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Einheit

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Seit der Wiederentdeckung der Poetik von Aristoteles (384–322 v. Chr.) in der Renaissance mit der Neupublikation des Originaltextes Peri poieitikes im Jahr 1508 prägt der Prinzipien- und Methodenstreit um die drei E.en die neuzeitliche Theaterdramaturgie. Zu den drei E.en gehört neben der vorrangigen Handlungse. und der hiervon abhängigen E. der ↗ Zeit auch die einheitliche Ortsgebundenheit (↗ Ortsbindung) des Geschehens (↗ Ereignis). Der bei Aristoteles nur indirekt erschließbare Raumbezug in der Renaissancedramaturgie reflektiert auch die Rekonstruktion der vitruvianischen Bühne in Verbindung mit der neu entwickelten tiefenräumlichen (↗ Tiefe) Perspektivbühne (↗ Perspektive) von Donato Bramante (1444–1514) bis Sebastiano Serlio (1475–1554). Die drei Bühnentypen nach Vitruv aus dem 1.Jh. v. Chr. – tragische, komische und satyrische Bühne – geben bereits einen szenographischen ↗ Rahmen für die dramaturgische Ortsbestimmung vor. Die E.enregel ist eine überzogene Interpretation wahrnehmungs- (↗ Wahrnehmung) und gedächtnispsychologischer Gesichtspunkte, die Aristoteles aus der Gleichzeitigkeit von Vorgangsdarstellung und Darstellungsvorgang im Theater ableitet: die räumliche, zeitliche und handlungswirksame ↗ Ausdehnung des Geschehens soll nicht die ↗ Grenzen dessen überschreiten, was ‚auf einen ↗ Blick überschaubar‘ (gr. eusynopsis) ist und sich leicht und abrufbar dem ↗ Gedächtnis einprägt. Erst Lodovico Castelvetro (1505–1571) erhebt im Kommentar zu seiner Übersetzung der aristotelischen Poetik ins Italienische die heute kanonischen drei E.en zu einer dramaturgischen Universalnorm, die jedoch stets umstritten ist: Von den englischen Theaterautoren und -akteuren der Shakespearezeit wird die E.enregel ignoriert. Sie bevorzugen vielsträngige ↗ Handlungen, wechselnde ↗ Schauplätze und überraschende Zeitsprünge. Das Londoner Globe Theatre eröffnet einen weitaus größeren Freiraum für Wechsel von ↗ Ort und ↗ Szene. In der Raumfrage geht es beim Streit um die drei E.en auch um das konkrete Verhältnis von Aufführungsund Handlungsort: Der Ort, an dem die Schauspieler eine fiktive Handlung vor Augen führen, wird von den Zuschauern in erster Linie als Schauplatz wahrgenommen. Dieser soll nach der einflussreichen Schrift des Abbé d’Aubignac (1604–1676) La pratique du théâtre von 1657 ausschließlich als Abbild (↗ Bild) des Handlungsortes aufgefasst werden, der ebenso wenig wechseln darf wie der Aufführungsort. Der Bühne als Spielort und ↗ Fläche der Aufführung wird kein Eigenwert zugestanden. Eine „fest umgrenzte, einheitliche Raum-, Zeit- und Ereignisspanne“ wird zum Signum von Theatertraditionen und Modellen, die Volker Klotz (1960, 24) nach den Parametern Handlung, Zeit, ↗ Raum, Personen (↗ Proxemik) und ↗ Sprache unter dem Begriff des Dramas der geschlossenen ↗ Form zusammenfasst. Eine offene Vielheit von Orten ist in der geschlossenen Form nicht realisierbar; die Raumkonstruktion tendiert zu Unbestimmtheit und ↗ Ortlosigkeit, statt in den positionalen (↗ Position) ↗ Relationen zwischen sozialen Akteuren (↗ Aktant) wirksam zu werden. In der Tradition der offenen Formen hingegen wird die raumschaffende (↗ Verräumlichung) Dynamik von Konfigurationen entbunden; auf diesem Weg wird die E.enregel immer wieder durchbrochen und wird als dramaturgische Norm obsolet.

Literatur: Carlson 1993; Frey 1992; Pochat 1990.

Carlson, Marvin (1993): Theories of the Theatre, Ithaca/London [1984].

Frey, Dagobert (1992): Zuschauer und Bühne, in: ders.: Kunstwissenschaftliche Grundfragen, Darmstadt, 151–223 [1946].

Klotz, Volker (1960): Geschlossene und offene Form im Drama, München.

Pochat, Götz (1990): Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien, Graz.

Eleonore Kalisch

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