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Das Leben in Parallelwelten
ОглавлениеSIEGanz ehrlich: Ich habe mit dieser Fußball-Weltmeisterschaft null Problem. Ich finde es rasend interessant, Menschen stundenlang zuzuhören, wie sie über Dinge sprechen, die ich nicht gesehen habe. Oder darüber streiten, ob Sándor Kocsis im Jahre Schnee elf oder zwölf WM-Tore geschossen hat. Ich freue mich unbändig, wenn irgendjemand aus den diversen Ball-Aficionado-Runden meine zurückhaltende Frage »Aber dass Klose insgesamt 15 WM-Goals geschossen hat, stimmt?« mit einem oberlehrerhaften »Sehr gut, Gaby!« quittiert. Ich schramme knapp am geistigen Orgasmus vorbei, wenn der Mann nebenan mir pro WM-Abend 20 Minuten Aufmerksamkeit schenkt, um sein tägliches Bulletin zum Thema »Warum es heute doch unbedingt nötigt ist, dass ich alle Spiele anschaue, und ich leider auch heute nicht viel Zeit habe« abzugeben. Dass ich die vergangene Nacht davon träumte, aus seinem »WM-Planer « ein Origami-Kunstwerk gebastelt und unser Schlafzimmer mit Freistoß-Spray verunziert zu haben, muss ich mit meiner Therapeutin besprechen. Sonst – finde ich – habe ich mich für die nächste Runde qualifiziert.
Bis auf die Sache mit der Hymne – da zuck’ ich aus. Hufnagl ist hymnisch, Hymnen betreffend. Er kennt jede, er kommentiert jede, er kann stundenlang zu diesem Thema referieren: »Weißt du, dass die algerische Nationalhymne von einem gewissen Mufdi Zakariah im Jahr 1956 im Gefängnis getextet wurde? Faszinierend, gell?« Pfuh, total. Das viel größere Problem: Er redet über die Werke nicht nur, er pfeift sie auch noch. Ich wache auf – und als Begrüßung perlt eine »Marcha Real« über seine Lippen. Wobei er mir zum 8. Mal erklären muss, dass diese, die spanische Hymne nämlich, ohne Text auskommt. Dass diese WM fortan nun ohne Lieblingsspanier auskommen muss, fällt von meiner Seite daher in das Kapitel »Ätsch«.
EREs gibt ja (erstaunlich viele) Menschen, die sich zumindest vom Teilzeitvirus infizieren lassen. Also jene, die im WM-EM-Zwei-Jahres-Rhythmus auf der Fußballwelle surfen, um dann eh wieder verlässlich den Alltag, sprich die TV-Analyse von RZ Pellets WAC gegen SV Scholz Grödig, sich selbst zu überlassen. Naserümpfen inklusive. Jetzt aber wird wie wild geschaut und diskutiert, getippt und proklamiert. Außer: Man ist meine Frau. Die bewahrt sich ihre Immunität derart konsequent, dass ich mich mitunter frage, ob das nicht wehtut.
Nur hin und wieder schwebt sie durch den Raum, um mich en passant aus der Isolation zu reißen. Dann sagt sie gerne Ironisches (»Oh, da schau’ her, heute is’ schon wieder ein Match?«), Verblüffendes (»Und, wie taugt dir das Umschaltspiel der Kolumbianer?«) oder Provokantes (»Stimmt es, dass Müller der neue Messi ist?«). In Wahrheit sind diese Bonmots aber nur kleine liebevolle Aufmerksamkeiten, stellvertretend für die Gewissheit, dass es Schlimmeres gibt als ein gelegentliches Leben in Parallelwelten. Und das Gute ist außerdem: Ich muss keine dieser Fragen beantworten (den schlechten Müller-Witz habe ich dennoch augenblicklich korrigiert, damit sie nicht in Gefahr gerät, sich anderswo mit derlei erdfernen Vergleichen lächerlich zu machen). Nur die Sache mit den Hymnen ist schwierig. Die sind mir nämlich immer blunz’n, außer es ist Fußball. Da gehören sie zum Gesamtkunstwerk, speziell die südamerikanischen. Also dreh’ ich den Ton immer ganz laut auf und pfeife leidenschaftlich mit. Daher höre ich auch nie, wenn meine Frau sagt: »Egal. Der 14. Juli ist noch jedes Jahr gekommen.«