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Die Kreuzfahrer gefallen nicht allen
ОглавлениеIm Westen hat die seit mehr als einem Jahrhundert anhaltende neue Begeisterung dem Kreuzfahrer zweifelsohne das Bild eines positiven Helden verliehen. Doch in anderen Kulturen konnte dieses Bild ein anderes Vorzeichen annehmen. In der Sowjetunion von 1938 rückte der Film Alexander Newski von Sergei Eisenstein die Deutschordensritter und den Klerus, der deren Banner mit den den Nazifahnen so ähnlichen schwarzen Kreuzen segnete, in ein negatives Licht. Vor allem in der vom Kolonialismus unterdrückten muslimischen Welt konnte der Widerstand gegen die Besatzer in einen Aufruf zum Dschihad gegen die neuen Kreuzfahrer übersetzt werden. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts, als man die ersten modernen Werke über die Geschichte der Kreuzzüge auf Arabisch publizierte, tauchte das Wort „Kreuzzug“, ein Neologismus, in der arabischen Sprache auf. Die charismatischen Anführer im Kampf gegen den Kolonisator wie Abd el-Kader in Algerien und Umar al-Muchtar in Libyen bezogen sich auf den Dschihad. Kaum war der Staat Israel geboren, wurde er in der arabischen Welt mit den Kreuzfahrerstaaten verglichen und die französisch-englische Aggression gegen Ägypten in der Zeit der Sueskrise (1956) rief die Erinnerung an den Dritten, von eben diesen Ländern geführten Kreuzzug wach. Laizistische Diktatoren wie Gamal Abdel Nasser, Hafiz al-Assad oder Saddam Hussein verglichen sich gern mit Saladin und offenbarten damit ihre Beeinflussung durch den Okzident, der dessen Statur anerkannt hatte. Die Bronzestatue von Saladin, die 1992 in der Altstadt von Damaskus errichtet wurde, erinnert unweigerlich an die Statue von Richard Löwenherz vor Westminster, an die Ludwigs IX. vor der Basilika Sacré-Coeur oder an die von Gottfried von Bouillon – anscheinend ein Belgier – auf der Place Royale in Brüssel. Doch die Araber sind nicht die Einzigen, die den Aufruf zum Kampf gegen die Kreuzfahrer vernahmen. Der Türke Mehmet Ali Agǧca, der 1981 einen gescheiterten Anschlag auf Papst Johannes Paul II. begangen hatte, erklärte, er habe den Anführer der Kreuzfahrer töten wollen. Anlässlich seiner Reise in die Türkei im Jahr 2010 wurde auch Benedikt XVI. beschuldigt, einen Kreuzzug vorzubereiten.
Mit der Ausbreitung des Konflikts zwischen dem Westen unter der Führung der Amerikaner und dem islamischen Fundamentalismus sind die impliziten Zweideutigkeiten in dieser entgegengesetzten Wahrnehmung des Erbes der Kreuzzüge wieder äußerst folgenreich in Erscheinung getreten. General Dwight D. Eisenhower, der Kommandant der alliierten Streitkräfte in Europa während des Zweiten Weltkriegs und spätere Präsident der Vereinigten Staaten, betitelte seine Kriegsmemoiren Crusade in Europe, ohne dass dies irgendjemand kritisierte. Es kann sein, dass George W. Bush nichts anderes getan hat, als ein banales Syntagma aufzugreifen, als er nach den Attentaten vom 11. September 2001 erklärt hat, es sei an der Zeit, einen Kreuzzug gegen den Terrorismus zu beginnen. Doch es war ein Glücksfall für Osama Bin Laden, in den Erklärungen des amerikanischen Präsidenten die Bestätigung zu finden, dass der Islam die x-te Wiederverkörperung desselben barbarischen Feindes vor sich hatte, den er schon einmal besiegt hatte und der ständig bereit war, von Neuem anzugreifen. Mit einer ebenso sarkastischen wie professoralen Präzision verglich der Anführer von al-Qaida Bush mit Richard Löwenherz und dessen europäische Verbündete mit Friedrich Barbarossa und Ludwig IX. Seither ist der Spott über die neuen Kreuzfahrer und der Aufruf, sie noch einmal vom islamischen Boden zu vertreiben, in allen Reden der Fundamentalisten gang und gäbe.
Kurz: Die Kreuzzüge sind nicht mehr eine geteilte, wenn auch von Epoche zu Epoche wechselnde Erinnerung. Ein noch junger Jacques Le Goff konnte 1964 über ihre defizitäre Bilanz scherzen und sagen, die einzige Frucht, die Europa von den Kreuzzügen zurückgebracht habe, sei die Aprikose. Ein halbes Jahrhundert danach muss man zugeben, dass jede Bilanz einer Expedition zu zweit erstellt wird und die Kreuzzüge unserer Zeit eine vergiftete Frucht hinterlassen haben.