Читать книгу Allgemeinbildung in der Akademischen Welt - Gerd Breitenbürger - Страница 51
2.4 Ideologien sind pointierte Behauptungen
ОглавлениеDas Denken braucht die Zuspitzung, in der eine Ungenauigkeit, normativ auch Ungerechtigkeit, zugunsten einer wichtig genommenen Einsicht liegen kann. Das Denken braucht aber auch die Ausgewogenheit. Der Gewerkschaftsführer, der nur aus der Perspektive der Arbeiterschaft die Erhöhung der Tariflöhne sieht und nicht in der Lage ist, die volkswirtschaftlichen Konsequenzen, die die Gegenseite ihm prompt vorrechnen wird, zu verstehen, ist nicht kompetent. Statt Politik oder Geschichte müsste er eigentlich Volkswirtschaft studiert haben oder selbst in der Praxis das nötige Wissen erwerben. Denn wieviele Politologen halten es für nötig, den Unterschied zwischen "Prozenten" und "Prozent-Punkten" tatsächlich zu kennen. ("von 20 % auf 25 %, sind 25 % mehr und 5 Prozentpunkte mehr). Das ist so gravierend, als wenn er den Investivlohn für einen Intensivlohn hält, was er auch irgendwie tatsächlich ist, aber einer mit Aktien und bei dem die Arbeitnehmer schleichend zu Arbeitgebern werden. Überall lauert das Flügelschlagen der Schmetterlinge mit der bekannten Chaoswirkung. Was auch nicht so wichtig ist, wenn man sowieso eines Tages aufwacht und nur noch Arbeitgeber ihren Beitrag in die Gewerkschaftskasse zahlen. Der Intellektuelle, der über diesem Weg eine andere Gesellschaft anschieben will, braucht doch Kenntnisse der Praxis, darüber hinaus aber auch eine Ideologie, die er philosophisch, pragmatisch und ethisch begründet. Darin zumindest, so wird gefordert, müsste er denen, für die er streitet, überlegen sein.
Die Franzosen sind dieser Spur mit Hingabe gefolgt. Jean-Paul Sartre (gest. 1980) hat es vielen vorgemacht. Seine intellektuelle Sicht der Gesellschaft hat er philosophisch untermauert. Seine Haltung mit der Entscheidung des Philosophen für das praktische Engagement wurde sichtbar, als er vor den Toren der Renault-Werke den Arbeitern Gespräche anbot, als 1968 in Paris die revolutionäre Stimmung gärte. Die Situation mit ihrem Scheitern wurde ein Beleg für Camus Urteil, Sartre sei nur Theoretiker. Er hatte in der Tat keine Hemmungen, krasse Einseitigkeit, wie tendenziell jeder Intellektueller, zugunsten seiner Grundüberzeugungen zu bekunden, als er dem Stalinismus goldene Seiten abgewann und später den Terroristen in Deutschland beisprang. Für Camus gab es keine guten und bösen Konzentrationslager. Es musste eine Möglichkeit für den Menschen geben, ohne Ideologie zu leben, auch wenn er keine Hoffnung mehr kennt. Er war radikal und leidenschaftlich für die Wahrhaftigkeit und ebenso gegen jede Form, wie sich der Mensch die bequemen Rechtfertigungen durch gedankliche Zurechtlegungen besorgt.
Ideologien entfachen nicht nur lebhafte Emotionen, sie werden auch gerne aktiviert, wenn lebhafte Emotionen kanalisiert werden sollen. Wären sie "ausgeglichen" in ihrem humanen Ansatz, könnte man sie vernünftig nennen, aber auch ärmer an Resonanz. In Ländern wie Frankreich, aber auch im früheren Ostblock, wo man "Häuser der Schriftsteller" unterhielt, um die öffentliche Meinung zu lenken, wusste man von der eminenten Bedeutung pointierter Gedankenführung. Ihre Genauigkeit ist psychologisch berechnet, nicht sach-logisch. Sie besitzen ein manipulatives Element und die Einseitigkeit des Rechthabens.
In der Wüste, es sei noch einmal erzählt, verirren sich zwei Cowboys. Sie begegnen einem einsamen Reiter und fragen ihn nach dem Weg nach Amarillo. Er antwortet, "nach Süden". Da nimmt der eine Cowboy seinen Revolver und erschießt ihn: Fragt der andere. "Warum?" Antwortet der erste: "Er wusste zu viel". Der Cowboy hatte begriffen, dass der, der Bescheid weiß, der Intellektuelle und der Ideologe, immer gefährlich ist, weil er es immer besser weiß, wo es lang geht, und auch noch auf irgendeiner anderen Seite steht.
In dem schwarz-weiß Film von 1948, Les mains sales („Die schmutzigen Hände“) von Jean-Paul Sartre, wird der Protagonist Hugo von der Partei ausgeschlossen, weil er als ideologisch festgelegter Intellektueller zu viel denkt und nicht im Sinne der Partei handelt, nämlich nicht einen Mord aus politischen Gründen begehen kann. Als Intellektueller ist er „nicht wieder verwendungsfähig“, „non récupérable.“. Nur die ideologische Geistesverfassung erlaubt es, der Partei zu gehorchen und sich die Hände schmutzig zu machen.