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Kapitel 61: Steigerungen sind immer möglich

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Und Ernst ist, wenn einem dieser Humor doch noch vergeht, und er verging mir, als Speedy ihre Messungen meiner Kleinigkeit dann wiederum extra so lange in die Länge zog, bis die Verkäuferin mit den beiden gewünschten Wäschestücken, die sich dort in der für mich richtigen Größe hatten finden lassen, aus dem Lager zurückkehrte, die dies wohl ganz genau mitbekommen sollte, womit Speedy sich inzwischen die Zeit vertrieben hatte, damit sie davon dann auch ja ihren Kolleginnen berichten könne und die dann noch mal mehr etwas über mich zu lachen haben. Und Speedy ließ es auch nicht etwa dabei bewenden, daß sie mich von meinen wenigen drei Zentimeterchen in Kenntnis gesetzt hatte, auch die Verkäuferin sollte dies natürlich unbedingt wissen und mit ihr komplett die ganze weibliche Schar – während mir die Verkäuferin in den Unterrock half, sagte Speedy wie beiläufig: »Deine drei Zentimeter, das ist die einzige Zahl, die du dir merken mußt, ich möchte, daß wir das zu Hause noch mal nachmessen, auch im erigierten Zustand.« Das war aber lieb von ihr, daß ich mir die Bekleidungsgrößen nicht merken mußte, wirklich lieb. Speedy kann ja so nett sein. Ein paar klitzekleine drei Zentimeterchen, die werde sogar ich mir ja wohl merken können. Wenn’s weiter nichts ist, und sehr viel mehr werden das bei mir doch im erigierten Zustand nicht, und auch das war natürlich etwas, das die Verkäuferin unbedingt wissen mußte, und wenn’s nach Speedy gegangen wäre, dann hätte Masseck darüber auch noch auf der Lokalseite der BZ am Mittag geschrieben, unter dem Titel: Rekordverdächtig – der kleinste Männerschwanz Berlins. Gesegnet die Zeiten, die da sicher irgendwann kommen werden, wo so was in der Zeitung steht, in der Boulevard-Zeitung natürlich, nicht im Völkischen Beobachter, der sich mehr den gravierenderen Dingen zuwendet, der großen Politik, nicht einem winzig kleinen Penis. Speedy sagte, und es war ganz, ganz mucksmäuschenstill in der kleinen Anprobekabine, die junge Verkäuferin, sie wollte sich doch auch nichts davon entgehen lassen, was diese bemerkenswerte Ehefrau zu ihrem sehr viel weniger bemerkenswerten Ehemann so zu sagen hatte: »Aber soviel nimmst du ja nicht zu, das ist ja nicht weiter der Rede wert.« Genau, und weil dem so ist, hätte sie’s ja nicht noch erwähnen müssen – was für ein Biest sie manchmal sein kann. Aber damit war doch nicht etwa schon Schluß mit meiner Erniedrigung? Nein. Warum denn auch? Wo es doch so viel Spaß machte. Ihr Spaß machte. Es fehlte ja noch der Vergleich und der Hinweis für die junge Verkäuferin darauf, daß auch eine Speedy sich nicht etwa mit einer solchen klitzekleinen Kleinigkeit zufriedengeben würde. »Masseck«, sagte Speedy und Masseck mußte ja hier genannt werden, »Masseck kommt sicher auf seine achtzehn, neunzehn Zentimeter.« Wirklich? Achtzehn, neunzehn Zentimeter – wer hätte das gedacht? Ob Speedy da auch mal nachgemessen haben wird, bei Masseck? Sie wird doch mit diesen achtzehn, neunzehn Zentimetern etwas Besseres zu tun gewußt haben. Nehme ich doch mal an. Was für eine Angeberin! Aber mit Masseck war natürlich auch gut angeben, Masseck, der Name hatte doch Klang, und er war doch diesem Ladenmädel vielleicht sogar nicht ganz unbekannt, dieser Masseck, der Lokalreporter Masseck, oder von früher her: der rasende Roland des Filmklatsches Masseck, und eine andere Zeitung lesen sie doch nicht, diese Ladenfräuleins, als so ein Drei-Käse-Blatt wie die BZ am Mittag, das ist doch genau ihr intellektuelles Niveau – obwohl natürlich das Wort Niveau hier gänzlich unangebracht sein und intellektuell bei ihnen schon ein Fremdwort sein dürfte. Nun wußte sie also in etwa Bescheid, diese Tussi, über mich und meine drei Zentimeter, über Speedy mit ihrem Masseck und dessen imposanten Acht-/Neunzehner. War ja alles bestens.

Von wegen: es war alles bestens – wenn, dann war nur bis zu diesem Moment noch alles bestens, aber im nächsten schon nicht mehr. Im nächsten Moment begann er, der Horror, der Nazi-Horror meldete sich zurück, den Speedy mich, so schön und grausam in ihren Methoden, hatte vergessen lassen, die Nazi-Realität hielt Einzug in dieses Sonderweltchen eines Schöneberger Miederwarengeschäfts, ein SA-Trupp näherte sich mit Gebrüll, und ich erstarrte, erstarrte zu Eis. Aber nicht nur ich allein, auch Speedy hielt plötzlich inne in ihren Bewegungen, und ihre Augen irrten wirr herum und blieben fragend bei der Tussi stehen, die neben uns stand und für einen Moment genauso gelähmt schien wie wir beide, wie Speedy und ich. Dann aber kam wieder Leben in sie: sie riß den Vorhang zur Kabine beiseite, ob ich da in meiner Nacktheit, Entblößung gesehen werden konnte, es war ihr offensichtlich vollkommen egal, und auch die anderen beiden, bisher so maßlos trägen Ladenmädel waren plötzlich in Bewegung geraten: sehr eifrig und gut koordiniert und, wie es den Eindruck machte, als würden sie’s nicht zum ersten Male tun, ließen sie die Jalousien an den Schaufenstern mit einem lauten Krachen herunter, und eine von ihnen schloß die Ladentüre ab. Das ging alles blitzesschnelle, und eh wir uns auch nur versahen, und auch der Neger in seinem Sessel hatte nur Zeit, sich hilflos zu ducken. Der johlende Trupp kam näher, der johlende Trupp trampelte mit schweren Stiefeln direkt da draußen vor dem Laden vorbei, und dann gab es einen lauten Schlag gegen eine der beiden großen Jalousien, dann ein unflätiges Gelächter und Juden-raus-Gebrüll, und dann entfernten sich die schweren dumpfen Stiefelschritte wieder, der Spuk schien vorbei, aber mein Herz schlug wild und wollte sich nicht beruhigen. Speedy faßt nach meiner Hand und sagte: »Es ist vorbei, sie sind weg.« Aber das half nichts, und es half auch nichts, daß die junge Verkäuferin, die zu uns in die Kabine zurückkam, verkündete, sie würden dies immer so handhaben, auf Anweisung der Chefin und zum Schutze ihrer Kundschaft. Das machte es doch nicht besser.

Aber es änderte vollkommen die Situation, und wenn jemand dies schlagartig erfaßte, daß die ganze Situation nun eine vollkommen andere war, dann Speedy, Speedy zuerst. Das ist doch genau das, was sie braucht, die Aufregung, die sie braucht, die Aufregung, die sie furchtlos und kaltblütig werden läßt, die Aufregung, in der sie auflebt, und ich bin mir in einem ganz sicher: daß sie wußte, auf demselben Level wie bisher konnte es nicht weitergehen, daß es jetzt einer Verschärfung bedurfte, einer Verschärfung der Anforderungen an mich, sollte die Droge noch wirken, die Droge Realitätsblindheit, die Droge, die es mir erlaubte, die Nazi-Wirklichkeit da draußen noch ausblenden zu können, und was mit Speedy los war, welche Entschlossenheit sich in ihr in diesem Moment durchsetzte, das einmal Begonnene weiter durchzuziehen, dabei aber die Dosis zu erhöhen, ich sah es schon daran, wie sie die Hand der Verkäuferin festhielt, um sie daran zu hindern, den Vorhang zu unserer Kabine wieder zuzuziehen. Ich stand da wie auf dem Präsentierteller, und genauso wollte sie mich, den Blicken der andern drei Ladenmädels preisgegeben, dem verwirrten Blick des Negers in seinem Sessel preisgegeben, der sich leicht aufrichtete, als wollte er besser sehen können, was sich ihm da für ein Bild präsentierte: dieser nackte, fast nackte Mann da mit einem BH, der ich war, der Mann mit dem fast Nichts eines Schwänzchens, dem forget about it. Und genau dieses Ding, mein kleines, kleinstes Ding, Speedy nahm es in die Hand, Speedy ließ es in ihrer Hand verschwinden und während sie dies tat, und mich damit zu einem Nichts machte, sagte sie, und sie sagte es laut, sehr laut, damit es ja auch alle hören können: »Wieviel Zentimeter aber wohl unser schwarzer Riese da haben wird … « Und sie wiegte den Kopf und lächelte verführerisch, während sie dies sagte, und fügte dem dann noch hinzu, so, als entschlösse sie sich in dem Moment dazu: »Wir sollten ihn mal herbitten, um das nachzumessen.«

Der Neger muß es gehört haben, aber er verstand es wohl nicht ganz, was Speedy von ihm wollte, er verstand nur, daß sie etwas von ihm wolle, und also erhob er sich von seinem Sessel, und er war wirklich ein Riese, wie er da nun dastand und einen Moment nicht weiter wußte – wie ein desorientiertes Ungetüm, das es in unbekannte Gefilde verschlagen hatte, so sah er drein, dann aber kehrte doch sein Verstand zurück, sein bißchen Negergrips sagte ihm, was zu tun sei, und er setzte sich langsam in Bewegung, und fast machte es den Eindruck, als wollte er direkt zu uns, zu Speedy kommen, aber sein Ziel war doch ein anderes, sein Ziel war die letzte Anprobierkabine am Ende der Reihe, sein Ziel war die Frau, zu deren Begleitung er hierher in dieses Dessousgeschäft gekommen war, mitgekommen war. Er öffnete den Vorhang dort ein bißchen zu dieser Kabine, und man konnte ihn sprechen hören, und daß das kein Deutsch war, das er da sprach, das war selbst auf die Entfernung hin klar, aber daß das Englisch sein sollte, sein furchtbares Pidgin, ich habe es erst später mitbekommen, später, als sie zu ihm sprach, die Frau, zu der er gehörte, der er gehörte – um das mal so drastisch auszudrücken, wie es in diesem Falle wohl angebracht war: moderne Sklaverei, Fortsetzung der Sklaverei mittels Geld. Der war doch gekauft, der Neger, eingekauft von einer Frau, die Geld hatte und wohl sehr viel Geld, von einer Frau, mit der wohl kein Mann geschlafen hätte, ohne wenigstens dafür bezahlt zu werden – auch das will ich drastisch ausdrücken, so drastisch wie es mir bei dieser Frau angebracht scheint: ich habe nie wieder, weder vorher noch nachher, ein häßlicheres Weibsbild gesehen. Wirklich nicht. Sie war vollkommen flach vorne, flach wie ein Brett, und ihre Beine, das waren Streichholzbeine, und ihr Gesicht erst: so vogelartig mit einer Hakennase, als wäre es ein Schnabel, und die Frisur aufgetürmt, pathetisch aufgetürmt, als wäre sie den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts entsprungen, offensichtlich schwer blondiert das sicher schon graue, ergraute Haar. Sie war garantiert über die Sechzig drüber weg, zumindest sah sie so aus, verlebt und abgelebt und immer noch hitzig, immer noch unersättlich. Überall an allen Fingern dicke Klunker, der spirlige Hals umhängt mit schweren Goldketten, Geld, Geld, und halbnackt und vollkommen schamlos in ihrer Häßlichkeit kam sie aus ihrer Kabine heraus, mit einem Hemdchen allein bloß bekleidet, das ihre fehlenden Titten deutlich sehen ließ und unten eine gerötete Fut, wie eine Wunde, bedeckt von ein paar wenigen, undefinierbar grauen Haaren – eine Schreckensgestalt. Ein Gespenst. Wie von Dix gemalt. Und sie grinste, sie verzog ihren stark rot geschminkten Mund zu einem schiefen Grinsen, und als hätte sie sofort erfaßt, wer hier ihr Gegenüber sein würde, ihre Verhandlungspartnerin, ging sie auf Speedy zu und fragte sie mit einer krächzenden Stimme: »Was wollen Sie denn von meinem Schwarzen?«

Genau: von ihrem Schwarzen, ihrem – von ihrem Eigentum, ihrem Sklaven, ihrem Beschäler und Beischläfer, von ihm wollte Speedy etwas: ihn messen, sein Ding ausmessen, sein von ihr als riesig angenommenes Gerät, seinen Bumskolben abmessen, und sie wollte es um meinetwillen, um mich mit meinen drei Zentimetern noch einmal mehr bloßzustellen, und ich würde sagen, daß nicht allein nur Speedy dies wollte, würde sagen, daß es da mittlerweile auch noch drei andere Weibsstücke gab, die gern den Vergleich ziehen wollten, nicht nur die Verkäuferin, die Speedy und mir in die Kabine gefolgt war, sondern auch die andern beiden, die von ihr garantiert zwischendurch über bestimmte Zwischenergebnisse ihrer Bemühungen informiert worden waren – sie waren alle da, standen alle drei um uns erwartungsvoll herum, jetzt, wo der Laden geschlossen, die Jalousien heruntergelassen waren, ich mitten unter ihnen, immer noch die personifizierte Lächerlichkeit mit meiner heruntergezogenen Unterhose und in dem Unterrock, der wenigstens ein bißchen meine Blöße bedeckte. Wenigstens der, denn dazu kam ich in der Aufregung gar nicht, mir meine Unterhose hochzuziehen. Aber irgendwas genützt hat mir auch dieser Unterrock nicht, der für Speedy doch nur dazu da war, ihn anzuheben, um mich auf diese Weise und meine beschämende Wenigkeit noch einmal zu entblößen. Vor dieser Frau, wie ich häßlich und abstoßend keine in meinem ganzen Leben bisher gesehen habe. Vor dieser geilen Sechzigjährigen, dieser unersättlichen. Vor dieser Negerbraut. Und wie beantwortete Speedy die Frage dieser Schreckensgestalt? Wie? Natürlich genauso, wie es für mich am schmachvollsten sein mußte. »Ach, wissen Sie«, sagte sie, sehr höflich, sehr verbindlich, »ich habe hier einen deutschen Mann, meinen Mann, meinen Ehemann, und der zickt mir ein bißchen zu viel rum für die wenigen drei Zentimeter, die wir grade zusammen bei ihm gemessen haben, und da dachte ich, es wäre sicher ganz gut für ihn, er würde das mal sehen können und auf den Zentimeter genau wissen, was richtige Männer so aufzuweisen haben.« Das sagte sie, meine Speedy, meine Ehefrau. Und sie redete nicht nur, gab nicht allein nur Erklärungen ab, sie trat neben mich, während sie sprach und hob also den Unterrock in die Höhe, von dem ich gehofft hatte, er würde mich schützen können, und entblößte mich und meine drei Zentimeter, und sie fasste nach ihnen und hob sie in die Höhe und ließ sie dann wieder, als wollte sie dann auch noch ihre Impotenz demonstrieren, schlaff herabfallen – alle guckten, die beiden Verkäuferinnen guckten und kicherten, prusteten drauflos, die meine Wenigkeit noch nicht gesehen, von ihr nur gehört hatten, der Neger guckte, und seine wulstigen Lippen verformten sich zu einem hochmütigen Grinsen, und das Gespenst, es ließ ein affektiertes Oh, la la hören, auf das ein lautes Gelächter folgte, und dann kam sie, kam sie zu mir und faßte mich an, berührte sie meine drei Zentimeter und sagte, zu Speedy gewandt: »Das ist ja köstlich. Im höchsten Maße amüsant. Ein Schniepelchen.« »Ja«, sagte Speedy, »ein süßes, kleines Schniepelchen, mehr hat er nicht.« Darauf die erstaunte Frage des Gespenstes: »Und Sie lassen sich von ihm begatten?« »Natürlich nicht«, antwortete Speedy, »ich schlafe nur mit richtigen Männern, aber er ist oral ganz gut … « Erneutes Gekicher der drei Verkäuferinnen. »Und«, sagte Speedy, »deshalb mache ich ihn gerade zu meiner Frau.«

»They want to measure your cock, honey«, sagte das Gespenst zu ihrem Schwarzen, ihrem Neger, ihrem Honey, ihrem unerschöpflichen Honigtopf. Und zu Speedy sagte sie: »Ich bin ganz damit einverstanden. Bedienen Sie sich seiner.« Und Speedy winkte nach der Verkäuferin, die uns bedient hatte und sagte ihr, barsch und in einem Befehlston, der keine Widerrede erlaubte: »Zieh ihm die Hose runter.« Und die Verkäuferin gehorchte, gehorchte Speedy aufs Wort: sie ging vor dem Neger auf die Knie und holte ihn heraus, aus seiner Hose heraus, den großen Negerschwanz, und ein lautes Oh, ein allgemeines Stöhnen ging durch den Raum, und beinahe wäre es mir passiert, daß ich da mit eingestimmt hätte: dieser Negerschwanz, er war so groß, so imposant, und er strahlte so eine Kraft aus, eine solche Potenz, und er war noch nicht einmal steif. Aber steif, das sollte er noch werden dürfen.

Würde ich das alles glauben, wenn es mir jemand erzählt? Ich weiß nicht. Ich würde wohl sagen:

Schlechter, nu übertreiben Se aber.

Und wenn dieser Schlechter dann doch keine Ruhe gäbe und weiter an seiner Geschichte erzählte und festhielte, und das in einem Stil mit der Behauptung inklusive: is allet wahr, dann würde mir irgendwann wahrscheinlich doch der Kragen platzen, und ich würde ihn unhöflich unterbrechen und dazwischenrufen: Schlechter, det können Se mir doch nich erzähln, det ham Se sich doch bloß allet ausjedacht.

Eben nicht. Das hat sich dieser Tag ausgedacht, der 28. Februar des verrückten Jahres 33, der Nachfolgetag zum nächtlichen Reichstagsbrand der Nacht davor.

Sicher übertreibe ich hie und da, und ganz schön drastisch ist das schon – wohl wahr, und würde ich’s hier nicht für mich allein nur schreiben, striche ich’s wohl weg oder ich verharmloste es besser, daß man mir da nicht dann mit Pornographie käme und mir den Vorwurf einer Obszönität machte, die nicht mehr unter dem Deckmantel der Kunst exhibitionistisch durchmarschiert. Aber ist ja alles wahr und nichts als die Wahrheit, ich schwöre und so wahr mir Gott helfe, doch natürlich schreibe ich hier auch nicht an einem sich um Sachlichkeit bemühenden Polizeibericht, sondern sehe hier alles durch meine aufgeregte, hysterische Brille, mit einem wieder klopfenden Herzen, mit verschwitzten Händen und einer gewissen Feuchte in der Unterhose. Ich motze vielleicht ein paar Dinge auch auf, zumindest sprachlich motze ich sie auf und lade sie mit einer Bedeutung auf, die ihrer sonstigen Banalität nicht entspricht. Und vielleicht auch nicht ganz immer meinem Erleben in der aktuell damals erlebten Situation – man erlebt ja soviel meist doch nicht, nicht jeden Moment in der gleichen Intensität und auch nicht den unbedingt, von dem man im nachhinein weiß, auf ihn kam es entscheidend an, mit der Intensität und Eindringlichkeit, die eigentlich angebracht gewesen wären. Die Erinnerung korrigiert dies, und erzähle ich’s, schreibe ich es auf, korrigiere ich dies noch einmal mehr. Man schneidet die langweiligen, die nichtssagenden Momente einfach raus und läßt sie weg, das ist sicher wahr, und insofern ist’s natürlich nicht ganz wahr, was hier geschrieben steht über die bemerkenswerten Ereignisse jenes 28. Februar 1933. Es fehlt zum Beispiel, daß ich fast die ganze Zeit über, immer wieder jedenfalls, kalte Füße hatte – aber nicht politisch kalte Füße, nicht sexualpolitisch kalte Füße auch, sondern ganz banal an diesem kalten Februartag kalte Füße, und daß diese kalten Füße mich immer wieder plagten, meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, mich von dem wundersamen Geschehen ablenkten, von dem ich doch irgendwie auch wußte: das erlebst du nur einmal, so was Verrücktes. Und es mag das alles gewesen sein: furchtbar peinlich, eine Schmach, eine Schande und lächerlich auch, und wenn ich sage und schreibe, ich wäre am liebsten im Erdboden verschwunden, dann wäre mir die Erde nicht nur ein bißchen zu kalt gewesen an diesem Tag, und es hätte schon der Parkettfußboden des Ladens sein müssen, in dem ich verschwinde, aber ich hätte auch da dann immer noch mit dem Kopf herausschauen wollen, um das alles beobachten zu können und einen andern Schlechter leiden sehen wollen an meiner Statt. Immer auf einem andern Level als normal und jenseits damit also auch von diesen normalen Maßstäben dessen, was peinlich sei und Schmach und Schande – als wär’s wie aufgehoben in Faszination, ich selber geschützt auch durch die erlebte Faszination, das Erleben des Erlebten als faszinierend, als Ausnahmezustand. Und deshalb erinnerte das selber Erlebte immer auch irgendwie, und es erinnert mich auch jetzt noch und mit dem Abstand der Jahre vielleicht sogar noch mehr, in seiner Irrealität ans Kino. Ich weiß, es hat niemals einen Film mit einer solchen Szene gegeben, und einzig und allein diesem Erich von Stroheim wäre so etwas zuzutrauen, diesem verrückten Amerikaner – der hätte eine solche Szene vielleicht drehen können, wenn er denn hätte all das drehen können, was er gern gedreht hätte. Und das, was er gedreht hat, das war schon verrückt genug, daß sie ihm von den Studios immer wieder Szenen rausgeschnitten, ihm seine Filme zerstückelt haben und zusammengeschnitten. Aber auch so ein Sketch mit einem Neger fällt mir da ein, den ich mal in einem der verruchtesten Berliner Kabaretts gesehen habe, wo auch so ein Neger auftrat, ein Matrose, und das war natürlich Tingeltangel, und also mächtig übertrieben und es war darüber hinaus auch noch eine Show in einem Transvestiten-Lokal, und alle Damen wurden von Herren gespielt, und nur der Neger blieb Neger und ein Mann dabei. Und dann wäre doch wohl so ein Gespenst, diese häßliche, alte, abgelebte Schachtel sicher nicht nur bei Dix, sondern auch noch irgendwo bei George zu finden, der könnte sie mit spitzer Feder gezeichnet haben, als eine Fratze unter vielen in seinem bösartigen Portrait der herrschenden Klasse. Und auch so eine Simultandarstellung zweier gleichzeitig stattfindender Ereignisse, das ist ja etwas, das Grosz des öfteren gemacht hat: drinnen das bürgerlich-pervertierte, hier nun aber echt perverse Wohlleben und draußen die abgehärmten Proletariergestalten, hier ersetzt nun durch die beginnenden Schmerbäuche einer randalierenden Horde von SA-Idioten und Krawallmachern primitivsten geistigen Zuschnitts, angetrieben von den niedrigsten Instinkten. Beides zusammen erst ergäbe das vollständige Bild. Ohne die SA-Horde jedenfalls wir nicht, wir Verrückten im Innern des Miederwarengeschäfts.

Trotzdem muß man sich das klarmachen, wieviel Personen daran beteiligt waren, an diesem Geschehen, und das in einer Art von Zusammenklang, wenn auch sicher schriller Art – Harmonie, das Wort wäre zu harmlos. Fünf, sechs, sieben Verrückte. Die drei Ladenmädels, der Neger und sein weißes Schreckensgespenst, und auch die Inhaberin des Ladens spielte ja auf ihre Weise dann später noch mit, dann Speedy und ich und ich auch als Mitmacher, ergibt – jetzt muß ich doch wirklich die Finger zu Hilfe nehmen beim Nachrechnen: acht. Die eigentliche Initiative, sie lag bei Speedy, das war ihr Tag. Das war ein Speedy-Tag. Daß ich mitmachte, sicher nicht so erstaunlich, aber die Voraussetzung für alles Weitere – wirklich erstaunlich war, daß sich da diese Personen, diese zufällig eigentlich zusammenkommenden Personen von Speedys Verrücktheit anstecken ließen, daß sie mitmachten, alle, bereitwillig, und würde mir das jemand so erzählen, was da geschehen ist, an diesem Tag, diesem Speedy-Tag, dem 28. Februar 33, ich würde es wohl gar nicht glauben, nicht für möglich halten. Viel zu extrem. Außerhalb dessen sich bewegend, was man so für möglich hält. Außerhalb dieses Rahmens von Normalität, und wenn ich nach dem Grund dafür suche, warum es dann doch wohl zu diesen extremen Szenen kommen konnte, was sie möglich gemacht, verursacht hat, dann, ja, dann … dann komme ich auf den Nazi, komme ich auf den Reichstagsbrand, den einsetzenden Terror, komme ich konkret: auf diesen SA-Trupp, der in dieser Einkaufsstraße durchmarschiert ist, Juden raus, und auch die drei gutdeutschen Ladenmädel wußten doch, daß sie das mit betrifft, das Juden-raus-Gegröle, ihren Laden, ihr jüdisch schickes Miederwarengeschäft – deshalb ja dann ihre konzertierte Aktion als eingespieltes Team: wie sie die Jalousien runtergelassen, den Laden abgeschlossen haben. Und ab dem Moment erst, würde ich sagen, ging es richtig los mit dem Irrsinn, und alle beteiligten sich dran. Das ist der Hintergrund, vor dem all dies geschah: der Nazi, der Reichstagsbrand, das Gegröle, der Schlag gegen die heruntergelassene Jalousie, das laute Lachen der SA, das ist der Hintergrund, der Hintergrund, vor dem das alles auch nur zu begreifen ist. In seiner Extremität, seiner Verrücktheit. Der Tanz am Rande des Abgrunds. Durchgedreht und aufgedreht, aufgedreht und aufgekratzt, und das galt für alle Beteiligten. Deshalb ließen sich alle von Speedy anstecken. Von ihrer Verrücktheit. Natürlich ist das eine Geschichte wie aus dem Tollhaus, total verrückt und deshalb würde mir ja auch kein Biedermann diese verrückte Geschichte glauben in ihrer ganzen Verrücktheit – stimmt nicht, stimmt so nicht mehr, die Zeiten haben sich geändert, man höre doch nur mal den Gerüchten zu und was die Leute so munkeln: das weiß doch auch der biederste Biedermann, daß der Nazi sein einstmals so biederes Deutschland in ein solches Tollhaus verwandelt hat, wo alles, aber auch alles möglich ist, für möglich gehalten werden muß. Und also auch das, daß da ein paar reinste zufällig zusammenkommende Privatleute zusammen durchdrehen.

Totale Antriebslosigkeit heute, keine Lust zu schreiben – da wird doch nicht etwa der Neger dran schuld sein, wegen seiner Virilität. Seiner Potenz. Weib ist Weib – egal wie. Wie alt, wie häßlich. Ich komme mir so verzärtelt vor. Ein kleines Flämmchen, das jederzeit zu erlöschen droht. Ich brauche die Anregung von außen. Daß alles aus mir selber herausholen zu müssen, das raubt mir auf Dauer alle Kraft. Die Schaffenskraft, die Lust auch, etwas zu tun. Und hier nun die: zu schreiben.

Speedy – Skizzen

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