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Angst

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Der Architekturtheoretiker und Stadtplaner Camillo Sitte (1843–1903) zeichnet im Rahmen seiner Erörterung städtischer ↗ Plätze in Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen von 1889 ein Negativbild der modernen ↗ Planung einer ↗ Stadt. Da die Moderne nicht in der Lage sei, nach dem Vorbild italienischer Städte Plätze mit angemessener Größe zu entwerfen, sondern häufig zu weite Plätze schaffe, sei das Aufkommen einer modernen ↗ Krankheit zu beobachten, der Platza. oder ‚Platzscheu‘, wie Sitte das 1871 von Carl F. O. Westphal (1833–1890) entdeckte Krankheitsbild der Agoraphobie nennt. Stadtbewohner, die an moderate Platzgrößen gewöhnt sind, würden nach Sitte (2003, 53) angesichts der Ausdehnung „moderner Riesenplätze mit ihrer gähnenden ↗ Leere und erdrückenden Langeweile“ von A. befallen. Aber auch ↗ Skulpturen und Denkmäler seien auf kleinen Plätzen besser aufgehoben. Als Heilmittel gegen diese moderne Zivilisationskrankheit fordert Sitte eine Rückkehr zum „alten Stadtbausystem mit forumähnlichen Plätzen“ (ebd., 175) in angemessener Größe. Analog zu Sitte spricht der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer (1881–1965) in Abstraktion und Einfühlung aus dem Jahr 1907 von einer „Raumscheu“ (Worringer 2007, 73), welche der Abstraktion in der bildenden ↗ Kunst von der ägyptischen bis zur modernen Kunst zugrunde liege. Gaston Bachelard (1884–1962) verweist auf die „Platza.“ (Bachelard 1960, 218), welche in der Dichtung des Einzelgängers (↗ Einsamkeit) Henri Michauxs (1889–1984) zum ↗ Ausdruck kommt. Der Historiker Paul Carter (2002) hebt hervor, dass Agoraphobie eine motorische Immobilisierung sowohl angesichts zu weiter Plätze als auch der sich dort versammelnden Menschenmasse bezeichnen kann und beklagt die Nichtbeachtung der Bewegungsstörung (↗ Lokomotion) in den häufig psychoanalysenahen Deutungen auch von Architekturtheoretikern. Der Schriftsteller Elias Canetti (1905–1994) wiederum eröffnet seine Überlegungen zu Masse und Macht von 1960 mit der These, dass die grundlegende Berührungsa. des Menschen nur im Erlebnis der ‚dichten‘ Menschenmasse (↗ Dichte) aufgehoben werden könne, die „sich einen ↗ Ort schafft, indem sie sich begrenzt“ (Canetti 1980, 11), und die einen ihr zugewiesenen Raum – dessen Zugänge (↗ Korridor) beschränkt sein müssen – wie ein Gefäß füllt (↗ Schachtel). Während die Agoraphobie laut dem Architekturtheoretiker Anthony Vidler (1992) heute am Aussterben ist, haben Psychologen und Verhaltenstherapeuten nach wie vor häufig mit dem entgegengesetzten Symptom, der – oft auch ‚Rauma.‘ genannten – Klaustrophobie zu tun. Sie bezeichnet die A. vor (und sei es nur gefühltem) Eingeengt- oder Eingesperrtsein in zu kleinen oder abgeschlossenen Räumen (↗ Zimmer), Aufzügen (↗ Schacht), Verkehrsmitteln (↗ Straße), Kinos (↗ Imaginäres) und allgemein bei Menschenansammlungen (↗ Masse). Der Psychiater Donald Meltzer (1992) bringt die Klaustrophobie – in Nähe zur psychoanalytischen Theorie Melanie Kleins (1882–1960) – mit frühkindlichen Identifikationsprozessen und psychischen Objektintrojektionen in Zusammenhang. Der Philosoph Hermann Schmitz (2008, 143) führt das A.erleben allgemein auf einen „gehemmten Drang zum Ausbruch aus (leiblicher) Enge (↗ Proxemik)“ zurück.

Literatur: Vidler 2000.

Bachelard, Gaston (1960): Poetik des Raumes, München [frz. 1957].

Canetti, Elias (1980): Masse und Macht, Frankfurt a. M. [1960].

Carter, Paul (2002): Repressed spaces, London.

Meltzer, Donald (1992): The Claustrum, Oxford.

Schmitz, Hermann (32008): Die Angst, in: ders.: Leib und Gefühl, Paderborn, 135–152 [1989].

Sitte, Camillo (2003): Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien/Köln/Weimar [1889].

Vidler, Anthony (1992): The Architectural Uncanny, Cambridge.

Ders. (2000): Warped Space, Cambridge.

Worringer, Wilhelm (2007): Abstraktion und Einfühlung, München [1907].

Michaela Ott

Lexikon Raumphilosophie

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