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Der Kreuzzug: ein moderner Begriff
ОглавлениеUnsere Geschichtslehrbücher bezeichnen das von Urban II. im Jahr 1095 ausgedachte Unterfangen als den Ersten Kreuzzug. Damals nannte ihn niemand so. Diejenigen, die aufbrachen, fühlten sich als Pilger und wurden auch so genannt. Der Begriff „Kreuzfahrer“ für diejenigen, die ein Kreuz als Signum auf ihre Kleider genäht hatten, hat sich in den Vulgärsprachen vermutlich rasch durchgesetzt. Die mittelalterliche Kultur war empfänglich für visuelle Symbole, vielleicht mehr noch als die unsrige, und das Kreuz wurde rasch zu einem sehr populären Logo. Doch niemand machte sich die Mühe, ihrer Fahrt und ihrem Krieg einen Namen zu geben. Kaum war Jerusalem erobert, verkündeten die crucesignati in dem Heiligen Land ein Königreich, um dessen Krone sich ihre Anführer sofort stritten. Zwischendurch musste weitergekämpft werden, weil die Muslime ringsum nur danach strebten, die Ungläubigen ins Meer zurückzutreiben und die Heilige Stadt zurückzuerobern. Die christlichen Freiwilligen trafen weiterhin mit ihrem Kreuz auf den Kleidern ein, aber nunmehr verstreut. Erst ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1145, rief Papst Eugen III. erneut die Gläubigen auf, sich zu bewaffnen und massenweise aufzubrechen, weil er über die Siege besorgt war, die Imad ad-Din Zengi, der Emir von Mossul, davongetragen hatte. Das nennen unsere Lehrbücher den Zweiten Kreuzzug, aber auch hier verwendeten die Zeitgenossen diesen Ausdruck nicht. Die Freiwilligen, die sich auf den Weg machten, wurden in den Liedern immer noch „die Pilger“ genannt.
Im 12. und 13. Jahrhundert kam es zu immer häufigeren Hilfsexpeditionen und es erschien nützlich, ein spezifisches Wort für das zu finden, was letztlich ein eigenständiges, anders geartetes und häufig vorkommendes Phänomen war. Die Vorstellung, dass der Papst im Notfall die Gläubigen zum Krieg gegen die Feinde Gottes und der Kirche Roms aufrief, hatte in die Mentalitäten Eingang gefunden. Diejenigen, die aufbrachen, wussten nun, dass sie ein Anrecht nicht nur auf geistlichen Ablass hatten, sondern auch auf konkrete rechtliche und steuerliche Privilegien. Bald beschränkte der Papst seine Aufrufe nicht mehr auf die Verteidigung des Heiligen Landes, sondern benutzte sie auch für die Ausbreitung des Christentums in Osteuropa, den Kampf gegen die Ketzer und sogar die Konflikte mit den christlichen Königen, die seine Weisungen anfochten. Doch für das Volk wie auch für uns heute waren die Kreuzzüge vor allem Expeditionen über das Mittelmeer hinaus.
In der christlichen Vorstellungswelt mischte sich der Wunsch, die Pilgerfahrt nach Jerusalem zu unternehmen, um Christus am Tag des Jüngsten Gerichts sagen zu können, „ich bin zu dir gekommen“, sowie die Lust, es mit den perfiden Ungläubigen aufzunehmen, mit dem Traum von einer neuen Welt, einer Grenze, hinter der die ganze Welt neu geboren werden konnte: Das Heilige Land oder vielmehr das „Outremer“, wie man damals sagte, war der Wilde Westen unserer Vorfahren im Mittelalter. Deshalb gibt es ein Vokabular, das immer die Vorstellung der Fahrt betonte. In den offiziellen, auf Latein verfassten Dokumenten sind die häufigsten Begriffe Passagium generale oder iter Hierosolymitanum. Im Französischen, der gemeinsamen Sprache der französischen, englischen und normannischen Ritter und damit der auf den Kreuzfahrten am meisten gesprochenen, hieß es le saint veage oder le pelerinage de la croiz.
Wann also bezeichnete man sie als Kreuzfahrten? Sehr spät und indirekt. Am Beginn des 13. Jahrhunderts sieht man in den vulgärsprachlichen Quellen Begriffe wie crozada oder croiserie auftauchen, die allerdings in der offiziellen Sprache der Verwaltung und der Kultur, im Lateinischen, keine Entsprechungen hatten. Der Begriff cruciata verbreitete sich zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert, bezog sich aber lange Zeit nur auf die Steuern, deren Erhebung der Papst erlaubte, um die Expeditionen zu finanzieren. Das ist noch mitten im 16. Jahrhundert die Bedeutung von cruzada in dem Land, das damals in dem permanenten Krieg gegen die Muslime am aktivsten war, nämlich im Spanien des katholischen Königs. Das ist laut dem Oxford English Dictionary auch der Sinn von crusade, das ursprünglich croisade geschrieben wurde, als das Wort Ende des 16. Jahrhunderts im Englischen auftauchte. Seine derzeitige Schreibweise wurde erst im 18. Jahrhundert fixiert, als alle europäischen Sprachen den Begriff im heutigen Sinn übernahmen. Wie so oft im Beruf des Historikers kann man ein Ereignis oder eine historische Phase erst dann benennen und konzeptualisieren, wenn es oder sie zu Ende sind. Am Beginn des 18. Jahrhunderts, als die letzten Manifestationen der Kreuzfahrergesinnung verschwanden, fingen die Historiker an, sie zu zählen und gelangten so zu der Zahl, die heute üblicherweise in den Lehrbüchern steht, nämlich neun.