Читать книгу Vergaberecht - Corina Jürschik - Страница 106
Оглавление22Eine weitere Ausnahme vom Ausschluss nach § 123 Abs. 4 GWB kann vorliegen, wenn ein Ausschluss offensichtlich unverhältnismäßig wäre. Diese Regelung ist weniger eng formuliert.69 Die Regelung setzt Art. 57 Abs. 3 UAbs. 2 VRL um. Als Beispiel für eine Unverhältnismäßigkeit nennt die EU-Vorschrift den Fall, dass „nur geringfügige Beträge an Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen nicht gezahlt wurden“ oder dass ein Unternehmen erst so spät über die ausstehenden Steuern, Abgaben oder Sozialbeiträge unterrichtet wurde, dass es keine Möglichkeit hatte, den Betrag zu zahlen oder sich zur Zahlung zu verpflichten, um sich gem. § 123 Abs. 4 Satz 2 GWB selbst zu reinigen. Ein Indiz für letztgenannten Fall kann sein, dass die Bezahlung unmittelbar nach Fristablauf erfolgt.
§ 124 GWBFakultative Ausschlussgründe
(1) Öffentliche Auftraggeber können unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Unternehmen zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen, wenn
1. das Unternehmen bei der Ausführung öffentlicher Aufträge nachweislich gegen geltende umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtliche Verpflichtungen verstoßen hat,
2. das Unternehmen zahlungsunfähig ist, über das Vermögen des Unternehmens ein Insolvenzverfahren oder ein vergleichbares Verfahren beantragt oder eröffnet worden ist, die Eröffnung eines solchen Verfahrens mangels Masse abgelehnt worden ist, sich das Unternehmen im Verfahren der Liquidation befindet oder seine Tätigkeit eingestellt hat,
3. das Unternehmen im Rahmen der beruflichen Tätigkeit nachweislich eine schwere Verfehlung begangen hat, durch die die Integrität des Unternehmens infrage gestellt wird; § 123 Absatz 3 ist entsprechend anzuwenden,
4. der öffentliche Auftraggeber über hinreichende Anhaltspunkte dafür verfügt, dass das Unternehmen mit anderen Unternehmen Vereinbarungen getroffen oder Verhaltensweisen aufeinander abgestimmt hat, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken,
5. ein Interessenkonflikt bei der Durchführung des Vergabeverfahrens besteht, der die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit einer für den öffentlichen Auftraggeber tätigen Person bei der Durchführung des Vergabeverfahrens beeinträchtigen könnte und der durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam beseitigt werden kann,
6. eine Wettbewerbsverzerrung daraus resultiert, dass das Unternehmen bereits in die Vorbereitung des Vergabeverfahrens einbezogen war, und diese Wettbewerbsverzerrung nicht durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen beseitigt werden kann,
7. das Unternehmen eine wesentliche Anforderung bei der Ausführung eines früheren öffentlichen Auftrags oder Konzessionsvertrags erheblich oder fortdauernd mangelhaft erfüllt hat und dies zu einer vorzeitigen Beendigung, zu Schadensersatz oder zu einer vergleichbaren Rechtsfolge geführt hat,
8. das Unternehmen in Bezug auf Ausschlussgründe oder Eignungskriterien eine schwerwiegende Täuschung begangen oder Auskünfte zurückgehalten hat oder nicht in der Lage ist, die erforderlichen Nachweise zu übermitteln, oder
9. das Unternehmen
a) versucht hat, die Entscheidungsfindung des öffentlichen Auftraggebers in unzulässiger Weise zu beeinflussen,
b) versucht hat, vertrauliche Informationen zu erhalten, durch die es unzulässige Vorteile beim Vergabeverfahren erlangen könnte, oder
c) fahrlässig oder vorsätzlich irreführende Informationen übermittelt hat, die die Vergabeentscheidung des öffentlichen Auftraggebers erheblich beeinflussen könnten, oder versucht hat, solche Informationen zu übermitteln.
(2) § 21 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, § 98c des Aufenthaltsgesetzes, § 19 des Mindestlohngesetzes und § 21 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes bleiben unberührt.
Schrifttum: Siehe die Hinweise zu §§ 122, 123 und 126 GWB.
Übersicht | Rn. | ||
A. | Vorbemerkungen | 1, 2 | |
B. | Ausschlussgründe (Abs. 1) | 3–43 | |
I. | Ausschlusstatbestände | 4–41 | |
1. | Verstoß gegen umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtliche Verpflichtungen (Nr. 1) | 5 | |
2. | Insolvenz und Liquidation (Nr. 2) | 6–11 | |
a) | Insolvenztatbestände | 7–9 | |
b) | Liquidation und Einstellung des Geschäftsbetriebs | 10 | |
c) | Ermessensbetätigung im Rahmen des § 124 Abs. 1 Nr. 2 GWB | 11 | |
3. | Schwere Verfehlung im Rahmen beruflicher Tätigkeit (Nr. 3) | 12–16 | |
a) | Schwere Verfehlung | 13–15 | |
b) | Im Rahmen der beruflichen Tätigkeit | 16 | |
4. | Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen (Nr. 4) | 17–20 | |
5. | Interessenkonflikt (Nr. 5) | 21–25 | |
6. | Vorbefassung (Nr. 6) | 26–28 | |
7. | Mangelhafte Leistung bei Ausführung früherer Aufträge (Nr. 7) | 29–32 | |
8. | Schwerwiegende Täuschung bei Eignungsprüfung (Nr. 8) | 33–35 | |
9. | Unzulässige Einflussnahme | 36–41 | |
a) | § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. a) GWB | 39 | |
b) | § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. b) GWB | 40 | |
c) | § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c) GWB | 41 | |
II. | Ermessen | 42 | |
III. | Zeitpunkt | 43 | |
C. | Ausschlussgründe nach sonstigem Recht (Abs. 2) | 44, 45 |
A.Vorbemerkungen
1§ 124 GWB regelt die fakultativen Ausschlussgründe. Die Vorschrift beruht auf dem VergRModG 2016 und dient der Umsetzung der Bestimmungen des Art. 57 Abs. 4 VRL. Eine weitere Anpassung, die ausschließlich § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB betraf, erfolgte im Jahr 2017 durch das Gesetz zur Einführung eines Wettbewerbsregisters und zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen.1 § 124 GWB steht in Kapitel 1 Abschnitt 2 des vierten Teils des GWB und ist daher gem. § 115 GWB unmittelbar nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge und die Ausrichtung von Wettbewerben durch öffentliche Auftraggeber anwendbar.2 Darüber hinaus gilt er gem. § 142 GWB ebenso für Sektorenaufträge,3 gem. § 147 GWB für die Vergabe von verteidigungs- und sicherheitsspezifischen öffentlichen Aufträgen4 und gem. § 154 Nr. 2 GWB für die Vergabe von Konzessionen.5 § 124 GWB gilt auch für Bauaufträge; lediglich auf untergesetzlicher Ebene enthält die VOB/A eigene, teils von der VgV oder der VSVgV abweichende Vorschriften.
2Der Schutzzweck des § 124 GWB entspricht dem des § 122 GWB. Der Vorschrift kommt damit auch drittschützende Wirkung zu.6
B.Ausschlussgründe (Abs. 1)
3Die fakultativen Ausschlussgründe des § 124 GWB regeln insbesondere Fälle, in denen die Integrität eines Unternehmens oder dessen Zuverlässigkeit oder Leistungsfähigkeit in Frage steht. Auch wenn ansonsten die fachliche Eignung des Unternehmens nach § 122 Abs. 2 GWB zu bejahen wäre, ist unabhängig davon ein Ausschluss zu prüfen.
I.Ausschlusstatbestände
4Der Katalog der fakultativen Ausschlusstatbestände orientiert sich eng an Art. 57 Abs. 4 VRL. Durch die Neuregelung mit dem VergRModG 2016 ist die Anzahl der Ausschlussgründe wesentlich erweitert. Der frühere fakultative Ausschlussgrund des Verstoßes gegen die Verpflichtung zur Zahlung von Steuern, Abgaben und Sozialbeiträgen ist nunmehr ein zwingender Ausschlussgrund nach § 123 Abs. 4 GWB.7
1.Verstoß gegen umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtliche Verpflichtungen (Nr. 1)
5§ 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB setzt mit der Möglichkeit eines Ausschlusses aufgrund eines Verstoßes gegen umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtlichen Verpflichtungen Art. 57 Abs. 4 lit. a) der VRL um und wurde durch das VergRModG 2016 neu eingeführt. Bislang wurden solche Verstöße als schwerwiegende Verfehlungen erfasst. Unter den Begriff der geltenden umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtlichen Verpflichtungen fallen sowohl europäische und internationale als auch deutsche Rechtsvorschriften,8 einschließlich Tarifverträgen und Übereinkommen.9 Auch die ILO-Kernarbeitsnormen und Zahlungsverpflichtungen gegenüber Sozialkassen, die in für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelt sind. Der Ausschlussgrund ist grundsätzlich weit gefasst, wird aber dadurch eingeschränkt, dass die Rechtsverstöße bei der Ausführung öffentlicher Aufträge verwirklicht worden sein müssen. Der Ausschlusstatbestand erfasst nur Rechtsverstöße durch das Bewerber- oder Bieterunternehmen; das Handeln von Unterauftragnehmern kann für sich genommen keinen Ausschluss bewirken.10 In Betracht kommen kann allerdings ein Verstoß des Hauptauftragnehmers gegen gesetzliche Kontrollpflichten gegenüber dem Nachunternehmer, der eine schwere Verfehlung i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB darstellen kann. Eine besondere Schwere des Verstoßes wird nach § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB – anders als nach Nr. 3 – nicht gefordert. Wiegt der Verstoß schwer, kann zugleich ein Ausschlussgrund nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB vorliegen. § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB ist keine Spezialregelung gegenüber Nr. 3. Beide Regelungen überschneiden sich, haben aber darüber hinaus jeweils weitergehende Anwendungsbereiche. Insbesondere bei schweren Verstößen im Zusammenhang mit beruflichen Tätigkeiten für Auftraggeber, die keine öffentlichen Auftraggeber sind, kommt ein Ausschluss wegen einer schweren Verfehlung in Betracht. Wie im Rahmen des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB muss auch der Verstoß i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB nachgewiesen werden. Bloße Verdachtsmomente genügen nicht. Bestimmte sozial- und arbeitsrechtliche Verstöße sind zukünftig in das Wettbewerbsregister beim Bundeskartellamt einzutragen,11 wenn eine bestandskräftige Bußgeldfestsetzung oder rechtskräftige Verurteilung in bestimmter Höhe vorliegt (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 2 WRegG). Erfasst sind insbesondere Tatbestände der in § 124 Abs. 2 GWB genannten Gesetze. Ob die Zurechnungsnorm des § 123 Abs. 3 GWB,12 auf die ausdrücklich nur in § 124 Abs. 1 Nr. 3 Bezug genommen wird,13 auf den Ausschlussgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB Anwendung findet, hat die Rechtsprechung bislang offengelassen.14
2.Insolvenz und Liquidation (Nr. 2)
6Die fakultativen Ausschlussgründe des § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB dienen der Umsetzung des Art. 57 Abs. 4 lit. b) VRL. Dabei ist zwischen den Insolvenztatbeständen einerseits und der Liquidation und Einstellung der Geschäftstätigkeit andererseits zu unterscheiden.
7a) Insolvenztatbestände. Ein Ausschluss ist möglich, wenn über das Vermögen des Bewerbers bzw. Bieters das Insolvenzverfahren oder ein vergleichbares gesetzliches Verfahren eröffnet ist. Mit dem Insolvenzverfahren vergleichbar sind insbesondere die entsprechenden Verfahren im Ausland. Sobald ein Grund zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vorliegt, also das Unternehmen zahlungsunfähig ist (§ 17 InsO) oder bei einer juristischen Person das Unternehmen überschuldet ist (§ 19 InsO) oder das Unternehmen selbst der Überzeugung ist, dass Zahlungsunfähigkeit droht und selbst einen Antrag stellt (§ 18 InsO), ist die Leistungsfähigkeit des Bewerbers oder Bieters in Zweifel gestellt. Das Unternehmen ist gegenüber Lieferanten und Finanzierungsinstituten nicht mehr kreditwürdig. Es droht die Abwanderung von Fachpersonal und sonstigem Personal. Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 124 Abs. 1 Nr. 2 GWB gegeben.
8Der Insolvenzeröffnung gleichgestellt sind die Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowie die Ablehnung eines Insolvenzantrags mangels Masse. Hierdurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es zum Zeitpunkt der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bereits zu spät ist und ein Zuwarten dem öffentlichen Auftraggeber nicht zumutbar ist. Bereits bei Stellung eines Insolvenzantrags ist das Unternehmen i. d. R. bereits in der Krise. Im Fall der Ablehnung mangels Masse fehlen ausreichende finanzielle Mittel zur Deckung der Kosten eines Insolvenzverfahrens, sodass es überhaupt nicht zu einer Verfahrenseröffnung kommt. In diesem Fall ist die Leistungsfähigkeit des Unternehmens noch bedeutend mehr in Frage gestellt.
9Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit wurde in Umsetzung von EU-Recht mit dem VergRModG 2016 neu eingeführt. Damit hängt das Vorliegen des Ausschlussgrunds nicht mehr davon ab, dass das Unternehmen oder ein Gläubiger (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 2 InsO) einen Insolvenzantrag stellt. Allerdings setzt dieser Tatbestand das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO, die insbesondere bei Zahlungseinstellung anzunehmen ist, voraus. Der Verweis auf eine i. d. R. einfache Verfahrenshandlung im Insolvenzverfahren, wie bei den anderen Insolvenztatbeständen, genügt nicht. Vielmehr muss der öffentliche Auftraggeber, der sich auf diese Tatbestandsalternative stützt, die materiellen Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit darlegen und beweisen können.
10b) Liquidation und Einstellung des Geschäftsbetriebs. Mit der Liquidation wird eine juristische Person oder Personengesellschaft, die aufgelöst werden soll, abgewickelt. Im Rahmen der Liquidation werden die Verbindlichkeiten des Unternehmens beglichen und das verbleibende Vermögen verteilt, etwa gem. § 60 ff. GmbHG bei der GmbH. Mit dem VergRModG 2016 neu eingeführt wurde der Ausschlussgrund der Einstellung der Geschäftstätigkeit, die in der Sache von dem öffentlichen Auftraggeber festgestellt werden muss, wenn er sich auf diesen Ausschlussgrund berufen will. In beiden Alternativen fällt der potentielle Auftragnehmer weg. Befindet sich das Unternehmen in Liquidation, ist absehbar, dass die juristische Person oder Gesellschaft nicht mehr existent ist. Die Beauftragung des Unternehmens in Liquidation bedeutet, dass der neue Auftrag Teil der Liquidation des Unternehmens wird. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit das Unternehmen noch leistungsfähig ist, wenn sein Vermögen zunehmend abgewickelt wird und ggf. Arbeitnehmer abwandern. Bei der Einstellung der Geschäftstätigkeit fehlt der Betrieb zur Erfüllung der Leistungspflichten aus dem Auftrag und damit die Leistungsfähigkeit. Daneben liegt mit der Aufgabe der Geschäftstätigkeit bereits begrifflich kein Wirtschaftsteilnehmer i. S. d. Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 VRL bzw. Unternehmen i. S. d. §§ 97 f. GWB vor.15
11c) Ermessensbetätigung im Rahmen des § 124 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Voraussetzung für eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung ist die Ermittlung des zutreffenden Sachverhalts. Üblich sind Eigenerklärungen zu den Ausschlussgründen, etwa in einer Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung (EEE). Möglich sind auch Angaben im Rahmen eines Präqualifizierungssystems (vgl. § 122 Abs. 3 GWB; § 6b EU Abs. 1 Nr. 1 VOB/A) oder entsprechende amtliche Bestätigungen.16 Bei der Ermessensentscheidung ist zu prüfen, ob die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit trotz Vorliegens des Aufhebungsgrundes gegeben ist. Die Durchführung des Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens führt nicht zwangsläufig zur Leistungsunfähigkeit, wenn die Insolvenz auf Sanierung und Erhaltung des Unternehmens gerichtet ist oder der Auftrag noch vor Beendigung der Abwicklung des Unternehmens sicher erfüllt werden kann. Insbesondere, wenn lediglich ein Antrag auf Eröffnung der Insolvenz vorliegt, der mitunter auch unbegründet von einem Gläubiger gestellt wurde, z. B. um eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen, sollte die Vergabestelle den Sachverhalt besonders sorgfältig aufklären, um eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung treffen zu können.
3.Schwere Verfehlung im Rahmen beruflicher Tätigkeit (Nr. 3)
12Der Ausschlussgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB dient der Umsetzung des Art. 57 Abs. 4 lit. c) VRL. Voraussetzung ist, dass nachweislich eine schwere Verfehlung vorliegt, die im Rahmen der beruflichen Tätigkeit begangen wurde.
13a) Schwere Verfehlung. Verfehlung ist jeder Verstoß gegen einschlägiges Recht. Der Ausschlussgrund hat daher Überschneidungen mit den zwingenden Ausschlussgründen des § 123 GWB, bei denen es sich durchweg ebenfalls um Gesetzesverstöße handelt, sowie mit dem Ausschlussgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB betreffend Verstöße gegen umwelt-, sozial- oder arbeitsrechtliche Verpflichtungen. Anders als § 123 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 1 GWB verlangt § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB keine rechtskräftige Verurteilung, Festsetzung einer Geldbuße oder sonstige Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung. Der Nachweis kann daher wie bei § 123 Abs. 4 Nr. 2 GWB auch auf sonstige Weise erbracht werden.17 Ein Ausschluss wegen Verdachts kommt allerdings nicht in Betracht. Der öffentliche Auftraggeber muss den Sachverhalt ermitteln und aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse und Belege zu der Überzeugung kommen, dass der Rechtsverstoß begangen wurde.18
14Die Zurechnung erfolgt gem. § 124 Abs. 1 Nr. 3 2. HS GWB entsprechend § 123 Abs. 3 GWB. Das Verhalten einer handelnden Person ist dem Unternehmen zuzurechnen, wenn diese Person eine Leitungsposition in dem Unternehmen inne hat, wozu auch die Überwachung der Geschäftsführung oder die sonstige Ausübung von Kontrollbefugnissen in leitender Stellung, etwa durch einen Aufsichtsrat, zählt.19 § 124 Abs. 1 Nr. 3 kann daher insbesondere in Betracht kommen, wenn in den Fällen des § 123 Abs. 1 GWB noch keine rechtskräftige Verurteilung vorliegt,20 etwa nach einer erstinstanzlichen Entscheidung, gegen die Rechtsmittel eingelegt wurde, oder wenn sich der öffentliche Auftraggeber durch Einsichtnahme in staatsanwaltliche Ermittlungsakten oder sonstige Behördenakten ein Bild über die Verfehlung machen konnte.
15Erfasst werden Verfehlungen, die eine solche Schwere aufweisen, dass sie die Integrität des Unternehmens in Frage stellen. Bei der Anwendung steht der Vergabestelle ein Beurteilungsspielraum zu.21 Etwaige Erkenntnisse über Verfehlungen können sich aus der Einsichtnahme in das Gewerbezentralregister oder im Hinblick auf Personen, die dem Unternehmen i. S. d. § 123 Abs. 3 GWB zurechenbar sind, aus dem Bundeszentralregister ergeben. Zukünftig muss bzw. kann der öffentliche Auftraggeber nach § 6 Abs. 1, 2 WRegG auch die Eintragungen im Wettbewerbsregister abrufen.22 Neben den Verurteilungen oder Bußgeldbescheiden wegen Straftaten nach § 123 Abs. 1 GWB,23 steuer- oder beitragsrechtlicher Tatbestände nach § 123 Abs. 4 GWB,24 wegen arbeits- und sozialrechtlicher Verfehlungen25 und wettbewerbswidrigen Absprachen26 sind insbesondere auch Verurteilungen und Bußgeldbescheide wegen Betruges und Subventionsbetrugs (§§ 263, 264 StGB) einzutragen, soweit sie sich gegen öffentliche Haushalte richten (nicht nur gegen EU-Haushalte wie nach § 123 Abs. 1 Nr. 4 und 5 GWB). In diesem Register werden zudem Wirtschaftsdelikte – insbesondere im Zusammenhang mit Korruption – aufgelistet und damit für den öffentlichen Auftraggeber sichtbar.27 Grundsätzlich besteht bei Unternehmen oder Personen, die sich gesetzwidrig verhalten, die Vermutung, dass sie sich auch zukünftig nicht ordnungsgemäß verhalten. Es besteht daher auch die Gefahr, dass sie Rechtsverletzungen im Zuge der Erbringung der Leistungen für den öffentlichen Auftraggeber begehen. Die Integrität des Unternehmens kann nach der Feststellung in der Vergangenheit begangener Verfehlungen nur dann nicht in Frage gestellt sein, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Rechtsverstoß einmalig war und der Auftraggeber im Rahmen seiner Einschätzung zu der Überzeugung gelangt, dass er sich nicht wiederholen wird. Dies ist unter Würdigung aller maßgeblichen Umstände zu entscheiden.28
16b) Im Rahmen der beruflichen Tätigkeit. Mit dem VergRModG 2016 wurde als zusätzliches Tatbestandsmerkmal eingeführt, dass eine schwere Verfehlung nur dann zum Ausschluss berechtigt, wenn sie im Rahmen der beruflichen Tätigkeit begangen wurde. Damit wären die Verfehlungen aus der Privatsphäre der für die Unternehmen verantwortlich Handelnden ausgeschieden. Bereits die Zurechnungsregelung des § 123 Abs. 3 GWB, die gem. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. HS GWB entsprechend anzuwenden ist, verlangt nach ihrem Wortlaut, dass die Person als die für die Leitung des Unternehmens Verantwortlicher gehandelt hat, sodass jedes hiernach zurechenbare Verhalten immer im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit erfolgen würde. Da § 123 Abs. 3 GWB unionskonform einschränkend auszulegen ist,29 kommt dem Tatbestandsmerkmal, dass die Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit begangen worden sein muss, doch eine maßgebliche Bedeutung zu. Anders als der fakultative Ausschlussgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB verlangt § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB nicht, dass die Verfehlung bei der Ausführung öffentlicher Aufträge begangen wurde, so dass auch Verfehlungen i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB, die bei der Ausführung sonstiger Aufträge und im Rahmen sonstiger beruflicher Tätigkeit außerhalb der Ausführung eines Auftrags begangen werden und i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB schwer sind, einen Ausschluss rechtfertigen können.30
4.Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen (Nr. 4)
17Mit dem VergRModG 2016 neu eingeführt wurde mit der Umsetzung des Art. 57 Abs. 4 lit. d) VRL der fakultative Ausschlussgrund der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung. Bislang handelte es sich um den typischen Fall einer schweren Verfehlung. Anders als nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB muss bei Vorliegen von hinreichenden Anhaltspunkten, dass eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung getroffen wurde, nicht zusätzlich festgestellt werden, dass die Integrität des Unternehmens in Frage gestellt ist. Das wird für diesen Fall unterstellt. Damit wird der Grundsatz des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen aufgegriffen. Er umfasst nicht nur wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nach § 1 GWB des laufenden Verfahrens, sondern liegt unabhängig davon insbesondere auch dann vor, wenn die Kartellbehörde einen Verstoß durch das Unternehmen in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat. Hierunter sind auch Bußgeldbescheide der Europäischen Kommission zu fassen, die gegen Unternehmen aufgrund eines Kartellrechtsverstoßes ergangen sind.31 Die mit einem solchen Bescheid geahndete Kartellabsprache selbst stellt i. d. R. auch eine schwere Verfehlung i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB dar.32 Der Umstand allein, dass polizeiliche, kartellrechtliche oder staatsanwaltliche Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet wurden oder der bloße Verdacht gegen das Unternehmen reichen hingegen nicht aus. Andererseits muss (anders als bei Nr. 1 und 3) kein Nachweis vorliegen. Es genügen hinreichende Anhaltspunkte. Das ist weniger als ein „Nachweis“. Angesichts der Schwere eines Ausschlusses muss man verlangen, dass der Auftraggeber aufgrund der Anhaltspunkte zu der Überzeugung gelangt, dass das Vorliegen der wettbewerbswidrigen Vereinbarung überwiegend wahrscheinlich ist und etwaige Zweifel von untergeordneter Bedeutung sind. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf müssen die Anhaltspunkte so konkret und aussagekräftig sein, dass die Verwirklichung eines Verstoßes zwar noch nicht feststeht, hierüber jedoch nahezu Gewissheit besteht.33 Ein derartiges Verständnis lasse sich insbesondere der Gesetzesbegründung entnehmen, wonach Ermittlungen regelmäßig nicht ausreichend sind, einen Ausschluss zu begründen. Ebenso seien an vergaberechtliche Ausschlussentscheidungen auch sonst hohe Anforderungen zu stellen, wie sich auch in früheren vergleichbaren Regelungen zeige.34 Dem wird im Rahmen der Eintragung von Bußgeldbescheiden nach § 81 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 Nr. 1 GWB ins Wettbewerbsregister dadurch Rechnung getragen, dass diese gem. § 2 Abs. 2 WRegG bereits mit Festsetzung erfolgt und die Rechtskraft nicht erforderlich ist.35 Erfasst werden Bußgelder in Höhe von wenigstens 50.000 Euro.
18Der Begriff der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung ist in § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit nahezu dem gleichen Wortlaut wie in § 1 GWB definiert. Anders als § 1 GWB erfasst der Ausschlussgrund in seiner ursprünglichen Version nicht die Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, sondern nur Vereinbarungen. Vereinbarungen sind in jedem Fall Verträge nach dem BGB, die durch Angebot und Annahme zustande kommen.36 Fraglich ist, ob auch Abreden ohne Rechtsbindungswille, sogenannte Gentlemen’s Agreements als Vereinbarung in diesem Sinne gelten. Im Hinblick auf den Vereinbarungsbegriff des Art. 101 Abs. 1 AEUV wird dies vom EuGH und EuG bejaht.37 Vor dem Hintergrund der Ratio des Kartellverbots, die auf die Vermeidung von Wettbewerbsbeeinträchtigungen gerichtet ist, wird der Vereinbarungsbegriff von der herrschenden Lehre zu Recht weit ausgelegt.38 Einseitige Maßnahmen sind dagegen grundsätzlich keine Vereinbarung. Insbesondere bei abgestimmtem Verhalten ist immer auch zu prüfen, ob darin eine konkludente Vereinbarung zu sehen ist. Um einen weitgehenden Gleichlauf mit den kartellrechtlichen Vorschriften herzustellen (vgl. § 1 GWB), wurde die Bestimmung im Zusammenhang mit der Verabschiedung des WRegG um die abgestimmten Verhaltensweisen ergänzt.39 Eine abgestimmte Verhaltensweise beinhaltet ein koordinierendes Element, etwa die vorherige Information der Wettbewerber zur Risikominimierung, das von bloß reaktivem Verhalten abzugrenzen ist.40 Dabei ist jedoch fraglich, inwieweit diese Änderung mit den Vorgaben der VRL in Einklang steht. Vom Wortlaut des Art. 57 Abs. 4 lit. d) VRL sind ausdrücklich nur „Vereinbarungen“ umfasst, nicht hingegen abgestimmte Verhaltensweisen, wie sie nunmehr in der deutschen Regelung aufgenommen sind. Insoweit scheint die deutsche Umsetzung über die Vorgaben der Richtlinie hinauszugehen, wodurch die Teilnahme am Wettbewerb erschwert werden könnte.
19Die Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise wird wettbewerbsbeschränkend, indem sie die Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt. Es ist daher nicht erforderlich, dass die Wettbewerbsbeschränkung tatsächlich erfolgt oder erreichbar ist. Verfolgt die Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise bereits dieses Ziel, unterfällt sie dem Verbot des § 1 GWB. Eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise liegt aber auch dann vor, wenn sie nicht das Ziel der Wettbewerbsbeschränkung verfolgt, eine solche aber tatsächlich bewirkt. Dies ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen.
20Eine wettbewerbsbeeinträchtigende Vereinbarung liegt insbesondere bei gezielten Abreden im Hinblick auf die Angebote mit dem Ziel, den Auftrag einem bestimmten Bieter zukommen zu lassen, sog. Submissionskartelle,41 vor. Ist das Mitglied einer Bewerber- oder Bietergemeinschaft zugleich selbst Bewerber oder Bieter oder Mitglied auch einer anderen Bewerber- oder Bietergemeinschaft bedarf es der genauen Prüfung, ob eine wettbewerbswidrige Abrede vorliegt.42 Inwieweit in diesem Fall eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs vorliegt, muss im Einzelfall nach Anhörung der betroffenen Unternehmen geprüft werden und kann nicht generell angenommen werden.43 Entsprechendes gilt, wenn ein Bewerber oder Bieter oder Mitglied einer Bewerber- oder Bietergemeinschaft zugleich Nachunternehmer eines anderen Bewerbers oder Bieters ist44 oder Nachunternehmer von zwei Bietern.45 Wettbewerbsbeschränkend können auch Vereinbarungen über die Gründung einer Bewerber- oder Bietergemeinschaft sein. Solche Zusammenschlüsse sind hingegen zulässig, wenn die Unternehmen dem gleichen Konzern angehören,46 durch das Zusammengehen überhaupt erst die Mindestanforderungen oder die Leistungsfähigkeit erreicht und damit der Marktzugang ermöglicht wird47 oder es sich als eine nach kaufmännischen Maßstäben vernünftige und zweckmäßige Entscheidung darstellt, etwa um große Projektrisiken zu minimieren.48
5.Interessenkonflikt (Nr. 5)
21Nach § 124 Abs. 1 Nr. 5 GWB können Interessenkonflikte einer für den öffentlichen Auftraggeber tätigen Person bei der Durchführung des Vergabeverfahrens einen Ausschluss rechtfertigen. Das Vorliegen eines Interessenkonflikts setzt voraus, dass die Person (auch) andere Interessen als die Interessen des öffentlichen Auftraggebers wahrnimmt. Diese Interessenwahrnehmung führt dann zu einem Konflikt, wenn sie die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit dieser Person im Zusammenhang mit der Durchführung des Vergabeverfahrens beeinträchtigen kann. Nicht erforderlich ist, dass die Person sich bereits parteilich oder abhängig verhalten hat. Es genügt, wenn die Situation das Potential birgt, dass diese Person in einer Weise handelt, die den diskriminierungsfreien Wettbewerb gefährdet. Die Vorschrift setzt Art. 57 Abs. 4 lit. e) VRL um, wonach ein öffentlicher Auftraggeber einen Wirtschaftsteilnehmer ausschließen kann, bei dem ein Interessenkonflikt gem. Art. 24 VRL vorliegt. Nach Art. 24 VRL müssen die Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass öffentliche Auftraggeber geeignete Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung, Aufdeckung und Behebung von Interessenkonflikten treffen, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden und eine Gleichbehandlung zu gewährleisten. Art. 24 VRL definiert zugleich den Interessenkonflikt, den der EU-Richtliniengeber vornehmlich im Blick hatte:
„Der Begriff ‚Interessenkonflikt‘ deckt zumindest alle Situationen ab, in denen Mitarbeiter des öffentlichen Auftraggebers oder eines im Namen des öffentlichen Auftraggebers handelnden Beschaffungsdienstleisters, die an der Durchführung des Vergabeverfahrens beteiligt sind, oder Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens nehmen können, direkt oder indirekt ein finanzielles, wirtschaftliches oder sonstiges persönliches Interesse haben, von dem man annehmen könnte, dass es ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit im Rahmen des Vergabeverfahrens beeinträchtigt.“
22Diese umfassende Pflicht zur Vermeidung persönlicher Interessenkonflikte wurde durch § 6 VgV49 umgesetzt und ist zudem im Rahmen der europarechtskonformen Auslegung des § 124 Abs. 1 Nr. 5 GWB zu beachten. Bei der Beurteilung, ob ein Interessenkonflikt vorliegt, kommt es nicht nur auf die Mitarbeiter des öffentlichen Auftraggebers selbst an, sondern auch auf die ihn unterstützenden Beschaffungsdienstleister bzw. Mitarbeiter der Beschaffungsdienstleister des öffentlichen Auftraggebers. Aber auch sonstige Personen, die Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens nehmen können, sind erfasst und können einen Interessenkonflikt i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 5 GWB auslösen. In Betracht kommen etwa Mitarbeiter von Aufsichtsbehörden, denen Weisungsbefugnisse gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber zustehen oder bei öffentlichen Auftraggebern in Form einer juristischen Person des Privatrechts deren Gesellschafter, die in dieser Funktion Einfluss auf den Auftraggeber ausüben können.
23Der Begriff des Beschaffungsdienstleisters ist in Art. 2 Abs. 1 Nr. 17 VRL definiert als eine „öffentliche oder privatrechtliche Stelle, die auf dem Markt Nebenbeschaffungstätigkeiten anbietet.“ Nebenbeschaffungstätigkeiten sind wiederum in Art. 2 Abs. 1 Nr. 15 VRL wie folgt gesetzlich bestimmt:
„15. ‚Nebenbeschaffungstätigkeiten‘ Tätigkeiten zur Unterstützung von Beschaffungstätigkeiten, insbesondere in einer der folgenden Formen:
a) Bereitstellung technischer Infrastruktur, die es öffentlichen Auftraggebern ermöglicht, öffentliche Aufträge zu vergeben oder Rahmenvereinbarungen über Bauleistungen, Liefer- oder Dienstleistungen abzuschließen;
b) Beratung zur Ausführung oder Planung von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge;
c) Vorbereitung und Verwaltung von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge im Namen und für Rechnung des betreffenden öffentlichen Auftraggebers.“
24Von dieser Definition erfasst sind etwa IT-Unternehmen, die einem öffentlichen Auftraggeber elektronische Infrastruktur für die Durchführung von Vergabeverfahren zur Verfügung stellen. Sie haben Zugriff auf dem Geheimwettbewerb unterliegende Informationen und müssen daher sicherstellen, dass bei einer gleichzeitigen Tätigkeit für potentielle Bieter die Vertraulichkeit strikt gewahrt bleibt. Ausdrücklich genannt sind Berater, die in einem Verfahren keine gegensätzlichen Interessen vertreten dürfen. Erfasst sind sämtliche Arten von Beratung, die im Zusammenhang mit Vergabeverfahren von Bedeutung sein können, also technische, rechtliche, wirtschaftliche, Finanzierungs- oder Versicherungsberatung. Für den Rechtsanwalt ergeben sich diese Pflichten bereits aus § 43a BRAO und §§ 1 bis 3 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA). Ein Rechtsanwalt darf keine Bindungen eingehen, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden, er ist zur Verschwiegenheit verpflichtet und darf keine gegensätzlichen Interessen vertreten. Andererseits kann nicht unterstellt werden, dass die Beratung eines (potentiellen) Bieters in der Vergangenheit oder in anderen Angelegenheiten die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit jedenfalls eines dem Standesrecht unterworfenen Beraters bei der Beratung eines öffentlichen Auftraggebers beeinträchtigt. Gerade die standesrechtliche Verpflichtung und Vereidigung auf die Unabhängigkeit bei der Beratung, die mit strafrechtlichen Sanktionen bewehrt ist, stellt in ausreichendem Maße sicher, dass der diskriminierungsfreie Wettbewerb gewährleistet wird.
25Bevor ein öffentlicher Auftraggeber einen Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 5 GWB in Betracht zieht, muss er prüfen, ob die Beeinträchtigung des diskriminierungsfreien Wettbewerbs durch andere, weniger einschneidende Maßnahmen wirksam beseitigt werden kann. Dies folgt bereits aus dem gem. § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Zusammenhang mit der Bereitstellung technischer Infrastruktur kommen insbesondere effektive Maßnahmen zur Sicherstellung der Geheimhaltung in Betracht, etwa die Einrichtung undurchlässiger Firewalls. Darüber hinaus sind organisatorische Maßnahmen etwa das Einziehen von sogenannten Chinese Walls geeignet, Interessenkonflikte auszuschließen. Das setzt voraus, dass die etwa für die Betreuung von Kunden oder für die Beratung zuständigen Personen, die für den öffentlichen Auftraggeber tätig sind, nicht selbst auch für einen potentiellen Bieter in diesem Verfahren agieren und wirksame Maßnahmen ergriffen wurden, dass der Informationsfluss zwischen den die unterschiedlichen Interessen vertretenden Personen strikt ausbleibt. Hierzu sind die Zugriffsrechte auf Akten und Dateien zu trennen und Verpflichtungserklärungen sowohl der handelnden Personen selbst als auch von deren Mitarbeitern abzugeben. Die erforderlichen Maßnahmen richten sich nach der jeweiligen Situation des Einzelfalls. Insoweit dürfte das betroffene Unternehmen in der Beibringungspflicht stehen.50
6.Vorbefassung (Nr. 6)
26Der in § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB geregelte fakultative Ausschlussgrund der Vorbefassung dient der Umsetzung des Art. 57 Abs. 4 lit. f) VRL. Er betrifft die sog. Projektantenproblematik, die bereits vor Umsetzung der VRL im Vergaberecht geregelt war51 und etwa in § 7 Abs. 1 VgV nunmehr vom Begriff des vorbefassten Unternehmens erfasst wird. Mit dem VergRModG 2016 wurde erstmals ein Ausschlussgrund für diesen Fall eingeführt. Dieser erfasst die Fälle, in welchen ein Unternehmen bei der Vorbereitung des laufenden Verfahrens mit eingebunden war und dadurch einen Wettbewerbsvorteil erlangt haben könnte. Das Unternehmen muss folglich mit demselben Verfahren befasst gewesen sein. Es genügt nicht, dass das Unternehmen im Vorfeld eines anderen vorherigen oder zeitgleichen Verfahrens tätig geworden ist. Vor einem Ausschluss muss dem Bieter nach § 7 Abs. 3 VgV oder § 6 EU Abs. 3 Nr. 4 UAbs. 3 VOB/A in jedem Fall die Möglichkeit eingeräumt werden, sich zu äußern und gegebenenfalls nachzuweisen, dass aus seiner Vorbefassung mit dem laufenden Vergabeverfahren keine Verzerrung des Wettbewerbs resultiert.52
27In der Praxis kommt es gerade im Bau- oder IT-Bereich häufig vor, dass ein Unternehmen für den Auftraggeber Planungsleistungen erbringt und dieses Unternehmen sich später auch um die Ausführung der eigentlich zu beschaffenden Leistung bewirbt oder dass etwa ein Bauunternehmen, das oft auch vor Ort ansässig ist, bestimmte Projekte überhaupt erst initiiert und erste Planungs- und Vorbereitungsarbeiten eventuell auch kostenfrei erbringt, bevor es zur Ausschreibung der Bauleistung kommt, an der es dann auch teilnehmen will. Gefahren für den Vergabewettbewerb drohen bei Beteiligung solcher und anderer vorbefasster Unternehmen (Projektanten) besonders dadurch, dass diese durch die vorbereitenden Tätigkeiten über einen erheblichen Informationsvorsprung verfügen oder sie das Projekt auf die eigene Fachkunde und Leistungsfähigkeit zugeschnitten haben und somit der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Gebot der Produktneutralität53 verletzt werden.
28Bevor der öffentliche Auftraggeber einen Ausschluss in Betracht zieht, hat er gem. § 124 Abs. 1 Nr. 6 GWB weniger einschneidende Maßnahmen zur Vermeidung einer Wettbewerbsverzerrung zu ergreifen. Diese Pflicht obliegt ihm bereits nach dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB. Angesichts der mit der Vorbefassung verbundenen Gefährdung des diskriminierungsfreien Wettbewerbs hat der Auftraggeber nach § 7 Abs. 1 VgV oder § 6 EU Abs. 3 Nr. 4 UAbs. 1 VOB/A insbesondere sicherzustellen, dass ein Informationsvorsprung des vorbefassten Unternehmens ausgeglichen wird und bei der Ausgestaltung der Leistungsbeschreibung und Eignungskriterien darauf geachtet wird, dass der Wettbewerb auch anderen Bietern offen steht. Gemäß § 7 Abs. 2 VgV sind die anderen Bewerber oder Bieter über die dem vorbefassten Unternehmen zur Verfügung gestellten Informationen zu unterrichten und ihnen angemessene Fristen zur Verarbeitung der Informationen einzuräumen.54 Das vorbefasste Unternehmen darf nur dann von der Vergabe ausgeschlossen werden, wenn eine geeignete Maßnahme zur Verhinderung der Wettbewerbsverfälschung nicht ersichtlich ist.55 Es sollte daher im Vorfeld auf eine sorgfältige Dokumentation der Leistungen des vorbefassten Unternehmens geachtet werden.56 Die Beratungsleistung des Unternehmens muss vor Einleitung des Vergabeverfahrens erbracht worden sein und in sachlich-zeitlichem Zusammenhang zum späteren Ausschreibungsverfahren stehen, um überhaupt die Projektantenproblematik aufwerfen zu können. Nicht jede vorher erfolgte Unterstützung des öffentlichen Auftraggebers darf zu einem Ausschluss des späteren Bieters oder Bewerbers führen. Dies gilt erst recht in dem Fall, dass sich ein Bauunternehmen um einen Auftrag bewirbt, zu dem ein anderes Unternehmen desselben Konzerns Planungsleistungen erbracht hat.57 Da es sich um rechtlich zu unterscheidende Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit handelt, können sie auch im Vergabeverfahren nicht als ein Unternehmen betrachtet werden.58 Dessen ungeachtet muss die Vergabestelle auch in dieser Konstellation auf eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung achten. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass alle anderen Bewerber bzw. Bieter sämtliche relevanten Unterlagen und Informationen zur Verfügung gestellt bekommen, wie sie dem vorbefassten oder konzernabhängigen Unternehmen zur Verfügung standen oder stehen. Zudem muss den Bietern auch hinreichend Zeit eingeräumt werden, diese Informationen und Unterlagen zu bearbeiten. Die Chancengleichheit der Bieter untereinander ist auf jeden Fall gefährdet, wenn aufgrund der Mitwirkung des vorbefassten Unternehmens an den Entwurfs- und Planungsarbeiten die Leistungsbeschreibung auf seine spezifischen Interessen zugeschnitten ist oder die Formulierung im Leistungsverzeichnis nur von diesem richtig verstanden werden kann.59
7.Mangelhafte Leistung bei Ausführung früherer Aufträge (Nr. 7)
29Der Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB betrifft Fälle, in denen bei der vorherigen Vertragsausführung eines öffentlichen Auftrages oder einer Konzession erhebliche Mängel bei der Ausführung aufgetreten sind. Nr. 7 dient der Umsetzung von Art. 57 Abs. 4 lit g) VRL. Damit wird erstmalig das Recht des öffentlichen Auftraggebers gesetzlich geregelt, ein Unternehmen aufgrund einer vorherigen Leistung als unzuverlässig einzustufen und von dem Verfahren trotz potenzieller Eignung auszuschließen.60 Bislang beruhte ein Ausschluss aus diesem Grund auf der durch die Vergabekammern und den Gerichten entwickelten Rechtsprechung zu dem Eignungsmerkmal der Zuverlässigkeit.61 Danach war der Ausschluss eines Unternehmens zulässig, wenn eine umfassende Abwägung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte unter Berücksichtigung insbesondere des Umfangs, der Intensität, des Ausmaßes und des Grades der Vorwerfbarkeit der Pflichtverletzung dazu führte, dass der Mangel als gravierend anzusehen war. Dies wurde insbesondere bejaht, wenn er zu einer deutlichen Belastung des Auftraggebers, sei es in tatsächlicher oder finanzieller Hinsicht, führte.62 Im Interesse der Rechtssicherheit hat der Gesetzgeber diese Rechtsprechung aufgegriffen und die Voraussetzungen des Ausschlussgrundes präzisiert. Mit diesem Ausschlussgrund wird für die Unternehmen ein zusätzlicher Anreiz gesetzt, ordnungsgemäß und sorgfältig zu erfüllen bzw. zu leisten.
30Aufgrund der Schwere der Folge für das Unternehmen, muss die vorherige Vertragsausführung erhebliche Mängel aufgewiesen haben. Für eine derartige mangelhafte Leistung muss das Unternehmen wesentliche Anforderungen des öffentlichen Auftrages oder der Konzession erheblich oder fortlaufend mangelhaft erfüllt haben.63 Hierunter sind insbesondere der Lieferungs- oder Leistungsausfall, erhebliche Defizite der gelieferten Waren oder Dienstleistungen oder ein Fehlverhalten, das ernste Zweifel an der Zuverlässigkeit des Unternehmens bei der Leistungserbringung aufkommen lässt, zu verstehen.64 Auch eine einmalige mangelhafte Leistung kann ausreichen, wenn es sich dabei um die Schlechterfüllung einer wesentlichen Anforderung handelt. Beispiele sind Defizite bei der gelieferten Ware oder Dienstleistung, die sie für den eigentlichen Zweck unbrauchbar machen oder ein Lieferungs- bzw. Leistungsausfall.65 Auch sonstige Vertragsverletzungen können einen erheblichen Mangel darstellen, wie zum Beispiel ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Vertraulichkeit oder gegen wesentliche Sicherheitsauflagen. Entscheidend ist nicht, ob eine Hauptpflicht verletzt wurde, sondern die Auswirkungen des Mangels für den öffentlichen Auftraggeber.66 Die Erheblichkeit des Mangels wird bei einer deutlichen tatsächlichen und finanziellen Belastung des Auftraggebers angenommen,67 aber teilweise auch schon bejaht, wenn nur eine tatsächliche oder nur eine finanzielle Belastung eintritt.68
31Darüber hinaus muss die mangelhafte Erfüllung oder Vertragsausführung kumulativ auch zu einer vorzeitigen Beendigung, Schadensersatz oder einer gleichwertigen Rechtsfolge geführt haben. Eine vorzeitige Beendigung kann durch Kündigung, Rücktritt, Anfechtung oder einvernehmliche Vertragsaufhebung erfolgen und muss auf der Mangelhaftigkeit der Leistung beruhen. Eine ordentliche Kündigung genügt nicht, da sie unabhängig von der Schlechtleistung sowieso zulässig ist und damit hierauf nicht beruhen kann. Allein die Kündigungs- oder Rücktrittserklärung durch den Auftraggeber genügt nicht, wenn sie unberechtigt ist und den Vertrag nicht wirksam beendet hat.69 § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB verlangt eine wirksame Vertragsbeendigung. Dem gleichgestellt ist, dass die Schlechtleistung zu Schadensersatz geführt hat. Auch insoweit setzt der Ausschlussgrund voraus, dass tatsächlich der Ausgleich eines Vermögensnachteils bewirkt wurde. Nur dann ist der Schadensersatz erfolgt. Als eine gleichwertige Rechtsfolge soll nach der Gesetzesbegründung eine Ersatzvornahme oder das Verlangen umfangreicher Nachbesserungen in Betracht kommen.70 Dies ist jedoch zweifelhaft, da die Aufforderung zur Nachbesserung oder die Selbstvornahme der Leistung einseitige Akte des Auftraggebers sind, die berechtigt sein können oder nicht. Zwar kann auch eine fristlose Kündigung einseitig herbeigeführt werden. Hiergegen kann sich aber der Auftragnehmer zur Wehr setzen, seine Leistung anbieten, Einhaltung des Vertrags fordern und ggf. Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Vertragsverhältnisses erheben. Auch beim Schadensersatz genügt nicht die Forderung von Schadensersatz,71 sondern muss ein solcher vom Auftragnehmer erbracht worden sein. Auch insoweit kann sich der Auftragnehmer gegen die Forderungen des Auftraggebers verteidigen, der ihn verklagen muss, wenn der Auftragnehmer nicht freiwillig zahlt. In diesen Fällen hat der Auftragnehmer die Schlechtleistung akzeptiert und die Rechtsfolgen zumindest hingenommen. Die Selbstvornahme und das Nachbesserungsverlangen sind dagegen einseitig, sodass der Auftraggeber diese Voraussetzung selbst willkürlich herbeiführen kann. Vergleichbar wäre allenfalls, dass der Auftragnehmer die Vorgehensweise des Auftraggebers akzeptiert, etwa indem er die Kosten der Ersatzvornahme erstattet oder der Forderung zur Nachbesserung nachkommt.72 Dabei bedarf es aber auch der genauen Prüfung, in wieweit darin eine Anerkennung des Vertragsverstoßes oder echte Kulanz zu sehen ist. Daneben ist zu beachten, dass es sich bei einem – wenn auch umfangreichen – Nachbesserungsverlagen noch um einen Teil der geschuldeten Primärleistung handelt. Mithin ist daher noch nicht aus dem Gesichtspunkt der Schwere heraus von einer mit der vorzeitigen Beendigung oder Schadensersatz gleichwertigen Rechtsfolge auszugehen. Vielmehr bestehen die Leistungsbeziehungen zwischen den Parteien auf der gleichen Ebene fort.
32Dabei muss es sich nicht um einen vorherigen Auftrag desselben öffentlichen Auftraggebers handeln. Eine Schlechtleistung mit der oben genannten Folge bei der Ausführung des Auftrages eines anderen öffentlichen Auftraggebers oder Konzessionsgebers ist ausreichend. Der frühere Auftrag muss jedoch mit dem zu vergebenden Auftrag zumindest „inhaltlich, örtlich und zeitlich vergleichbar“ sein. Dies setzt nicht notwendigerweise eine Identität der Auftragsarten voraus. So kann bspw. ein früherer Auftrag i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB gegeben sein, obwohl die Schlechtleistung einen Bauauftrag betraf und der zu vergebende Auftrag Dienst- oder Werkleistungen beinhaltet, solange eine Vergleichbarkeit nach gennannten Kriterien besteht.73 Bevor das betroffene Unternehmen ausgeschlossen wird, muss der öffentliche Auftraggeber eine Prognoseentscheidung dahingehend treffen, ob von dem Unternehmen trotz einer vorherigen Schlechtleistung im Hinblick auf die Zukunft zu erwarten ist, dass der nunmehr zu vergebene Auftrag ordnungsgemäß durchgeführt wird.74 Dabei steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu.75 Die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen sind zu dokumentieren.
8.Schwerwiegende Täuschung bei Eignungsprüfung (Nr. 8)
33In § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB ist ein Ausschlussgrund für diejenigen Bewerber vorgesehen, die im Vergabeverfahren unzutreffende Erklärungen in Bezug auf ihre Eignung oder Ausschlussgründe abgegeben haben. § 6 EG Abs. 6 lit. e) VOL/A a. F. sah bereits einen fakultativen Ausschlussgrund für den Fall vor, dass im Verfahren vorsätzlich unzutreffende Erklärungen in Bezug auf die Eignung abgegeben wurden. Ein Ausschluss ist nach § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB darüber hinaus auch in den Fällen möglich, in denen es der Bewerber unterlässt, Erklärungen abzugeben oder Auskünfte zu erteilen, obwohl diese offensichtlich für die Beurteilung der Eignung oder das Vorliegen von Ausschlussgründen von Bedeutung sind.76 Er dient der Umsetzung des Art. 57 Abs. 4 lit. h) VRL. In diesen Fällen wird die Ermittlung einer zutreffenden Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung durch den Auftraggeber erschwert.77 Ein bloßes Unterlassen vermag einen fakultativen Ausschlusstatbestand nur zu erfüllen, wenn der Bewerber bzw. Bieter zur Erklärung oder Aufklärung verpflichtet ist. Grundsätzlich handelt es sich nämlich bei dem Vergabeverfahren um ein stark formalisiertes Verfahren und der Bewerber bzw. Bieter kann darauf vertrauen, dass er mit den abgefragten Angaben und Nachweisen das seinerseits Erforderliche getan hat und dem Auftraggeber die aus dessen Sicht notwendigen Informationen zur Beurteilung der Eignung oder des Vorliegens von Ausschlussgründen beigebracht hat. Aus den Vergabeunterlagen müssen sich konkrete Anhaltspunkte ergeben, die es als missbräuchlich erscheinen lassen, bestimmte Informationen zurückzuhalten. Insbesondere, wenn der Bewerber selbst mit seinem Verhalten oder von ihm bereits vorgelegten Unterlagen erkennbar einen falschen Schein setzt, muss er diesen korrigieren. Das gilt auch, wenn sich im Nachhinein Änderungen ergeben, die bisherige Angaben oder Unterlagen unrichtig werden lassen.78
34Zusätzlich ist ein Ausschluss möglich, wenn das Unternehmen nicht in der Lage ist, die erforderlichen Nachweise zu übermitteln. Im Hinblick auf diese Alternative ist der Ausschlussgrund unklar formuliert. Nach dem Wortlaut könnte der Auftraggeber verpflichtet sein zu prüfen, ob das Unternehmen tatsächlich imstande ist, den Nachweis vorzulegen. In der dem § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB zugrunde liegenden Bestimmung der VRL, Art. 57 Abs. 4 lit. h) VRL, bezieht sich diese Tatbestandsalternative ausschließlich auf die nach Art. 59 VRL zusätzlich zur Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung (EEE) vorzulegenden Unterlagen.79 In der Zusammenschau mit den beiden anderen Tatbestandsalternativen, die die Täuschung des Auftraggebers über relevante Aspekte der Eignung oder der Ausschlussgründe betreffen, ist die Bestimmung dahingehend auszulegen, dass sie die Situation betrifft, dass ein Unternehmen mit der EEE Angaben gemacht hat, deren Richtigkeit es dann nicht durch Vorlage der entsprechenden Unterlagen, die nach Art. 59 Abs. 4 VRL bzw. dessen Umsetzung ins nationale Recht vorzulegen sind, nachweisen kann. Diese besondere Verpflichtung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die EEE nur als „vorläufiger“ Nachweis vorgesehen ist und mit der EEE gem. Art. 59 Abs. 1 UAbs. 3 VRL eine förmliche ausdrückliche Erklärung erfolgen muss, dass das Unternehmen „in der Lage sein wird, auf Anfrage und unverzüglich diese zusätzlichen Unterlagen beizubringen.“ Kann es diese Zusage nicht einhalten, verletzt das Unternehmen eine maßgebliche Obliegenheit, die mit der Verwendung der EEE verbunden ist. Allein diesen Fall hatte der EU-Richtliniengeber im Blick, wie auch der an Art. 59 Abs. 1 UAbs. 3 VRL angelehnte Wortlaut in Art. 57 Abs. 4 lit. h) VRL zeigt. Der Tatbestand ist erfüllt, wenn das Unternehmen die Unterlagen nicht vorlegt, wenn es dazu aufgefordert wurde. Der öffentliche Auftraggeber muss nicht hinterfragen, ob das Unternehmen tatsächlich dazu in der Lage wäre oder nicht. Ausschlaggebend ist, dass es seine Zusage, dazu in der Lage zu sein, nicht einhält und damit seine Zuverlässigkeit nachhaltig in Frage gestellt ist. In diesem Sinne ist die letzte Tatbestandsalternative des § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB unionsrechtskonform restriktiv auszulegen. Damit steht er auch nicht in Konkurrenz zu den Vorschriften über den Ausschluss wegen unvollständiger Teilnahmeanträge oder Angebote.80
35Aufgrund der Formulierung des Ausschlussgrunds in Abgrenzung zu den sonstigen Ausschlussgründen bei Verfehlungen etwa in § 124 Abs. 1 Nr. 1, 3 oder 7 GWB ist davon auszugehen, dass im Rahmen des § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB nur Vorfälle in dem laufenden Vergabeverfahren, in dem der Ausschlussgrund aufgeworfen wird, sanktioniert sind. Im Hinblick auf sämtliche Tatbestandsalternativen des § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB wird zudem weder ein Vorsatz noch eine Fahrlässigkeit oder sonstiges Verschulden oder Vertretenmüssen verlangt. Ob dennoch Vorsatz erforderlich ist81 oder nicht,82 ist umstritten. Man wird allerdings gerade auch angesichts der Historie und des ausdrücklichen Wortlauts der Regelung nicht davon ausgehen können, dass dieses Tatbestandsmerkmal vergessen wurde und deshalb über eine einschränkende Auslegung wieder hineingelesen werden muss. Hierzu besteht auch kein Anlass, da es der Vergabestelle sowieso obliegt, das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben. Sie muss im Rahmen ihrer Ermessensausübung berücksichtigen, dass falsche Erklärungen den Ausschluss nur rechtfertigen, wenn sie dem Bewerber bzw. Bieter vorwerfbar sind. Angesichts der gravierenden Rechtsfolge kann nicht jede fahrlässige Falscherklärung den Ausschluss rechtfertigen.83 Vielmehr muss im Einzelfall geprüft werden, ob sie einen Ausschluss rechtfertigt. Allerdings kann grobe Fahrlässigkeit durchaus den Ausschluss als gerechtfertigt erscheinen lassen.84 Die Bewerber sind im Rahmen des vorvertraglichen Schuldverhältnisses gehalten, sich angemessen zu organisieren.
9.Unzulässige Einflussnahme
36§ 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB dient der Umsetzung des Art. 57 Abs. 4 lit. i) VRL und betrifft verschiedene Fälle der unzulässigen Einflussnahme des Unternehmens auf den öffentlichen Auftraggeber. Wie bei § 124 Abs. 1 Nr. 8 GWB85 erfasst § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. a) GWB nur Tathandlungen, die im laufenden Verfahren erfolgt sind, weshalb die Tatbestandsalternativen teilweise nur den Versuch der Einflussnahme erfassen.
37Ausreichend ist abweichend von den anderen fakultativen Ausschlussgründen in allen Tatbestandsalternativen bereits der Versuch der unzulässigen Beeinflussung. Diese Vorverlagerung der dem Ausschluss zugrunde liegenden Tat in das Versuchsstadium lässt sich zum einen mit der Schwere des vorwerfbaren Verhaltens rechtfertigen. Zum anderen erklärt sie sich daraus, dass es sich um Verstöße im konkreten Verfahren handelt, in dem sie aufgedeckt sein müssen, um einen Ausschluss überhaupt ermöglichen zu können, sodass es dem Täter gerade nicht gelungen ist, auf den öffentlichen Auftraggeber Einfluss zu nehmen. Auch dieser Aspekt spricht dafür, dass dieser Ausschlussgrund nur Verfehlungen im laufenden Verfahren erfasst.86 § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c) GWB erfasst im Tatbestand zudem auch die Vollendung der Verfehlung. Dies führt gegenüber den Varianten der lit. a) und b) jedoch zu keiner abweichenden Bewertung. Es gilt auch in diesen Fällen, dass jeder Vollendung ein Versuch immanent ist. Mit der vollendeten Tatbegehung ist der Versuch gelungen.
38Voraussetzung des Versuchs ist der Tatentschluss des Unternehmens, also der Vorsatz, mindestens in der Form einer billigenden Inkaufnahme des Taterfolgs, den öffentlichen Auftraggeber i. S. d. Tatalternativen des § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. a) bis c) GWB in unzulässiger Weise zu beeinflussen. Auch hinsichtlich des Zeitpunktes des Versuchsbeginns kann auf die Regelung des § 22 StGB zurückgegriffen werden. Hiernach liegt ein Versuch vor, wenn der Täter mit Tatwillen nach seiner Vorstellung von der Tat zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat.
39a) § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. a) GWB. Nach § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit a) GWB kann ein Unternehmen vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden, wenn es versucht hat, die Entscheidungsfindung des öffentlichen Auftraggebers in unzulässiger Weise zu beeinflussen. Der Versuch einer Beeinflussung kann zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens erfolgen, wobei davon auszugehen ist, dass Versuchsbeginn der Zeitpunkt ist, in dem der Bewerber erstmalig mit dem öffentlichen Auftraggeber mit der Intention Kontakt aufnimmt, seine Chancen im Vergabeverfahren zu erhöhen. Dabei ist die zulässige von der unzulässigen Einflussnahme abzugrenzen. Hierbei ist zu hinterfragen, in wieweit das Verhalten gegen Bestimmungen des Vergaberechts oder Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers verstößt. Die Unzulässigkeit kann sich etwa daraus ergeben, dass sie mit einer Verletzung der Vergabegrundsätze einhergeht oder auf eine solche Verletzung abzielt.
40b) § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. b) GWB. Nach § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. b) GWB kann der öffentliche Auftraggeber ein Unternehmen ausschließen, wenn es versucht hat, vertrauliche Informationen zu erhalten, durch die es unzulässige Vorteile beim Vergabeverfahren haben könnte. Der Versuch beginnt mit der ersten Handlung des Unternehmens, die geeignet und beabsichtigt ist, solche Informationen zu beschaffen. Dabei bedarf es jeweils der genauen Prüfung, ob die betreffenden Informationen vertraulich sind. Hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn es sich um Informationen handelt, die etwa nach § 5 VgV vertraulich zu behandeln sind.87
41c) § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c) GWB. Nach § 124 Abs. 1 Nr. 9 lit. c) GWB kann der öffentliche Auftraggeber ein Unternehmen ausschließen, wenn es fahrlässig oder vorsätzlich irreführende Informationen übermittelt hat, die die Vergabeentscheidung erheblich beeinflussen könnten oder versucht hat, solche Informationen zu übermitteln. Der Begriff der Information ist weit zu verstehen.88 Irreführend ist eine Information, die geeignet ist, den öffentlichen Auftraggeber zu täuschen. Auf die subjektive Einschätzung des Auftraggebers kommt es nicht an.89 Von einer Irreführung wurde in der Rechtsprechung bereits dann ausgegangen, wenn ein Bieter von der Leistungsbeschreibung abweichend anbietet, ohne dies ausdrücklich mitzuteilen.90 Die Irreführung kann insbesondere darauf gerichtet sein, das betroffene Unternehmen im Verfahren zu bevorzugen oder andere Bieter oder Bewerber zu benachteiligen. Im Gegensatz zu lit a) und b) des § 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB ist nicht nur der Versuch relevant, sondern auch die vollendete Übermittlung solcher Informationen. Anders als die beiden anderen Tatbestandsalternativen kann die Übermittlung der irreführenden Informationen bereits im laufenden Verfahren erfolgt und abgeschlossen sein, da insoweit genügt, dass die Information geeignet ist, den öffentlichen Auftraggeber zu beeinflussen. Nicht erforderlich ist, dass er sich tatsächlich von der übermittelten Information hat in die Irre führen lassen.
II.Ermessen
42Die Ausschlussgründe des § 124 Abs. 1 GWB sind fakultative Ausschlussgründe. Ob bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von der Befugnis des Ausschlusses des Teilnehmers Gebrauch gemacht wird, liegt somit in der Hand des Auftraggebers, der nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.91 Darüber hinaus ist ihm aufgrund seiner Sachnähe und, da ihn vorrangig die Folgen der Entscheidung treffen, ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, der nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist.92 Bei der Abwägung wird letztendlich die ausschlaggebende Überlegung sein, ob trotz des Vorliegens eines Ausschlusstatbestands die Integrität und Leistungsfähigkeit des Bewerbers nicht in Frage steht93 bzw. ob trotz des Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrundes noch von einer ordnungsgemäßen und sorgfältigen Auftragsausführung ausgegangen werden kann. Dabei ist oftmals eine Prognoseentscheidung zu treffen.94 Insbesondere sollen kleinere Unregelmäßigkeiten nach dem Erwägungsgrund Nr. 101 VRL nicht schon zu einem Ausschluss des Unternehmens führen. Der öffentliche Auftraggeber hat bei seiner Entscheidung, ob er von der Möglichkeit des Ausschlusses Gebrauch macht, insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. So soll gerade ein kleinerer oder nicht ausschlaggebender Verstoß nicht schon zu einem Ausschluss aus dem Vergabeverfahren führen.95 Der Auftraggeber hat bei Vorliegen eines Ausschlussgrundes im Rahmen des ihm eingeräumten Spielraums zu hinterfragen, ob im konkreten Fall trotz der Verwirklichung des Ausschlusstatbestands die Integrität oder Leistungsfähigkeit des Unternehmens nicht in Frage gestellt ist. Dabei hat es die aktuellen Sachumstände und die absehbare Entwicklung eigenverantwortlich einzuschätzen. Die den Auftraggeber dabei leitenden Erkenntnisse und Erwägungen sind zu dokumentieren.
III.Zeitpunkt
43Wie auch bei dem zwingenden Ausschlussgründen nach § 123 GWB ist ein möglicher Ausschluss nicht auf den Zeitpunkt der Prüfung der Eignung beschränkt. Ein Unternehmen kann zu jedem Zeitpunkt der Kenntniserlangung von den maßgeblichen Umständen durch den öffentlichen Auftraggeber ausgeschlossen werden, vgl. Kommentierung zu § 123 GWB, Rn. 4.
C.Ausschlussgründe nach sonstigem Recht (Abs. 2)
44§ 124 Abs. 2 GWB stellt klar, dass die in diesem Absatz genannten Spezialvorschriften von den fakultativen Ausschlussgründen unberührt bleiben sollen. Die Regelung betrifft folgende Vorschriften, die Ausschlusstatbestände für Vergabeverfahren außerhalb des GWB vorsehen:
– § 21 AEntG: Bei Verhängung eines Bußgelds in bestimmter Höhe soll ein Unternehmen bis zur nachgewiesenen Wiederherstellung der Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden.
– § 98c AufenthG: Berechtigung zum Ausschluss bis zur nachgewiesenen Wiederherstellung der Zuverlässigkeit, max. 5 Jahre bei Verhängung bestimmter Geldbußen oder Strafen wegen bestimmter Verstöße gegen SGB III oder SchwarzArbG.
– § 19 MiLoG: Bei Verhängung eines Bußgelds in bestimmter Höhe soll ein Unternehmen bis zur nachgewiesenen Wiederherstellung der Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden.
– § 21 SchwarzArbG: Bei Verhängung bestimmter Geldbußen oder Strafen wegen bestimmter Verstöße gegen SchwarzArbG, SGB III, AÜG oder § 266a StGB soll ein Unternehmen bis zu 3 Jahre von Bauaufträgen ausgeschlossen werden.
45Diese Regelungen gelten nach § 124 Abs. 2 GWB grundsätzlich neben den Ausschlussgründen des GWB, müssen aber unionsrechtskonform ausgelegt werden. Nach Art. 57 VRL dürfen Ausschlüsse nur in den in dieser Vorschrift geregelten Fällen vorgenommen werden. Die in den Spezialvorschriften getroffenen Sonderregelungen und deren Auslegung müssen daher im konkreten Fall daraufhin geprüft werden, dass sie einen der in Art. 57 VRL geregelten Ausschlussgründe erfüllen. Da es sich hierbei i. d. R. um Verstöße im Sinne des § 124 Abs. 1 Nr. 1 und 3 GWB handelt, dürfte der Ausschluss dem Grunde nach in den meisten Fällen zulässig sein. Verstöße gegen diese Vorschriften sind auch nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 WRegG eintragungspflichtig, wenn eine bestimmte Höhe des Strafmaßes oder des Bußgelds überschritten ist.96 Zu beachten ist allerdings, dass eine Berufung auf § 124 Abs. 1 Nr. 1 GWB nur möglich ist, wenn der Verstoß bei der Ausführung eines öffentlichen Auftrags erfolgte. Im Zusammenhang mit § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB muss insbesondere die besondere Schwere der Verfehlung und deren Auswirkung auf die Integrität des Unternehmens hinterfragt werden. Zu beachten ist auch, dass gem. Art. 57 Abs. 6 VRL eine hinreichende Selbstreinigung einen Ausschluss auch nach den Sondervorschriften nicht erlaubt und dass die in Art. 57 Abs. 7 VRL vorgegebenen und in § 126 GWB umgesetzten Höchstfristen für eine Auftragssperre nicht überschritten werden dürfen.97
§ 125 GWBSelbstreinigung
(1) 1Öffentliche Auftraggeber schließen ein Unternehmen, bei dem ein Ausschlussgrund nach § 123 oder § 124 vorliegt, nicht von der Teilnahme an dem Vergabeverfahren aus, wenn das Unternehmen nachgewiesen hat, dass es
1. für jeden durch eine Straftat oder ein Fehlverhalten verursachten Schaden einen Ausgleich gezahlt oder sich zur Zahlung eines Ausgleichs verpflichtet hat,
2. die Tatsachen und Umstände, die mit der Straftat oder dem Fehlverhalten und dem dadurch verursachten Schaden in Zusammenhang stehen, durch eine aktive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden und dem öffentlichen Auftraggeber umfassend geklärt hat, und
3. konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen ergriffen hat, die geeignet sind, weitere Straftaten oder weiteres Fehlverhalten zu vermeiden.
2§ 123 Absatz 4 Satz 2 bleibt unberührt.
(2) 1Öffentliche Auftraggeber bewerten die von dem Unternehmen ergriffenen Selbstreinigungsmaßnahmen und berücksichtigen dabei die Schwere und die besonderen Umstände der Straftat oder des Fehlverhaltens. 2Erachten die öffentlichen Auftraggeber die Selbstreinigungsmaßnahmen des Unternehmens als unzureichend, so begründen sie diese Entscheidung gegenüber dem Unternehmen.
Schrifttum: Baumann/Gerhardt, Konkretisierung der Anforderungen an die vergaberechtliche Selbstreinigung, NZBau 2019, 565 ff.; Dreher/Hoffmann, Die erfolgreiche Selbstreinigung zur Wiedererlangung der kartellvergaberechtlichen Zuverlässigkeit und die vergaberechtliche Compliance – Teil 1, NZBau 2014, 67 ff.; Dreher/Hoffmann, Die erfolgreiche Selbstreinigung zur Wiedererlangung der kartellvergaberechtlichen Zuverlässigkeit und die vergaberechtliche Compliance – Teil 2, NZBau 2014, 150 ff.; Dreher/Hoffmann, Sachverhaltsaufklärung und Schadenswiedergutmachung bei der vergaberechtlichen Selbstreinigung, NZBau 2012, 265 ff.; Eufinger, Personelle Selbstreinigung nach Compliance Verstößen, DB 2016, 471 ff.; Gabriel/Ziekow, Die Selbstreinigung von Unternehmen nach dem neuen Vergaberecht, VergabeR 2017, 119 ff.; Hölzl/Ritzenhoff, Compliance leicht gemacht!, NZBau 2012, 28–31; Meißner, Wann ist der Bieter geeignet ?, VergabeR 2017, 270 ff.; Mutschler-Siebert/Dorschfeldt, Vergaberechtliche Selbstreinigung und kartellrechtliche Compliance – zwei Seiten einer Medaille, BB 2015, 642 ff.; Roth, Selbstreinigung und Wiedergutmachung im Vergaberecht, NZBau 2016, S. 672 ff.; Neun, Vergaberechtliche Selbstreinigung für Kartellanten – Jetzt gesetzlich geregelt, NZKart 2016, 320–321; Orthmann, Korruption im Vergaberecht, Teil 2: Konsequenzen und Selbstreinigung, NZBau 2007, 278 ff.; Reimers/Heinz, Die neue DICO-Leitlinie „Kartellrechtliche Compliance“ – Zugleich ein Diskussionsbeitrag zur vergaberechtlichen Selbstreinigung und kartellrechtlichen Bußgeldbemessung, CCZ 2016, 188 ff.; Schnitzler, Wettbewerbsrechtliche Compliance – vergaberechtliche Selbstreinigung als Gegenmaßnahme zum Kartellverstoß, BB 2016, 2115 ff.; Stein/Wolters, Umfang der Kooperationspflicht bei der vergaberechtlichen Selbstreinigung, jurisPR-Compl 2/2017 Anm. 1; Ulshöfer, Kartell- und Submissionsabsprachen von Bietern – Selbstreinigung und Schadenswiedergutmachung siehe außerdem Schrifttum zu §§ 122 bis 124 GWB.
Übersicht | Rn. | |
A. | Vorbemerkungen | 1–6 |
I. | Regelungsgegenstand | 1, 2 |
II. | Schutzzweck | 3 |
III. | Anwendungsbereich | 4–6 |
B. | Maßnahmen zur Selbstreinigung | 7–23 |
I. | Ausgleich des Schadens (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GWB) | 11–14 |
II. | Zusammenarbeit zur Aufklärung (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GWB) | 15–19 |
III. | Technische, organisatorische und personelle Maßnahmen (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GWB) | 20–22 |
IV. | Selbstreinigung im Konzern | 23 |
C. | Besondere Selbstreinigung bei Verfehlung nach § 123 Abs. 4 GWB | 24 |
D. | Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers (§ 125 Abs. 2 GWB) | 25–28 |
A.Vorbemerkungen
I.Regelungsgegenstand
1§ 125 GWB setzt Art. 57 Abs. 6 VRL in deutsches Recht um. Bislang sah das Vergaberecht keine detaillierte Regelung zur Selbstreinigung vor.1 Nach § 6 EG Abs. 4 Nr. 3 VOB/A a. F. und § 6 EG Abs. 5 VOL/A a. F. konnte allerdings auch nach altem Recht ein Unternehmen trotz schwerwiegender Verfehlung zum Verfahren zugelassen werden, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls der Verstoß die Zuverlässigkeit des Unternehmens nicht in Frage stellte.2 Die hierzu ergangene Rechtsprechung3 hat der europäische Richtliniengeber kodifiziert, um so die Anwendung der Kriterien auf eine rechtssichere und verlässliche Grundlage zu stellen.4 Nach § 125 GWB soll betroffenen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen wieder die Möglichkeit eingeräumt werden, erneut an Vergabeverfahren teilzunehmen. Aufgrund des §§ 123 oder 124 GWB ausgeschlossene oder vom Ausschluss bedrohte Unternehmen können durch die Erfüllung der Maßnahmen gem. dem Katalog des § 125 GWB (wieder) zum Vergabeverfahren zugelassen werden. Ein nach §§ 123 oder 124 GWB auszuschließendes Unternehmen kann durch die Selbstreinigung i. S. d. § 125 GWB seine Zuverlässigkeit zurückerlangen.
2§ 125 GWB beruht auf dem VergRModG 2016. Durch Art. 2 Abs. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Einführung eines Wettbewerbsregisters und zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen5 wird die Vorschrift inhaltlich modifiziert. Die Gesetzesänderung wird parallel zur Aufnahme des Wirkbetriebs des Wettbewerbsregisters erfolgen. Ursprünglich sollte das Inkrafttreten von dem Erlass der Durchführungsverordnung abhängen. Nunmehr ist geplant, dass es an die formelle, im Bundesanzeiger zu veröffentlichende Feststellung des Bundeswirtschaftsministeriums gekoppelt ist, dass die Voraussetzungen für den Registerbetrieb vorliegen.6 Diese Regelung zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da das Inkrafttreten von der Bekanntmachung in einem amtlichen und öffentlich zugänglichen Verkündungsblatt und damit einem hinreichend bestimmten Ereignis abhängt.7 Die Änderung betrifft den einführenden Satz des § 125 Abs. 1 GWB, der folgenden Wortlaut erhalten wird: