Читать книгу Kartellrechtliche Schadensersatzklagen - Fabian Stancke - Страница 55

aa) Grundsatz und Anwendungsbereich

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Gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO kann eine Person mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates auch an dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem eine weitere verklagte Person ihren Wohnsitz hat (sog. „Ankerbeklagte“), wenn zwischen den Klagen eine so enge Beziehung besteht, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint. Zweck dieser dem deutschen Verfahrensrecht außerhalb von § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO56 unbekannten Verfahrenskonzentration ist die Verhinderung sich widersprechender Entscheidungen. Maßgeblich hierfür ist das Kriterium des Sachzusammenhangs (auch: Konnexität), das aus zwei unterschiedlichen Entscheidungen, die in getrennten Verfahren ergehen, „widersprüchliche“ Entscheidungen werden lässt. Denn ein Widerspruch setzt eine abweichende Bewertung desselben Streits unter Zugrundelegung derselben Entscheidungsparameter voraus. Nur in einer solchen Konstellation beruht die abweichende Entscheidung auf der divergierenden Ausübung des richterlichen Ermessens, die durch die Konzentration des Rechtsstreits bei einem Gericht verhindert werden soll.

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Das Kriterium des Sachzusammenhangs ist europäisch-autonom auszulegen, d.h. vom nationalen Recht losgelöst anhand der Vorgaben des EuGH.57 Der EuGH verlangt in ständiger Rechtsprechung das kumulative Vorliegen einer einheitlichen Sach- und Rechtslage.58 In seiner Rechtsprechung hat der EuGH präzisiert, dass die Feststellung „derselben Rechtslage“ nicht zwingend voraussetzt, dass alle Klagen auf ein- und derselben Anspruchsnorm beruhen müssen.59 Unterschiedliche Rechtsgrundlagen stünden einer Anwendung des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO dann nicht entgegen, wenn sich die jeweiligen nationalen Vorschriften als „in den Grundzügen identisch“ erweisen.60 So hat der EuGH entschieden, dass urheberrechtliche Unterlassungs-, Entgelt- und Schadensersatzansprüche nach deutschem und österreichischem Urheberrecht hinreichend vergleichbar sind, um als eine Rechtslage im Sinne der Konnexität zu gelten. Angesichts der historischen Nähe der deutschen und österreichischen Rechtsordnung und der in diesem Bereich nahezu bestehenden Vollharmonisierung (Richtlinien 2001/29/EG und 2004/48/EG) überzeugt dies. Ähnlich hat der EuGH in der Rechtssache Nintendo entschieden. Dabei ging es um die Beurteilung einer Verletzung von Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht durch ein deutsches und ein französisches Unternehmen. Es sei unerheblich, dass einige der im Verfahren geltend gemachten Sanktionen lediglich harmonisiert, aber nicht vereinheitlicht seien, so dass ihre Beurteilung nationalem Recht unterliege.61 Deutlich strenger war der EuGH noch in der Sache Roche Nederland62 und hatte die „Identität der Rechtslage“ verneint, obwohl europaweit einheitliche Vorschriften des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) für die Schutzvoraussetzungen, die Schutzdauer und den Schutzumfang eines europäischen Patents galten (vgl. Art. 52, 63 und 69 EPÜ). Begründet hat der EuGH das Fehlen einer „Identität der Rechtslage“ mit der Feststellung, dass „jede Klage wegen Verletzung eines europäischen Patents anhand des einschlägigen nationalen Rechts zu prüfen ist“.63 In Kartellsachen hat sich der EuGH in der Entscheidung CDC deutlich großzügiger gezeigt (hierzu sogleich).

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Das Erfordernis des kumulativen Vorliegens einer einheitlichen Sach- und Rechtslage ist ohne Weiteres einleuchtend: Unterschiedliche Lebenssachverhalte werden auch bei identischer oder gleichartiger Rechtslage zwangsläufig zu unterschiedlichen Entscheidungen führen, weil der jeweilige Lebenssachverhalt, der den verschiedenen Gerichten vorgetragen wird, ein unterschiedlicher ist. Ein Widerspruch liegt hierin nicht. Es wäre im Gegenteil verwunderlich, wenn die Entscheidungen gleich ausfielen. Entsprechendes gilt für den umgekehrten Fall abweichender Rechtslagen bei identischen oder gleichartigen Lebenssachverhalten. Unterschiedliche materielle Schutzstandards und Wertungen des jeweiligen Gesetzgebers in den Mitgliedstaaten werden zwangsläufig zu unterschiedlichen Entscheidungen über den gleichen Lebenssachverhalt führen. Diese divergierenden Entscheidungen stellen jedoch keinen Widerspruch dar, sondern sind Ausdruck der Wertungsentscheidungen des jeweiligen Gesetzgebers. Freilich ist für die letztere Argumentation angesichts der Harmonisierung des Kartellschadensersatzrechts und der Bindungswirkung von Entscheidungen der Europäischen Kommission zunehmend weniger Raum.

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Es ist Sache des nationalen Gerichts, anhand des gesamten Akteninhalts zu prüfen, ob die Gefahr besteht, dass in getrennten Verfahren unterschiedliche Entscheidungen ergehen.64 Zur Ermittlung der gleichartigen Sachlagen ist der Sachverhalt der Ankerklage mit demjenigen der Klage gegen den Sekundärbeklagten zu vergleichen. Kein Vergleich findet zwischen den Klagen gegen die unterschiedlichen nicht-domizilierten Streitgenossen statt, falls es mehrere gibt. Zur Ermittlung der einheitlichen Rechtslage ist die auf die Ankerklage anwendbare Rechtslage mit derjenigen zu vergleichen, die sich bei einer Klage gegen die jeweiligen Sekundärbeklagten vor deren Heimatgerichtsstand ergäbe. Ob eine einheitliche Rechtslage gegeben ist, kann daher oftmals erst nach der kollisionsrechtlichen Prüfung des anwendbaren materiellen Rechts aus Sicht der alternativen Foren festgestellt werden. Die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen der Konnexität trägt der Kläger.65 Es handelt sich um keine doppelrelevante Tatsache.

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Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ist nur anwendbar auf Beklagte mit (Wohn-)Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates. Einer analogen Anwendung hat der EuGH eine Absage erteilt, da diese erstens mit dem Wortlaut des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO unvereinbar sei, es sich zweitens um eine eng auszulegende Sonderregel handele und drittens die extraterritoriale Anwendung der EuGVVO durch Art. 6 abschließend geregelt werde.66 Der BGH hat sich der Argumentation des EuGH angeschlossen und ergänzend ausgeführt, dass sich auch nach autonomem deutschen Prozessrecht kein entsprechender Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ergebe.67

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Umstritten ist, ob Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auch auf Beklagte Anwendung findet, die ohnehin einen allgemeinen Gerichtsstand innerhalb der angerufenen Jurisdiktion haben.68 Sicher ist noch, dass wenn sowohl Kläger als auch Beklagte ihren Sitz im Inland haben und sich auch sonst kein irgendwie gearteter Auslandsbezug begründen lässt, ein reiner Inlandssachverhalt vorliegt und der Anwendungsbereich der EuGVVO schon nicht eröffnet ist. Darüber hinaus sind verschiedene Konstellationen vorstellbar. Es kann insbesondere vorkommen, dass ein Kläger mit Sitz bspw. in Deutschland mehrere Beklagte gemeinsam in Anspruch nehmen will, von denen ein Teil ihren Sitz ebenfalls in Deutschland hat und andere im Ausland ansässig sind. Es kann aber auch ein Kläger mit Sitz im Ausland zwei oder mehrere Beklagte mit Sitzen innerhalb Deutschlands gemeinsam verklagen wollen. Es stellt sich jeweils die Frage, ob der Kläger alle Beklagten gemeinsam über Art. 8 Nr. 1 EuGVVO an einem Ankergericht (siehe sogleich) im Inland verklagen kann, obwohl nicht für alle Beklagten das gleiche Gerichte innerhalb Deutschlands örtlich zuständig wäre. Es geht damit im Kern um das Verhältnis zum nationalen Zivilprozessrecht: Bejaht man die Anwendbarkeit von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auch auf die in Deutschland ansässigen Beklagten oder bedarf es eines Rückgriffs auf die in § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vorgesehene gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung.69

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Teilweise wird Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auch auf Beklagte mit Sitz im Inland erstreckt, so dass sich in den beschriebenen Konstellationen die Zuständigkeit eines Gerichts für alle Beklagten direkt aus der Norm ergibt.70 Dies folge aus dem Wortlaut von Art. 8 EuGVVO, der im Vergleich zu Art. 7 EuGVVO keine Verschiedenheit von Wohnsitz- und Forumstaat fordere. Andernfalls würde man dem zentralen Anliegen der EuGVVO, im Interesse eines funktionierenden Binnenmarktes den grenzüberschreitenden Rechtsschutz zu vereinfachen, nicht gerecht. Denn ein Kläger müsste vor Klageerhebung bei einem deutschen Gericht zunächst ein umständliches Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durchführen, was ihm bei einer Klage in einem anderen Mitgliedstaat erspart bliebe.71 Auch unter Berücksichtigung schutzwürdiger Belange der beklagten Streitgenossen sei die Anwendung von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO sachgerecht. Ein Beklagter müsse im Anwendungsbereich der EuGVVO damit rechnen, an einem ausländischen Sitz eines Streitgenossen verklagt zu werden, so dass ihm erst recht ein Verfahren vor einem anderen inländischen Gericht zumutbar sei.72 Eine Gerichtsstandbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO sei in diesen Fällen ausgeschlossen. Nur ausnahmsweise könne – aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes und der Prozessökonomie – eine deklaratorische Zuständigkeitsbestimmung erfolgen, wenn das bereits mit der Sache befasste zuständige Gericht Zweifel an seiner Zuständigkeit geäußert hat.73 In diese Sinne hat auch das BayObLG jüngst ausgeführt, dass Art. 8 Nr. 1 EuGVVO dann zu einem gemeinsamen Gerichtsstand führen könne, wenn beide Beklagte im Inland ihren Sitz haben, solange der Kläger außerhalb des Forumstaates ansässig ist. Da jedoch mehrere Kläger aus dem In- und Ausland in Streitgenossenschaft gegen zwei inländische Beklagte vorgegangen sind, konnte Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auch nach Ansicht des BayObLG nicht zu einem gemeinsamen Gerichtsstand gegen alle Beklagten führen. Denn für die Klage deutscher Kläger gegen deutsche Beklagte fehle es an einem – für die Anwendbarkeit der EuGVVO erforderlichen – Auslandsbezug.74

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Andere halten Art. 8 Nr. 1 EuGVVO auf Beklagte mit Sitz innerhalb der in Anspruch genommenen Jurisdiktion generell für nicht anwendbar.75 Die internationale Zuständigkeit folge bereits aus dem Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 EuGVVO, so dass die Anwendung der Ausnahmevorschriften in Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ausgeschlossen sei. Die Regelung nur der örtlichen Zuständigkeit stelle einen von der Verordnung nicht vorgesehenen Eingriff in das innerstaatliche Zuständigkeitssystem dar.76 Nach dieser Ansicht ist es bei mehreren inländischen Beklagten notwendig, nach Feststellung der internationalen Zuständigkeit, ein örtlich zuständiges Gericht innerhalb Deutschlands über das national vorgesehene Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zu bestimmen.77

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Es ist zu hoffen, dass zeitnah das Verhältnis von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO und § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO höchstrichterlich – sei es im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH nach Art. 267 AEUV oder durch eine Divergenzvorlage nach § 36 Abs. 3 ZPO durch den BGH – geklärt wird. Vieles spricht zumindest bei Kartellschadensersatzverfahren für den Vorrang von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO. De lege ferenda wäre ohnehin wünschenswert, das umständliche Zuständigkeitsbestimmungsverfahren gem. § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO durch einen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft abzulösen.78

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