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Die Wiederkehr der Kreuzzüge: Romantik und Kolonialismus
ОглавлениеDie Ironie der Aufklärung war jedoch nicht von Dauer. In der Zeit der Französischen Revolution scheuten die Aufständischen in der Vendée und die Sanfedisti des Königreichs Neapel nicht davor zurück, sich stolz auf die Kreuzzüge zu beziehen, und forderten im Namen des Kreuzes und des Heiligen Herzens Jesu die Ausrottung der Feinde des Glaubens. Etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte François-René de Chateaubriand das Génie du christianisme (1802), in dem er die Helden der Kreuzzüge und ihre Opfer- und Abenteuerbereitschaft pries. Kurz danach besuchte er Jerusalem, verbeugte sich vor dem Grab von Gottfried von Bouillon und fühlte sich als der letzte Erbe der Kreuzfahrer – der französischen Kreuzfahrer, wie er tunlichst präzisierte. Der romantische Geschmack rehabilitierte das mittelalterliche Rittertum und begeisterte sich für diese von einem Ideal beseelten Krieger, die überdies gleichsam maßgeschnitten waren, um das neue Bedürfnis nach Nationalhelden zu befriedigen. In England entstand der Mythos von Richard Löwenherz, der auch schon von Gibbon mit Nachsicht betrachtet und in den Romanen von Walter Scott für immer verklärt wurde: Die Populärliteratur, die im 19. Jahrhundert so beliebte Historienmalerei, die Jugendliteratur, der Film und das Fernsehen haben nie aufgehört ihn zu feiern.
Ein weiterer Beweis dafür, dass sich die Zeiten geändert hatten, liegt auch darin, dass das Institut de France 1806 einen Preis für einen Essay ausschrieb, der den Einfluss der Kreuzzüge auf die Zivilisation, den Fortschritt und die Freiheit in Europa aufzuzeigen vermochte. Ein Rest von aufklärerischem Rationalismus legte nahe, dass dieser Einfluss unfreiwillig gewesen sei und die Beweggründe der Anstifter alles andere als vernünftig; doch darauf sollte es nicht ankommen. Der Sieger des Wettbewerbs, ein deutscher Gelehrter, bewies, dass Voltaire nichts begriffen hatte und die Folgen der Kreuzzüge ausschlaggebend gewesen waren: Sie hatten der feudalen Anarchie ein Ende bereitet und die Wiedergeburt des Staates verursacht, das Aufblühen der bürgerlichen Zivilisation, den Niedergang des Papsttums und sogar die Entstehung des dritten Standes.7
Der Imperialismus entdeckte daraufhin bald noch direktere Gründe für die Rehabilitierung der Kreuzzüge. Napoleon Bonaparte selbst scheint dieses Thema auf seinem Ägyptenfeldzug nicht verwendet zu haben, doch die Presse bezog sich während des griechischen Aufstandes 1821, der französischen Eroberung von Algier 1830 und selbst während des Krimkriegs 1854 begeistert darauf. Diesmal waren die Türken unsere Verbündeten, aber die Russen konnten sehr gut als Feinde Gottes herhalten, und zwar so sehr, dass dem Krieg in England eine nationale Fastenzeit voranging und man in Frankreich ein episches Gedicht mit dem Titel La Croisade de Sébastopol mit Napoleon III. in der Rolle des neuen kreuzfahrenden Kaisers verfasste. Ab diesem Zeitpunkt erwähnten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Prediger, die Künstler und die Presse bei jeder neuen Etappe des europäischen Vordringens auf dem Balkan, in Afrika und im Mittleren Orient die Erinnerung an die Kreuzzüge: als Frankreich sich zum Beschützer der Maroniten im Libanon aufwarf, als Ferdinand de Lesseps den Sueskanal eröffnete, als der Berliner Kongress die Grenzen der orthodoxen Länder auf dem Balkan zum Nachteil des Osmanischen Reichs neu festlegte und als Gordon Pascha in Khartum im Kampf gegen den Mahdi starb.
Kurz: Die Kreuzzüge waren zum positiven Vorzeichen dieses großen wohltätigen Elans hin zum menschlichen Fortschritt geworden, als den die Menschen des 19. Jahrhunderts den Kolonialismus sahen. In seiner Histoire des croisades (1829) malt sich Joseph-François Michaud den Sieg der Kreuzfahrer aus und scheute nicht davor zurück, zu schreiben: „Ägypten, Syrien, Griechenland [sic] wurden zu christlichen Kolonien, die Völker des Morgenlands und des Abendlands marschierten gemeinsam auf die Zivilisation zu.“8 Louis-Philippe I. schuf 1843 in Versailles die Säle der Kreuzzüge, geschmückt mit den Wappen adliger französischer Familien, die an den Fahrten teilgenommen hatten. Sich einen Vorfahren unter den Kreuzfahrern zugutehalten zu können, war für eine europäische Aristokratie, deren Ursprünge gewöhnlich viel jüngeren Datums waren, zu einem sehr wichtigen Statussymbol geworden. Dieser Kontext nährte unter anderem einen großen Handel mit gefälschten Papieren und Wappen, der zur allgemeinen Betroffenheit oft erst im 20. Jahrhundert aufgedeckt wurde.
Das Ende des 19. Jahrhunderts sah mit an, wie in dem Wettlauf um die Kolonien und die Wiederentdeckung der Kreuzzüge ein neuer Konkurrent auf den Plan trat: Deutschland. Deutsche Archäologen gruben in Tyros auf der Suche nach dem Grab von Barbarossa und Kaiser Wilhelm II. unternahm eine berühmte Reise nach Jerusalem und Damaskus, wobei er sich als Nachfolger der kreuzfahrenden Herrscher präsentierte. Die englische Presse verhöhnte ihn als „Cook’s Crusader“, aber gleichzeitig wurde in England Onward Christian Soldiers zu einer der populärsten religiösen Hymnen. Auch die Encyclopædia Britannica begeisterte sich in ihrer Ausgabe von 1910 an der Erinnerung an die Kreuzfahrer und behauptete: „Die Menschheit hat sich um die Erinnerung an diese Millionen Menschen bereichert, die in der gesicherten Hoffnung auf eine ewige Belohnung der Kolonne aus Rauch und Feuer folgten.“ Kaum vier Jahre danach brach der Erste Weltkrieg aus.