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d) Gewöhnlicher Aufenthalt (§ 9 AO)
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Der Definition des Wohnsitzes in § 8 AO folgt in § 9 AO die Definition des gewöhnlichen Aufenthalts[40]. Wie § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG erkennen lässt, müssen beide Anknüpfungsmerkmale für die unbeschränkte Steuerpflicht nicht kumulativ vorliegen. Das Gesetz geht vielmehr von einer Eigenständigkeit beider Varianten aus.
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Die eigentliche Definition des gewöhnlichen Aufenthalts findet sich in § 9 Satz 1 AO. Danach hat der Steuerpflichtige einen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo (1) er sich aufhält und wo (2) er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Das „Sich-Aufhalten“ meint eine physische Präsenz. Sie ist ausweislich des eindeutigen Wortlauts des Gesetzes nicht auf einen geografisch eng umgrenzten Ort festgelegt, sondern kann an verschiedenen Orten im gesamten Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland bestehen[41]. Entsprechend sind auch die Tatbestandsmerkmale „nicht nur vorübergehend“ nicht als lokale Beschränkung zu verstehen. Sie beziehen sich ebenfalls auf das gesamte Bundesgebiet.
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Wie bei § 8 AO kommt es auch für den gewöhnlichen Aufenthalt nicht auf innere Absichten oder Motive des Steuerpflichtigen an[42]. Ausschließlich maßgebend sind die objektiven Umstände[43], die einen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt „erkennen lassen“ müssen. Aus der unterschiedlichen Zeitform gegenüber § 8 AO (dort „beibehalten und benutzen wird“, hier „nicht nur vorübergehend verweilt“) ergeben sich keine Änderungen. Auch § 9 AO ist ein Zukunftsmoment immanent. Wird aus den objektiven Umständen deutlich, dass der Steuerpflichtige nach seinem Plan mehr als sechs Monate im Inland verweilen will, nimmt die Rechtsprechung in Anlehnung an § 9 Satz 2 AO auch im Anwendungsbereich des § 9 Satz 1 AO dann einen gewöhnlichen Aufenthalt an, wenn es tatsächlich zu einer kürzeren Verweildauer gekommen ist[44].
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Die Tatbestandsmerkmale „nicht nur vorübergehend“ dürfen ferner nicht mit „ununterbrochen“ verwechselt werden. Ein ununterbrochener Aufenthalt ist nicht erforderlich, was schon aus § 9 Satz 2 HS 2 AO folgt[45]. Andererseits ist eine gewisse Stetigkeit durchaus Voraussetzung für den gewöhnlichen Aufenthalt. Sog. Grenzpendler bzw Grenzgänger beispielsweise, die grenznah im Ausland wohnen, im Inland arbeiten und abends wieder über die Grenze zu ihrem ausländischen Wohnsitz fahren, halten sich nach hM nicht gewöhnlich im Inland auf[46].
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Die eigentliche Definition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 9 Satz 1 AO wird ergänzt durch die Fiktion des § 9 Satz 2 AO. Danach gilt stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer als gewöhnlicher Aufenthalt, jedoch kann nach den Umständen des Einzelfalls auch eine kürzere Verweildauer zu einem gewöhnlichen Aufenthalt führen[47].
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Umgekehrt gilt die Rechtsfolge des § 9 Satz 2 AO auch dann, wenn ursprünglich ein kürzerer Aufenthalt geplant war. § 9 Satz 3 AO setzt den Satz 2 der Vorschrift in den Fällen außer Kraft, in denen der Aufenthalt ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs-, Kur- oder ähnlichen privaten Zwecken genommen wird und dieser nicht länger als ein Jahr dauert[48]. Aus dem Wesen des Aufenthalts schließlich folgt, dass ein Steuerpflichtiger – anders als beim Wohnsitz – stets nur einen gewöhnlichen Aufenthalt haben kann (Nr 4 Satz 1 AEAO zu § 9 AO). Die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts erfolgt unabhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen eines DBA[49].
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Lösung Fall 7 (Rn 109):
Nach § 1 Abs. 1 EStG sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Was den „Wohnsitz“ im Sinne dieser Regelung ausmacht, bestimmt sich nach § 8 AO. Hiernach hat eine Person einen Wohnsitz dort, wo sie eine Wohnung unter Umständen innehat, die auf ein Beibehalten und Benutzen der Wohnung schließen lassen. Vorliegend handelt es sich bei der vom M und F genutzten Wohnung, die Bestandteil des Mehrfamilienhauses war, um eine dem M gehörende Wohnung. Diese Wohnung war vollständig eingerichtet, stand M und F zur jederzeitigen Nutzung zur Verfügung und wurde von ihnen tatsächlich genutzt. Damit erfüllt sie diejenigen Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs an einen Wohnsitz zu stellen sind. In welchem zeitlichen Umfang M und F die Wohnung nutzen, ist unerheblich. § 1 Abs. 1 EStG setzt für die unbeschränkte Steuerpflicht das Bestehen „eines“ Wohnsitzes im Inland voraus. Hieraus folgt, dass es ausreicht, wenn eine natürliche Person mehrere Wohnsitze hat und sich nur ein einziger von ihnen im Inland befindet. Dem Wortlaut des § 1 Abs. 1 EStG ist nicht zu entnehmen, dass nur derjenige Wohnsitz zur unbeschränkten Steuerpflicht führt, der zugleich den Mittelpunkt der Lebensinteressen der Person darstellt. Im Gegenteil geht die Vorschrift, indem sie ohne weitere Unterscheidung nur das Vorliegen „eines“ Wohnsitzes verlangt, erkennbar von der Gleichwertigkeit aller Wohnsitze einer bestimmten Person aus. Insbesondere enthält sie keinen Anknüpfungspunkt für eine Differenzierung zwischen „Hauptwohnsitz“ und „Nebenwohnsitz“. Dasselbe gilt im Hinblick auf § 8 AO. Insoweit liegt eine unbeschränkte Steuerpflicht von M und F vor[50].