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Die Aufklärung als Zwischenspiel: die Kreuzzüge zwischen Horror und Lächerlichkeit
ОглавлениеPlötzlich brach der Konsens zusammen. Im Europa der Philosophen verkündeten die intellektuell einflussreichsten Stimmen eine Enormität: Die Kreuzzüge seien ein Wahn gewesen, eine Sinnlosigkeit und ein Verbrechen, ein Beweis für den Abgrund, in den der Aberglauben, der Fanatismus und die Ignoranz den Menschen des Mittelalters gestürzt hatten und in den sie auch den modernen Menschen verbannen konnten, wenn dieser nicht lernte, der Vernunft zu folgen. In seiner Histoire des croisades, deren erste, 1750 erschienene Fassung später mitsamt Ergänzungen in den Essai sur les moeurs et l’esprit des nations eingefügt wurde, erklärte Voltaire mit Verachtung, Palästina sei nur eine wertlose „kleine Provinz“, unnützer als die Schweiz, und die Idee, angetrieben vom religiösen Glauben massenweise zu ihrer Eroberung aufzubrechen, „eine seuchenartige Raserei, die damals zum ersten Mal auftrat, damit es keine mögliche Geißel mehr gebe, die die Menschheit nicht heimgesucht hat“.4 Der von Denis Diderot verfasste und 1754 erschienene Eintrag „croisade“ in der Encyclopédie wunderte sich, dass es eine Zeit „ausreichend tiefer Finsternis und ausreichend großer Benommenheit bei den Völkern und bei den Herrschern über ihre wahren Interessen gegeben habe, um einen Teil der Welt in einen unglücklichen kleinen Landstrich zu treiben, um dort den Bewohnern die Kehle durchzuschneiden und sich einer Felsenspitze zu bemächtigen, die keinen Blutstropfen wert war“. Diderot rechnete aus, dass die Kreuzzüge Europa zwei Millionen Männer, die nach Asien aufgebrochen und nie wieder zurückgekehrt seien, gekostet hat. Die Zahl gefiel, wurde von den nachfolgenden Historikern aufgegriffen und zirkuliert in einer vereinfachten Fassung, nach der die Kreuzzüge zwei Millionen Tote verursacht hätten, auch heute noch im Internet.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals wurde in den historiografischen Schriften der Intellektuellen der schottischen Aufklärung der gleiche Ton angeschlagen. In seiner History of England (1754–1762) vertrat David Hume die Auffassung, dass die Kreuzzüge ein fesselndes Thema seien, weil sie „das außerordentlichste und dauerhafteste Denkmal des menschlichen Irrsinns“5 darstellten. In dieser Zeit trat die von den Zeitgenossen kaum erwähnte und weitgehend legendäre Person von Peter dem Einsiedler als wahrem Förderer des Kreuzzugs in den Vordergrund. Wenn, wie Voltaire schrieb, „dieser Pikarde, der aus Amiens aufbrach, um nach Arabien zu wallfahren, der Grund dafür war, dass sich das Abendland gegen das Morgenland bewaffnete und Millionen Europäer in Asien umkamen“,6 dann schien die These, der zufolge die Geschichte der Kreuzzüge und ganz allgemein die Geschichte der Menschheit nur eine Abfolge von Sinnlosigkeiten sei, weitgehend bewiesen.
Peter der Einsiedler mochte ein irrer Fanatiker sein, aber auch die anderen Akteure der Kreuzzüge von Urban II. über Richard Löwenherz und Ludwig IX. bis hin zu Gottfried von Bouillon wurden im Jahrhundert der Vernunft sehr wenig bewundert. Man sah in ihnen entweder machiavellistische und berechnende Köpfe, beutegierige Banditen oder Naivlinge, die ihr wahres Interesse ignorierten und ihre Völker opferten „gegen die verrückte Hoffnung, ein zweitausend Meilen von ihrem Land entferntes steinernes Grab zu erwerben oder zu bewahren“, wie Edward Gibbon im letzten Band seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1788) schrieb.
Den Horror der Kreuzzüge zu betonen oder sie lächerlich zu machen, war nicht der beste Weg, ihre historische Komplexität zu verstehen. Diese Parteinahme konnte hingegen zu einem nie da gewesenen Respekt für die Beweggründe des anderen Lagers führen. Voltaire hatte zwar 1736 eine Tragödie mit dem Titel Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète verfasst, in der er Mohammed die schlimmsten Verbrechen zuschrieb. Doch, wie er später zugab, hatte er diese andere Zielscheibe nur gewählt, um den katholischen Fanatismus aufs Korn zu nehmen, und er hatte keineswegs die Absicht, den Islam und dessen Propheten anzugreifen: „Wenn sein Buch für unsere Zeit und für uns schlecht ist, so war es recht gut für seine Zeitgenossen und seine Religion noch besser. Man muss zugeben, dass er fast ganz Asien von der Götzenverehrung abgebracht hat.“ Doch die Zensur ließ sich nicht so leicht täuschen und Mahomet le Prophète wurde nach der dritten Aufführung verboten. Es ist paradox, wenn auch durchaus verständlich, dass im Jahr 2005 mitten in der Polemik über die Karikaturen des Propheten, die eine dänische Zeitung veröffentlicht hatte, gewalttätige Versuche stattfanden, die Vorstellungen von Voltaires Tragödie in einem französischen Theater zu verhindern.