Читать книгу Strafrecht für Polizeibeamte - Elmar Erhardt - Страница 55
2.Der Grundfall eines Tatbestandsirrtums: Das „Nichtwissen“
Оглавление67a) Die Unkenntnis von objektiven Tatbestandsmerkmalen.. Die Unkenntnis von objektiven Tatumständen bzw. Tatbestandsmerkmalen bildet den Normalfall des Tatbestandsirrtums: Der Täter kennt irgendeinen zum objektiven Tatbestand gehörenden Umstand nicht. Der Jagdschütze, der beim „Übungsschießen“ auf eine vermeintlich leere Regentonne schießt und dabei ein Kind verletzt, das sich beim Versteckspiel in der Tonne verborgen hat, kann nicht wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§§ 223, 224) bestraft werden, wenn er nicht wusste, dass sich das Kind dort aufhielt. Die Bestrafung wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229) bleibt davon unberührt und hängt von den konkreten Ermittlungsergebnissen im Einzelfall ab (Vorhersehbarkeit usw.).
68Übungsfall 13: „Postgefangener-Fall“
In der Badischen Zeitung vom 17.8.1995 fand sich folgende Meldung: „Eine Stunde lang Gefangener der Post! 12 Uhr mittags in Landwasser: Der einzige Bedienstete des Postamts schließt den Postraum ab und geht zum Mittagessen. Ihm entging, dass ein noch telefonierender Kunde eingesperrt wurde. Nach einer Stunde Bangen und Klopfen wurde der Mann befreit.“ Hat sich der Postbedienstete P. wegen Freiheitsberaubung des Kunden K. strafbar gemacht?
Der Bedienstete der Post hat im Übungsfall 13 zweifellos den objektiven Tatbestand der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) verwirklicht, indem er einen Menschen über eine Stunde lang in einem umschlossenen Raum eingesperrt hat. Aber natürlich hat P. diesen Menschen nicht bewusst eingeschlossen. Es war ihm vielmehr schlicht entgangen, dass sich dort noch jemand aufhielt. Ihm fehlte eindeutig das Wissenselement. Was man nicht weiß, kann man logischerweise auch nicht wollen. Insofern handelte P. ohne Vorsatz. Die objektive Realität und die subjektive Vorstellung stimmten nicht überein. Es handelt sich damit per definitionem um einen Tatbestandsirrtum (§ 16 I). Natürlich könnte man dem P. vorwerfen, vor dem Abschließen nicht überprüft zu haben, ob sich noch jemand in der Telefonzelle befindet und damit seine Sorgfaltspflichten verletzt zu haben. Das wäre der typische Fahrlässigkeitsvorwurf. Aber fahrlässiges Handeln ist nur strafbar, wenn es im Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht ist (§ 15). Dies ist bei der Freiheitsberaubung jedoch nicht der Fall, sodass P. insgesamt straffrei bleibt.
69b) Zur praktischen Bedeutung der strafrechtlichen Irrtumslehre.. Die uralte Erkenntnis, dass irren menschlich ist, gilt für alle Lebensbereiche. Dass Polizeibeamte im alltäglichen Vollzugsdienst – wie alle anderen Menschen auch – leicht einem Irrtum unterliegen können, ist normal und menschlich. In Eingriffs- und Vollstreckungssituationen, sei es zur Gefahrenabwehr oder zur Strafverfolgung, müssen Polizeibeamte häufig schnelle Entscheidungen treffen. Dass bei solchen Eilentscheidungen leicht die tatsächlichen Tat- bzw. Sachverhaltsumstände verkannt werden können, liegt auf der Hand. Dies ist kein spezifisch polizeiliches, sondern ein allgemein menschliches Problem.
Gleichwohl ist bei Studierenden und gelegentlich auch bei Strafrechtsdozenten und in der Strafjustiz eine gewisse Scheu – wenn nicht gar Abneigung – vor der strafrechtlichen Irrtumslehre zu beobachten. Sie wird als kompliziert empfunden und oft als rein theoretisches Phänomen abgetan. Das Gegenteil ist der Fall: Zum einen sind die Irrtumsregeln des StGB eindeutig und einfach. Außerdem haben Irrtumsfälle zunächst eine ganz praktische Bedeutung, weil ja per definitionem die subjektive Vorstellung und die objektive Realität nicht übereinstimmen. Trotzdem werden solche Sachverhaltskonstellationen oft gar nicht als Irrtumsfälle erkannt und das strafrechtliche Instrumentarium, das zur Lösung solcher Fälle zur Verfügung steht, gar nicht eingesetzt. Dazu ein Fallbeispiel aus der Presse:
70Übungsfall 14: „Durchschuss-Fall“32
Die Überschrift von Agenturmeldungen lautete: „Polizistin tötet mit einem Schuss zwei Männer.“ Die Polizei war gerufen worden, weil der unter Verfolgungswahn leidende Robert T. sich umbringen wollte. Zehn Polizeibeamte versuchten vergeblich, ihn mit Reizgas in Schach zu halten. Als er mit erhobenem Messer auf die 23-jährige Kommissaranwärterin K. losging, feuerte diese einen Schuss zur Selbstverteidigung auf ihn ab. Nachdem dieser erste Schuss keine Wirkung gezeigt hat, gab die Beamtin einen weiteren Schuss ab, der den Angreifer tödlich verletzte. Gleichzeitig wurde der hinter ihm stehende Bruder Leon T., den die Beamtin nicht bemerkt hatte, durch einen Durchschuss über dem Auge des Robert T. ebenfalls tödlich getroffen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Polizeibeamtin in Notwehr handelte, und der Bruder Leon T. „durch Verkettung tragischer Umstände“ getötet wurde.
Einmal unterstellt, der Durchschuss-Fall habe sich tatsächlich so abgespielt wie in der Agenturmeldung mitgeteilt, so wäre der Staatsanwaltschaft insofern Recht zu geben, als sie bei der Tötung des Robert T. von Notwehr ausgeht. Die Beamtin befand sich nämlich in einer akuten Notwehrlage, als sie von Robert T. mit einem Messer körperlich angegriffen wurde. Wenn sich die Situation zeitlich so zugespitzt hat, dass der Beamtin keine Zeit und Möglichkeit mehr verblieb, ein anderes Verteidigungsmittel einzusetzen, um den Angriff abzuwehren, wäre die Schussabgabe die erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung gewesen. Die Tötung des Robert T. wäre dann durch Notwehr gerechtfertigt (§ 32). Diese Notwehrlösung versagt jedoch bei der tödlichen Verletzung des Leon T., weil dieser die Beamtin offensichtlich nicht angegriffen hatte. Die Bemühung des relativ diffusen, jedenfalls unjuristischen Begriffs der „Verkettung tragischer Umstände“ durch die Presse ist nicht notwendig, denn die strafrechtliche Irrtumslehre bietet hierzu eine klare Regel. Vorsatz bedeutet Wissen und Wollen der objektiven Tatbestandsverwirklichung. Deshalb besagt die in § 16 I Satz 1 formulierte Irrtumsregel (sog. Tatumstandsirrtum, auch Tatbestandsirrtum genannt): „Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich.“ Wenn das Ermittlungsergebnis tatsächlich ergeben sollte, dass die Beamtin den hinter seinem Bruder stehenden Leon T. nicht gesehen hat, fehlt bei ihr das für den Vorsatz zwingend erforderliche kognitive Element (= Wissenselement bzw. intellektuelles Element). Wegen vorsätzlicher Tötung kann sie dann strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden. Die Frage der fahrlässigen Tötung ist damit allerdings noch nicht beantwortet (§ 16 I Satz 2), dürfte nach den berichteten Sachverhaltsumständen aber ebenfalls zu verneinen sein, denn wer rechtmäßig (hier durch Notwehr gerechtfertigt) handelt, begeht in aller Regel keine Sorgfaltspflichtverletzung. Jedenfalls scheitert die strafrechtliche Verantwortlichkeit letztendlich an der fehlenden subjektiven Vorhersehbarkeit, weil die Beamtin mit der tödlichen Verletzung einer weiteren Person nicht rechnen konnte, wenn sie diese optisch gar nicht wahrgenommen hat.
Der geschilderte „Durchschuss-Fall“ zeigt, dass die verbreitete Scheu vor der strafrechtlichen Irrtumslehre nicht angebracht ist. Die Irrtumsregeln führen meist zu klaren Ergebnissen, vorausgesetzt der Sachverhalt wird überhaupt als Irrtumsfall erkannt.33