich Steuern und Abgaben, Krankenkassen, Berufsgenossenschaft, Gewerbemeldung/-erlaubnis, Berufsregister und Haftpflichtversicherung vor.66
36Darüber hinaus bestehen auch sonstige Präqualifizierungssysteme wie etwa das Unternehmer- und Lieferantenverzeichnis für öffentliche Aufträge (ULV) der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt sowie Systeme in anderen Bundesländern, die teilweise von Auftragsberatungsstellen geführt werden und mit dem PQ-VOL-Verzeichnis verbunden sind.
§ 123 GWBZwingende Ausschlussgründe
(1) Öffentliche Auftraggeber schließen ein Unternehmen zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens von der Teilnahme aus, wenn sie Kenntnis davon haben, dass eine Person, deren Verhalten nach Absatz 3 dem Unternehmen zuzurechnen ist, rechtskräftig verurteilt oder gegen das Unternehmen eine Geldbuße nach § 30 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten rechtskräftig festgesetzt worden ist wegen einer Straftat nach:
1. § 129 des Strafgesetzbuchs (Bildung krimineller Vereinigungen), § 129a des Strafgesetzbuchs (Bildung terroristischer Vereinigungen) oder § 129b des Strafgesetzbuchs (Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland),
2. § 89c des Strafgesetzbuchs (Terrorismusfinanzierung) oder wegen der Teilnahme an einer solchen Tat oder wegen der Bereitstellung oder Sammlung finanzieller Mittel in Kenntnis dessen, dass diese finanziellen Mittel ganz oder teilweise dazu verwendet werden oder verwendet werden sollen, eine Tat nach § 89a Absatz 2 Nummer 2 des Strafgesetzbuchs zu begehen,
3. § 261 des Strafgesetzbuchs (Geldwäsche; Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte),
4. § 263 des Strafgesetzbuchs (Betrug), soweit sich die Straftat gegen den Haushalt der Europäischen Union oder gegen Haushalte richtet, die von der Europäischen Union oder in ihrem Auftrag verwaltet werden,
5. § 264 des Strafgesetzbuchs (Subventionsbetrug), soweit sich die Straftat gegen den Haushalt der Europäischen Union oder gegen Haushalte richtet, die von der Europäischen Union oder in ihrem Auftrag verwaltet werden,
6. § 299 des Strafgesetzbuchs (Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr), §§ 299a und 299b des Strafgesetzbuchs (Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen),
7. § 108e des Strafgesetzbuchs (Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern),
8. den §§ 333 und 334 des Strafgesetzbuchs (Vorteilsgewährung und Bestechung), jeweils auch in Verbindung mit § 335a des Strafgesetzbuchs (Ausländische und internationale Bedienstete),
9. Artikel 2 § 2 des Gesetzes zur Bekämpfung internationaler Bestechung (Bestechung ausländischer Abgeordneter im Zusammenhang mit internationalem Geschäftsverkehr) oder
10. den §§ 232 und 233, 232 a Absatz 1 bis 5, den §§ 232 b bis 233 a des Strafgesetzbuchs (Menschenhandel, Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung).
(2) Einer Verurteilung oder der Festsetzung einer Geldbuße im Sinne des Absatzes 1 stehen eine Verurteilung oder die Festsetzung einer Geldbuße nach den vergleichbaren Vorschriften anderer Staaten gleich.
(3) Das Verhalten einer rechtskräftig verurteilten Person ist einem Unternehmen zuzurechnen, wenn diese Person als für die Leitung des Unternehmens Verantwortlicher gehandelt hat; dazu gehört auch die Überwachung der Geschäftsführung oder die sonstige Ausübung von Kontrollbefugnissen in leitender Stellung.
(4) 1Öffentliche Auftraggeber schließen ein Unternehmen zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren aus, wenn
1. das Unternehmen seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Steuern, Abgaben oder Beiträgen zur Sozialversicherung nicht nachgekommen ist und dies durch eine rechtskräftige Gerichts- oder bestandskräftige Verwaltungsentscheidung festgestellt wurde oder
2. die öffentlichen Auftraggeber auf sonstige geeignete Weise die Verletzung einer Verpflichtung nach Nummer 1 nachweisen können.
2Satz 1 ist nicht anzuwenden, wenn das Unternehmen seinen Verpflichtungen dadurch nachgekommen ist, dass es die Zahlung vorgenommen oder sich zur Zahlung der Steuern, Abgaben und Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich Zinsen, Säumnis- und Strafzuschlägen verpflichtet hat.
(5) 1Von einem Ausschluss nach Absatz 1 kann abgesehen werden, wenn dies aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses geboten ist. 2Von einem Ausschluss nach Absatz 4 Satz 1 kann abgesehen werden, wenn dies aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses geboten ist oder ein Ausschluss offensichtlich unverhältnismäßig wäre. 3§ 125 bleibt unberührt.
Schrifttum: Brüning, Die ubiquitäre Zuverlässigkeitsprüfung im neuen Vergaberecht, NZBau 2016, 723 ff.; Gabriel, Neues zum Ausschluss von Bietern und Bietergemeinschaften wegen Mehrfachbeteiligungen: Einzelfallprüfung statt Automatismus, NZBau 2010, 225 ff.; Meißner, Wann ist der Bieter geeignet?, VergabeR 2017, 270 ff.; Pauka/Pauka, Der Einfluss des Lkw-Kartells auf die Eignung der Kartellanten bei zukünftigen Ausschreibungen, NZBau 2018, 83 ff.; Prieß/Stein, Nicht nur sauber sondern rein – die Wiederherstellung der Zuverlässigkeit durch Selbstreinigung, NZBau 2008, 230 ff.; Reimann/Schliepkorte, Die Zulässigkeit der Auftragssperre durch öffentliche Auftraggeber wegen Kartellabsprachen bei der Vergabe von Bauleistungen, ZfBR 1992, 251 ff.; Scherer-Leydecker, Das Wettbewerbsregister: Die bundesweite schwarze Liste für die Vergabe öffentlicher Aufträge, CB 2017, 261 ff.; ders., Die bundesweite Blacklist für die öffentliche Auftragsvergabe – Der Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Wettbewerbsregisters, ZRFC 2017, 128 ff.; Schmidt, Wider den Ausschlussautomatismus – Kein zwingender Ausschluss einer Bietergemeinschaft bei Insolvenz eines Mitgliedsunternehmens, NZBau 2008, 41 ff.; Schmidt, Wider den Ausschlussautomatismus – Kein zwingender Ausschluss einer Bietergemeinschaft bei Insolvenz eines Mitgliedsunternehmens, NZBau 2008, 41 ff.; Theile/Petermann, Die Sanktionierung von Unternehmen nach dem OWiG, JuS 2011, 496 ff.; siehe außerdem Schrifttum zu § 122 GWB.
Übersicht | Rn. | ||
A. | Vorbemerkungen | 1–3 | |
B. | Ausschluss von der Teilnahme am Vergabeverfahren wegen Straftat (Abs. 1) | 4–16 | |
I. | Erfasste Tatbestände | 5, 6 | |
II. | Zurechenbare Verurteilung oder Festsetzung einer Geldbuße (Abs. 2 und 3) | 7–15 | |
1. | Dem Unternehmen zurechenbare Verurteilung einer Person | 8–12 | |
a) | Verurteilung | 8 | |
b) | Zurechenbarkeit (Abs. 3) | 9–12 | |
2. | Festsetzung einer Geldbuße gegen das Unternehmen | 13–15 | |
III. | Kenntnis von der Verurteilung oder Festsetzung einer Geldbuße | 16 | |
C. | Verletzung der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen (Abs. 4) | 17, 18 | |
I. | Zwingender Ausschluss | 17 | |
II. | Selbstreinigung durch Bezahlung | 18 | |
D. | Zeitpunkt | 19 | |
E. | Ausnahmen vom zwingenden Ausschluss (Abs. 5) | 20–22 | |
I. | Vorrangiges zwingendes öffentliches Interesse | 21 | |
II. | Offensichtliche Unverhältnismäßigkeit | 22 |
A.Vorbemerkungen
1§ 123 GWB regelt die zwingenden Ausschlussgründe. Dabei unterscheidet er zwischen den in Abs. 1 aufgezählten Straftatbeständen und der in Abs. 4 geregelten Verletzung von Abgabe- und Beitragspflichten. § 123 Abs. 5 GWB sieht Ausnahmen vor, unter denen von einem Ausschluss abgesehen werden kann. Die Vorschrift beruht auf dem VergRModG 2016 und dient der Umsetzung der Bestimmungen des Art. 57 Abs. 1, 2, 3 und 5 UAbs. 1 VRL. Weitere Anpassungen, die ausschließlich § 123 Abs. 1 Nr. 6 und 10 GWB betraf, erfolgen durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels1 und das Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters.2
2Die Vorschrift steht in Kapitel 1 Abschnitt 2 des Vierten Teils des GWB und ist daher unmittelbar nur gem. § 115 GWB auf die Vergabe öffentlicher Aufträge und die Ausrichtung von Wettbewerben durch öffentliche Auftraggeber anwendbar.3 Darüber hinaus gilt sie gem. § 142 Nr. 2 GWB ebenso für die Vergabe von Aufträgen durch öffentliche Sektorenauftraggeber (i. S. d. § 100 Abs. 1 Nr. 1 GWB),4 gem. § 147 GWB für die Vergabe von verteidigungs- und sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen5 sowie gem. § 154 Nr. 2 GWB für die Vergabe von Konzessionen durch öffentliche Konzessionsgeber und öffentliche Sektorenkonzessionsgeber (i. S. d. § 101 Abs. 1 Nr. 1 und 2 GWB).6 § 123 GWB ist zudem auch auf die Vergabe von Aufträgen durch private Sektorenauftraggeber (i. S. d. § 100 Abs. 1 Nr. 2 GWB)7 und gem. § 154 Nr. 2 GWB auf die Vergabe von Konzessionen durch private Sektorenkonzessionsgeber (i. S. d. § 101 Abs. 1 Nr. 3 GWB) anwendbar,8 insoweit jedoch jeweils mit der Maßgabe, dass der Auftraggeber bei Vorliegen des Ausschlussgrunds ausschließen „kann“, aber nicht muss; damit werden die Ausschlussgründe des § 123 GWB für private Sektorenauftraggeber und private Sektorenkonzessionsgeber zu fakultativen Ausschlussgründen. § 123 GWB gilt auch für Bauaufträge; lediglich auf untergesetzlicher Ebene enthält die VOB/A eigene, teils von der VgV oder der VSVgV abweichende Vorschriften.
3Der Schutzzweck des § 123 GWB entspricht dem des § 122 GWB. Der Vorschrift kommt damit auch drittschützende Wirkung zu.9
B.Ausschluss von der Teilnahme am Vergabeverfahren wegen Straftat (Abs. 1)
4Die Regelung dient der Umsetzung der Vorgaben aus Art. 57 Abs. 1 UAbs. 1 VRL. Während der Vergabestelle bei der sonstigen Eignungsprüfung in der Regel ein Ermessens- und Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, muss ein Unternehmen zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dem öffentlichen Auftraggeber eine dem Unternehmen zurechenbare Verurteilung einer natürlichen Person oder die Festsetzung einer Geldbuße gegen das Unternehmen wegen einer der in § 123 Abs. 1 GWB aufgezählten Straftaten bekannt ist oder eine abgaben- oder sozialbeitragsrechtliche Verfehlung durch das Unternehmen vorliegt. Zu beachten ist allerdings die Sperrfrist des § 126 Nr. 1 GWB und das dabei auszuübende Ermessen.10
I.Erfasste Tatbestände
5Der zwingende Ausschluss nach § 123 GWB gilt nur für die in dessen Abs. 1 oder 2 genannten Straftatbestände. Die Auswahl der Strafvorschriften beruht auf Art. 57 VRL. Es handelt sich dabei um die, den in dieser EU-Vorschrift beschriebenen Delikten entsprechenden Tatbestände des deutschen Strafrechts. Danach erfasst § 123 Abs. 1 GWB folgende Straftatbestände:
– § 123 Abs. 1 Nr. 1 GWB. Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen im In- oder Ausland gem. §§ 129, 129a oder 129b StGB11
– § 123 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Begehung oder Beteiligung an Terrorismusfinanzierung gem. § 89c StGB sowie Bereitstellung oder Sammlung finanzieller Mittel für eine schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Abs. 2 Nr. 2 StGB12
– § 123 Abs. 1 Nr. 3 GWB. Geldwäsche und Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte gem. § 261 StGB13
– § 123 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Betrug gem. § 263 StGB,14 soweit sich die Straftat gegen den Haushalt der EU oder gegen Haushalte richtet, die von der EU oder in ihrem Auftrag verwaltet werden
– § 123 Abs. 1 Nr. 5 GWB. Subventionsbetrug gem. § 264 StGB,15 soweit sich die Tat gegen den EU-Haushalt oder gegen Haushalte richtet, die von der EU oder in ihrem Auftrag verwaltet werden
– § 123 Abs. 1 Nr. 6 GWB. Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr gem. § 299 StGB16 sowie Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen gem. §§ 299a und 299b StGB17
– § 123 Abs. 1 Nr. 7 GWB. Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern gem. § 108e StGB18
– § 123 Abs. 1 Nr. 8 GWB. Vorteilsgewährung und Bestechung gem. §§ 333 und 334 StGB jeweils auch i. V. m. § 335a StGB19
– § 123 Abs. 1 Nr. 9 GWB. Bestechung ausländischer Abgeordneter im Zusammenhang mit internationalem Geschäftsverkehr gem. Art. 2 § 2 des Gesetzes zur Bekämpfung internationaler Bestechung20
– § 123 Abs. 1 Nr. 7 GWB. Menschenhandel, Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung gem. §§ 232, 232a Abs. 1 bis 5, §§ 232b bis 233a StGB21
6Darüber hinaus werden diesen Tatbeständen gem. § 123 Abs. 2 GWB die entsprechenden Bestimmungen ausländischen Strafrechts gleichgesetzt. Das können auch Straftatbestände aus Staaten sein, die nicht zur EU gehören. Bei der Prüfung kann auf die Umschreibung der Delikte in Art. 57 Abs. 1 VRL zurückgegriffen werden, der die zum Ausschluss führenden Straftatbestände unionsweit festlegt. Erfasst sind somit Tatbestände der organisierten Kriminalität, des Menschenhandels, der Geldwäsche und Bestechung sowie Vermögensstraftaten, die sich gegen Haushalte der EU richten. Vermögensstraftaten, die sich gegen deutsche oder ausländische Haushalte richten, werden von dem Katalog des § 123 GWB nicht erfasst. Soweit solche und andere Straftaten begangen wurden, kann ein Ausschluss im Rahmen der fakultativen Ausschlussgründe erfolgen. In der Regel dürfte bei vergleichbaren Vergehen der Ausschlussgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB in Betracht kommen.22
II.Zurechenbare Verurteilung oder Festsetzung einer Geldbuße (Abs. 2 und 3)
7Der zwingende Ausschluss gem. § 123 Abs. 1 GWB setzt voraus, dass eine Person, die dem Unternehmen zurechenbar ist, rechtskräftig verurteilt oder gegen das Unternehmen rechtskräftig eine Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG festgesetzt wurde. Darüber hinaus beabsichtigt die Bundesregierung, im Rahmen eines sog. Gesetzes zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG) die Verhängung von Sanktionen gegen Unternehmen und sonstige juristische Personen zu ermöglichen. Der Gesetzesentwurf sieht in seinem Art. 11 Nr. 2 auch eine Anpassung des GWB vor, sodass auch Verurteilungen nach diesem Gesetz einen zwingenden Ausschluss erfordern würden.23
1.Dem Unternehmen zurechenbare Verurteilung einer Person
8a) Verurteilung. Die dem Unternehmen zurechenbare Person muss rechtskräftig verurteilt sein. Die Verwirklichung des Straftatbestands, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Person oder das Vorliegen eines noch nicht rechtskräftigen Urteils reichen nicht aus.24 In diesen Fällen kann aber ein Ausschluss im Rahmen der fakultativen Ausschlussgründe in Betracht kommen, insbesondere nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB.25 Für eine rechtskräftige Verurteilung26 muss das laufende Verfahren beendet sein, ohne dass eine Änderung der Entscheidung möglich ist. Das ist in den Fällen gegeben, in denen nach Urteilsverkündung die Rechtsmittelfrist für ein ordentliches Rechtsmittel, also einer Berufung oder Revision, abgelaufen ist oder auf Rechtsmittel von Seiten des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft verzichtet oder ein solches zurückgenommen wurde. Ausreichend ist der Erlass eines Strafbefehls nach Ablauf der 2-Wochenfrist für einen Einspruch, gegen den kein Einspruch eingelegt oder ein solcher nachträglich zurückgezogen wurde, da dieser aufgrund der Bestandskraft gem. § 410 Abs. 3 StPO einer rechtskräftigen Verurteilung gleichsteht.27 Eine Einstellung, auch unter Auflagen, nach den §§ 153 ff. StPO reicht nicht aus, da keine Verurteilung vorliegt. Wie dem Hinweis des § 123 Abs. 2 GWB auf die Strafnormen ausländischer Staaten zu entnehmen ist, kommen dabei auch Verurteilungen durch ausländische und internationale Gerichte in Betracht. Vor dem Hintergrund des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips, das im Rahmen der verfassungsgemäßen Auslegung zu beachten ist, kommen nur solche Verurteilungen in Betracht, die in rechtsstaatlich unbedenklichen Verfahren ergangen sind.28
9b) Zurechenbarkeit (Abs. 3). Da sich nach deutschem Strafrecht nur natürliche Personen strafbar machen können und an Vergabeverfahren Unternehmen teilnehmen, muss die Straftat dem Unternehmen zurechenbar sein. Das strafrechtlich relevante Verhalten einer Person ist einem Unternehmen zuzurechnen, wenn diese Person „als für die Leitung des Unternehmens Verantwortlicher“ gehandelt hat. Welche Person als für die Leitung des Unternehmens verantwortliche Person zu qualifizieren ist, hängt wesentlich von der Rechtsform und der Organisationsstruktur ab. Während nach früherem Recht auf die verantwortliche Führung der Geschäfte abgestellt wurde (§ 6a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 VOB/A a. F.), kommt nach § 123 Abs. 3 GWB nur die Zurechnung in Betracht, wenn die verurteilte Person für die Leitung des Unternehmens verantwortlich ist. Zur Leitung des Unternehmens wird gem. § 123 Abs. 3 2. HS GWB auch die Überwachung der Geschäftsführung und die sonstige Ausübung von Kontrollbefugnissen in leitender Stellung gezählt. Die Bestimmung setzt Art. 57 Abs. 1 UAbs. 2 VRL um und muss angesichts des abweichenden Wortlauts unter Berücksichtigung dieser europarechtlichen Vorgabe ausgelegt werden. Zum Schutz des betroffenen Unternehmens und der Wettbewerber darf der nationale Gesetzgeber die EU-rechtlichen Vorgaben weder ausweiten noch einengen. Nach Art. 57 Abs. 1 UAbs. 2 VRL erfolgt eine Zurechnung, wenn der Verurteilte Mitglied „im Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsgremium dieses Wirtschaftsteilnehmers ist oder darin Vertretungs-, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnisse“ innehat.
10Die erste Fallgruppe erfasst alle Organmitglieder von Unternehmensorganisationen, soweit diesen Organen Leitungs-, Verwaltungs- oder Aufsichtsfunktionen zukommen. Der Begriff „Gremien“ legt eine gewisse organisatorische Form oder Gruppierung nahe. Erfasst sind Mitglieder von Vorständen, Aufsichtsräten und der Geschäftsführung, den typischen Leitungs- und Aufsichtsgremien von Unternehmen.29 In der GmbH ist auch die Gesellschafterversammlung ein wesentliches Leitungs- und Kontrollgremium (vgl. §§ 45 ff. GmbHG). Da sich die Rechte der Gesellschafter nach dem Gesellschaftsvertrag (Satzung) richten, ist die jeweilige Ausgestaltung insbesondere bei Gesellschaften mit einer Großzahl von Gesellschaftern zu berücksichtigen. Bei einer GmbH mit nur einem Gesellschafter kann dieser über die Gesellschafterversammlung das Unternehmen direkt lenken. Die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft dürfte dagegen i. d. R. kein Leitungs- und Kontrollgremium sein, das eine Zurechnung des Verhaltens der Aktionäre rechtfertigt, da sie keine verantwortliche Leitung wahrnimmt und auch die Kontrolle überwiegend über das Gremium des Aufsichtsrats ausübt wird. Insbesondere bei kleinen Aktiengesellschaften kann diese bei entsprechender Ausgestaltung anders zu beurteilen sein.
11Die zweite Fallgruppe betrifft Personen, die – ohne Gremienmitglied zu sein – Verantwortung im Unternehmen tragen. Nach Art. 57 Abs. 1 UAbs. 2 VRL genügt es, dass die Person in dem Unternehmen Vertretungs-, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnisse innehat. Das Wort „darin“ bezieht sich auf das Unternehmen, nicht das Leitungsgremium.30 Ob die Verurteilung von Einzelgeschäftsführern, Komplementären oder sonstigen geschäftsführenden Gesellschaftern einer Personengesellschaft (oHG, KG, GbR) bereits als Gremienmitglied oder nach der zweiten Fallgruppe zuzurechnen ist, kann dahinstehen. Nach der Gesetzesbegründung31 sind auch Prokuristen erfasst.32 Ihnen kommt gem. § 49 Abs. 1 HGB umfassende Vertretungsmacht für das Unternehmen zu. Offen ist, ob mit dem Begriff des Unternehmens die Gesellschaft oder juristische Person als ganze gemeint ist oder auch wirtschaftlich verselbstständigte Einheiten innerhalb einer Gesellschaft oder einer juristischen Person, wie etwa eine Niederlassung. Unklar ist daher, in wieweit etwa die Verurteilung eines Niederlassungsleiters, der keinem geschäftsführenden Gremium angehört, aber eine selbstständige Unternehmenseinheit leitet, den Ausschluss des Unternehmens insgesamt rechtfertigt.
12Es wird aus Verhältnismäßigkeitsgründen als fraglich erachtet, dass ein Verhalten zugerechnet wird, das keinen Bezug zum Unternehmen aufweist, sondern allein private Aktivitäten des Verantwortlichen betrifft. Im Ordnungswidrigkeitenrecht komme nach § 30 Abs. 1 OWiG die Verhängung einer Geldbuße gegen das Unternehmen selbst auch nur in Betracht, wenn dieses bereichert ist oder eine betriebsbezogene Pflichtverletzung vorliegt.33 Eine entsprechende Anwendung dieser Norm erscheint jedoch äußerst fraglich. Der Gesetzgeber hatte die Regelung des § 30 OWiG vor Augen, dessen Regelungsgehalt hinsichtlich der Festsetzung der Geldbuße auch Eingang in die Vorschrift des § 123 Abs. 1 GWB gefunden hat. Auch in § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB wird bei schwerwiegenden Verfehlungen ausdrücklich verlangt, dass diese „im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ begangen worden sind. Eine solche Maßgabe fehlt bei § 123 Abs. 1 GWB. Allerdings muss der Täter nach der deutschen Vorschrift „als“ für die Leitung verantwortliche Person gehandelt haben. Nach der amtlichen Begründung soll damit der erforderliche Unternehmensbezug hergestellt werden. „Eine ausschließlich im privaten Zusammenhang stehende Straftat beispielsweise des Geschäftsführers eines Unternehmens, die keinen Bezug zur wirtschaftlichen Tätigkeit des Unternehmens aufweist“, stelle keinen Ausschlussgrund nach § 123 GWB dar.34 Diese Sichtweise begegnet unionsrechtlichen Bedenken. Straftaten wie Menschenhandel, terroristische Verbrechen oder Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung dürften oft gerade nicht in Ausübung der leitenden Position in einem am Wirtschaftsverkehr teilnehmenden Unternehmens begangen werden, sodass die Vorschrift in vielen Fällen leerliefe. Diese Sichtweise widerspricht auch den EU-rechtlichen Vorgaben. Art. 57 Abs. 1 UAbs. 2 VRL schreibt in Bezug auf die Zurechnung der Verurteilung einer Einzelperson vor, dass der zwingende Ausschluss immer Anwendung finde, „wenn die rechtskräftig verurteilte Person ein Mitglied im Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsgremium dieses Wirtschaftsteilnehmers ist oder darin Vertretungs-, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnisse hat“. Insoweit ist kein Raum für eine einschränkende Auslegung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Richtliniengeber davon ausgegangen ist, dass es sich bei den Straftaten um derart massive Rechtsverletzungen handelt, die die Zuverlässigkeit des Unternehmens nachhaltig in Frage stellen, selbst wenn der Straftäter nicht in seiner unternehmerischen Funktion gehandelt hat. Sie stellen die Zuverlässigkeit der betreffenden Person derart absolut in Frage, dass dieser Makel unmittelbar auf das durch diese Person geleitete oder kontrollierte Unternehmen durchschlägt. In diesem Sinne muss § 123 GWB unionskonform und entgegen der amtlichen Gesetzesbegründung ausgelegt werden, soweit eine Verurteilung wegen Straftaten des § 123 Abs. 1 GWB vorliegt. Anders ist dies im Rahmen des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB zu beurteilen.35 Eine Konzernhaftung ist damit nicht verbunden. § 123 Abs. 3 GWB knüpft an die Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse für ein konkretes Unternehmen an und nicht an die Zugehörigkeit zur Unternehmensgruppe.36 Es bedarf der genauen Prüfung, ob die betreffende Person durch Innehaben mehrerer Positionen auch mehrere Unternehmen (direkt) kontrolliert oder über eine verantwortliche Position mittelbar Einfluss etwa auf andere Konzernunternehmen hat, etwa als Geschäftsführer oder Vorstand des Mutterunternehmens, das als beherrschendes Unternehmen einer Aktiengesellschaft (vgl. § 17 AktG) oder über die Gesellschafterversammlung einer GmbH auch Kontrolle über das Tochterunternehmen ausübt.37
2.Festsetzung einer Geldbuße gegen das Unternehmen
13Da das deutsche Strafrecht dem strikten Schuldgrundsatz unterworfen ist, werden Kriminalstrafen nicht gegen juristische Personen und Personenvereinigungen verhängt. Da vielfach Unternehmen von der Verwirklichung von Straftaten durch Einzelpersonen profitieren, sollen sie über § 30 Abs. 1 OWiG sanktioniert werden.38 Dies erfolgt durch Festsetzung einer Geldbuße und setzt voraus, dass der Straftäter zum einen in unternehmerischer Funktion gehandelt hat und zum anderen die Verwirklichung des Straftatbestands auf der Verletzung von das Unternehmen treffenden Pflichten beruht, das Unternehmen bereichert hat oder die Absicht zur Bereicherung des Unternehmens bestand. Rechtskräftig39 wird die Festsetzung einer Geldbuße durch den Ablauf der Einspruchsfrist. Allerdings ist umstritten, ob bereits die rechtskräftige Festsetzung einer Geldbuße gegen das Unternehmen40 oder erst die rechtskräftige Verurteilung einer Person41 einen zwingenden Ausschluss nach § 123 Abs. 1 GWB begründen kann. Der Wortlaut des zugrunde liegenden Art. 57 Abs. 1 VRL verlangt eine „rechtskräftige Verurteilung“. Eine solche setzt die rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts voraus. Das behördliche Bußgeldverfahren fällt nicht unter diesen Begriff. Dies bekräftigen auch die englische und die französische Sprachfassung der Richtlinie, in der von „final judgment“ bzw. „jugement définitif“ die Rede ist. Weiterhin spricht für eine solche am Wortlaut orientierte Auslegung, dass Art. 57 Abs. 2 VRL, im Gegensatz zu Art. 57 Abs. 1, ausdrücklich auch auf endgültige Verwaltungsentscheidungen Bezug nimmt. Die Festsetzung einer Geldbuße als Grundlage für einen zwingenden Ausschluss begegnet daher EU-rechtlichen Bedenken.42 Soweit mithin gegen eine rechtskräftig festgesetzte Geldbuße kein Einspruch eingelegt wird, kann das Unternehmen nicht nach § 123 GWB vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden, da es an der rechtskräftigen „Verurteilung“ fehlt. Wird hingegen ein Einspruch eingelegt, findet eine Hauptverhandlung statt und es ergeht eine gerichtliche Entscheidung, die nach den allgemeinen Regeln der StPO rechtskräftig werden kann, wenn gegen sie kein ordentliches Rechtsmittel innerhalb der Frist von zwei Wochen eingelegt, auf ein solches beidseitig verzichtet oder ein Rechtsmittel zurückgenommen wird. In diesem Fall ist ein zwingender Ausschluss möglich. Solange nur eine Geldbuße festgesetzt wurde, kann allenfalls nach § 124 GWB, insbesondere § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB, vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden.
14In unternehmerischer Funktion handelt eine Person in den folgenden in § 30 Abs. 1 OWiG aufgezählten Fällen:
„1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs,
2. als Vorstand eines nicht rechtsfähigen Vereins oder als Mitglied eines solchen Vorstandes,
3. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft,
4. als Generalbevollmächtigter oder in leitender Stellung als Prokurist oder Handlungsbevollmächtigter einer juristischen Person oder einer in Nr. 2 oder 3 genannten Personenvereinigung oder
5. als sonstige Person, die für die Leitung des Betriebs oder Unternehmens einer juristischen Person oder einer in Nr. 2 oder 3 genannten Personenvereinigung verantwortlich handelt, wozu auch die Überwachung der Geschäftsführung oder die sonstige Ausübung von Kontrollbefugnissen in leitender Stellung gehört,“
15Zur Vermeidung der Flucht der Gesellschaft aus der Verantwortung kann die Geldbuße gem. § 30 Abs. 2a OWiG im Falle „einer Gesamtrechtsnachfolge oder einer partiellen Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung (§ 123 Abs. 1 des Umwandlungsgesetzes)“ auch gegen den Rechtsnachfolger festgesetzt werden. Die Geldbuße kann auch grds. unabhängig davon festgesetzt werden, ob wegen der Straftat ein Verfahren gegen den persönlichen Täter eingeleitet wird (vgl. § 30 Abs. 4 OWiG). Ab einer Geldbuße von über 200 Euro ist die rechtskräftige Festsetzung gem. § 149 Abs. 2 Nr. 3 GewO im Gewerbezentralregister einzutragen.
III.Kenntnis von der Verurteilung oder Festsetzung einer Geldbuße
16Nach § 123 Abs. 1 GWB muss der Auftraggeber „Kenntnis“ von der Verurteilung oder der Festsetzung der Geldbuße haben. Das setzt positive Kenntnis voraus. Eine Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers, ohne Anhaltspunkte Nachforschungen anzustellen, besteht nicht. Allerdings muss er Hinweisen nachgehen, wenn ihm Anhaltspunkte für etwaige Verstöße bekannt werden.43 Eine Reihe von landesgesetzlichen oder auf Basis von Verwaltungsvorschriften in den Ländern ergangenen Regelungen sehen Korruptionsregister oder vergleichbaren Listen vor,44 die eine Kenntnis vermitteln können. Das neue bundeseinheitliche Wettbewerbsregister, das nach § 1 Abs. 1 WRegG beim Bundeskartellamt eingerichtet wird, wird diese ablösen.45 Ziel des Gesetzgebers ist die Einrichtung einer elektronischen Datenbank, die ein automatisiertes, elektronisches Abrufverfahren ermöglicht.46 Insgesamt wird auf diese Weise eine Möglichkeit für öffentliche Auftraggeber geschaffen, überhaupt Kenntnis von einer Verurteilung bzw. Festsetzung einer Geldbuße zu erlangen, die über den Bereich eines Landesregisters hinausgeht. Die Einführung eines derartigen Bundesregisters ist zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich und sinnvoll, denn die Bekämpfung etwa von Korruption hat dann den größten Erfolg, wenn sie länderübergreifend erfolgt.47 Im Interesse eines fairen, diskriminierungsfreien Wettbewerbs und einer effektiven Kontrolle im Vergabeverfahren ist dies zu begrüßen. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) und Nr. 3 sowie Abs. 3 WRegG sind insbesondere Verurteilungen und Bußgeldfestsetzungen wegen der Straftaten nach § 123 Abs. 1 GWB in das Wettbewerbsregister einzutragen. Eine Sperre für die Teilnahme an der Vergabe öffentlicher Aufträge resultiert hieraus – wie § 6 Abs. 5 WRegG zum Ausdruck bringt – noch nicht.48 Öffentliche Auftraggeber müssen und können nach Maßgabe des § 6 WRegG das Register jedoch abfragen, wodurch sie Kenntnis von potentiellen Ausschlussgründen erlangen. Dieser Abfragepflicht wird man drittschützende Wirkung zugestehen müssen. Das Inkrafttreten des neuen Wettbewerbsregisters hängt jedoch nach § 12 Abs. 1 WRegG noch vom Erlass einer Rechtsverordnung gem. § 10 WRegG ab, die insbesondere inhaltliche und technische Vorgaben für das Register trifft.49 Die neue bundeseinheitliche Regelung vereinfacht letztlich die Kontrolle der Vergabe öffentlicher Aufträge an geeignete Unternehmen und animiert zugleich präventiv zu einem rechtmäßigen Wirtschaftshandeln der Unternehmen.
C.Verletzung der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen (Abs. 4)
I.Zwingender Ausschluss
17Öffentliche Auftraggeber müssen nach § 123 Abs. 4 GWB Unternehmen ausschließen, wenn diese der Verpflichtung zur Zahlung von Steuern, Abgaben und Sozialbeiträgen nicht nachgekommen sind und dies durch rechtskräftige Gerichts- oder bestandskräftige Verwaltungsentscheidung festgestellt wurde oder der öffentliche Auftraggeber auf andere geeignete Weise die Verletzung nachweisen kann. Der europäische Gesetzgeber stellt damit einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Zahlung von Steuern, Abgaben und Sozialbeiträgen auf dieselbe Stufe wie die Verwirklichung der in Absatz 1 genannten Straftatbestände. Vor der Novellierung durch das VergRModG 2016 galt eine Verletzung dieser Pflicht als fakultativer Ausschlussgrund. Erfasst werden neben Steuer- und Abgabenstraftatbeständen auch rechtskräftige Entscheidungen wegen Unregelmäßigkeiten bei der Zahlung von Sozialabgaben.50 Der Verstoß gegen § 370 AO sowie § 266a StGB fällt nunmehr unter den Abs. 4, weswegen diese Straftatbestände nicht in dem Katalog des Absatz 1 aufgezählt werden.51 Der neue Tatbestand stellt aber nicht auf die Verurteilung oder die auf sonstige Weise festgestellte Verwirklichung des Straftatbestands durch eine verantwortliche Person des Unternehmens ab. Nach § 123 Abs. 4 GWB kommt es auf die Nichterfüllung von Steuer-, Abgaben- und Beitragspflichten durch das Unternehmen, das sich um den Auftrag bewirbt, selbst an. Hat etwa ein Geschäftsführer privat seine Steuern oder Abgaben nicht ordnungsgemäß abgeführt, kann darauf kein zwingender Ausschluss nach § 123 Abs. 4 GWB gestützt werden.52 Neben einer rechtskräftigen Gerichts- oder einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung reicht ein anderer geeigneter Nachweis der Verletzung aus. Eine Gerichtsentscheidung ist rechtskräftig, wenn kein Rechtsmittel mehr besteht und sie damit grundsätzlich endgültig ist.53 Eine Verwaltungsentscheidung ist bestandskräftig, wenn sie nicht mehr anfechtbar ist, also kein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung mehr gegeben ist. Solche Entscheidungen sind im Bundes- oder im Gewerbezentralregister dokumentiert und abrufbar. Durch das Wettbewerbsregister werden rechtskräftige Verurteilungen wegen § 266a StGB sowie Steuerhinterziehung (§ 370 AO) erfasst und können bzw. müssen dort abgerufen werden, sobald das Register in Betrieb ist.54 Liegt keine Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung vor, ist das Erbringen eines Nachweises für den öffentlichen Auftraggeber häufig sehr schwierig.55 Anhaltspunkte können sich aus einer noch nicht rechts- oder bestandskräftigen Entscheidung oder, soweit dem Auftraggeber ein Auskunftsrecht nach §§ 474 oder 475 StPO zusteht, aus den strafrechtlichen Ermittlungsakten ergeben. Einen Ausschluss können solche Indizien nur rechtfertigen, wenn ein Nachweis vorliegt, also z. B. Ermittlungsergebnisse vorliegen, die einer gerichtlichen Prüfung standgehalten haben.56
II.Selbstreinigung durch Bezahlung
18Ein Ausschluss nach Abs. 4 ist gem. § 123 Abs. 4 Satz 2 GWB nicht mehr zulässig, wenn das Unternehmen seinen Verpflichtungen durch nachträgliche Zahlung oder durch Verpflichtung zur nachträglichen Zahlung einschließlich etwaiger Zinsen, Säumnis- und Strafzuschlägen nachgekommen ist. Die Vorschrift stellt eine besondere Regelung der Selbstreinigung – speziell für die Ausschlusstatbestände des § 123 Abs. 4 Satz 1 GWB – dar.57 Soweit eine Eintragung im Wettbewerbsregister vorliegt, führt diese Selbstreinigung gem. § 8 Abs. 1 Satz 3 WRegG zur Löschung der Eintragung.58 Die Regelung des § 123 Abs. 4 Satz 2 GWB soll nach der Gesetzesbegründung der Selbstreinigung nach § 125 GWB vorgehen,59 was wohl aus § 125 Abs. 1 Satz 2 GWB abgeleitet wird. Danach bleibt § 123 Abs. 4 Satz 2 GWB von der allgemeinen Selbstreinigungsregelung60 unberührt. Ein Vorrang lässt sich daraus nicht ableiten. Beide Regelungen sind grundsätzlich nebeneinander anwendbar.
D.Zeitpunkt
19Ein Unternehmen kann von dem öffentlichen Auftragnehmer zu jedem Zeitpunkt innerhalb des Vergabeverfahrens ausgeschlossen werden, wenn er Kenntnis von dem zwingenden Ausschlussgrund erlangt. Das dient der Umsetzung des Art. 57 Abs. 5 UAbs. 1 VRL, der darauf abstellt, dass sich herausstellt, dass sich der Wirtschaftsteilnehmer in einer der in den Ausschlusstatbeständen beschriebenen Situationen befindet. Selbst wenn der Auftraggeber bereits die Eignungsprüfung abgeschlossen hat, muss er Anhaltspunkte, die das Vorliegen eines zwingenden Ausschlussgrundes nahelegen, aufgreifen und ggf. erneut in die Prüfung einsteigen. Soweit sich dies als erforderlich erweist, muss er auch entsprechende Erkundigungen einholen.61 Der letztmögliche Zeitpunkt für einen Ausschluss nach § 123 GWB ist unmittelbar vor der Zuschlagserteilung.62 Erfährt der öffentliche Auftraggeber erst nach der Zuschlagserteilung vom Vorliegen eines zwingenden Ausschlussgrundes oder liegt ein solcher erst später vor, kommt eine Kündigung nach § 133 Abs. 1 Nr. 2 GWB in Betracht.63
E.Ausnahmen vom zwingenden Ausschluss (Abs. 5)
20Liegt ein zwingender Ausschlussgrund vor, kann – abgesehen von der Möglichkeit der Selbstreinigung nach § 125 GWB64 (vgl. § 123 Abs. 5 Satz 3 GWB) – nur in den in § 123 Abs. 5 GWB geregelten beiden Ausnahmefällen von einem Ausschluss abgesehen werden. Nach der ersten Alternative kann die durch die rechtskräftige Verurteilung indizierte Unzuverlässigkeit des Unternehmens aus zwingenden überwiegenden Allgemeinwohlgründen überwunden werden. Nach der zweiten Alternative muss im Einzelfall ein Ausschluss offensichtlich unverhältnismäßig sein; sie findet nur bei Verletzungen der Verpflichtungen nach § 123 Abs. 4 GWB Anwendung.65 Beide Ausnahmetatbestände sind eng auszulegen.66
I.Vorrangiges zwingendes öffentliches Interesse
21Nach der ersten Alternative muss ein zwingendes Allgemeininteresse vorliegen. Ein solches öffentliches Interesse liegt vor, wenn die Erbringung der Leistung einem Allgemeinzweck dient, was bei öffentlichen Auftraggebern meist der Fall sein dürfte. Zwingend ist es allerdings nur, wenn die Erbringung der Leistung für die Erreichung des Allgemeininteresses notwendig ist. Weitere Voraussetzung ist, dass andere Unternehmen die fragliche Leistung nicht angemessen erbringen können. Damit wird nicht zum Ausdruck gebracht, dass die Erbringung durch dritte Unternehmen ausgeschlossen ist. Sie muss aber unangemessen sein, d. h. mehr als unerhebliche Nachteile gegenüber einer Ausführung durch das Unternehmen, dessen Verantwortliche sich der Strafrechtsverstöße schuldig gemacht haben, für den Auftraggeber mit sich bringen. Bei der Prüfung der Angemessenheit ist das von dem öffentlichen Auftraggeber mit der Beschaffung verfolgte Allgemeininteresse bzw. das Interesse an einer effektiven Leistungserbringung zu diesem Zweck abzuwägen mit dem Interesse, dass der Auftrag durch einen zuverlässigen Auftragnehmer ausgeführt wird. Es genügt nicht, wenn die Beauftragung des Unternehmens aus Gründen des öffentlichen Interesses sinnvoll erscheint oder das Unternehmen ein günstiges Angebot unterbreitet hat.67 Zugleich muss der mit der Leistungserbringung verfolgte öffentliche Zweck auch geeignet sein, die Ungleichbehandlung gegenüber den Mitbietern, die sich gesetzestreu verhalten haben, zu rechtfertigen. Im Hinblick hierauf kommt der Bestimmung auch drittschützende Wirkung zu. Der Ausnahmetatbestand ist restriktiv anzuwenden und kommt nur in Betracht, wenn die Notwendigkeit der jeweils zu erfüllenden Aufgabe überwiegt.68 Ein Beispielsfall, in dem das öffentliche Interesse überwiegt, liegt nach dem Erwägungsgrund 100 VRL vor, wenn ein Impfstoff oder eine Notfallausrüstung dringend benötigt wird und nur von einem Wirtschaftsteilnehmer erworben werden kann, bei dem sonst ein Ausschlussgrund vorliegen würde.
II.Offensichtliche Unverhältnismäßigkeit