Читать книгу Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik - Группа авторов - Страница 121
Оглавление21. Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in deutschen RichtlinienRichtlinien des Fremdsprachenunterrichts
1. Begrifflichkeit
Die mit den Schulgesetzen der Bundesländer vorgegebenen Bildungsziele werden konkretisiert durch Lehrpläne, RahmenlehrpläneRahmenlehrpläne, Bildungspläne, Kerncurricula, RichtlinienRichtlinien oder Rahmenrichtlinien, für die das Kultusministerium des jeweiligen Landes zuständig ist. „Die Begriffe weisen auf unterschiedliche Perspektiven und Verbindlichkeiten hin, werden allerdings oft synonym verwendet.“ (Christ 2016: 57). Im Folgenden wird – mit Bezug auf die Lehrplan-Datenbank der Kultusministerkonferenz der Begriff Lehrplan verwendet, wobei die Inhalts- und Funktionsbeschreibung auch auf die anderen o.g. curricularen Vorgaben zutrifft.
Ein LehrplanLehrplan ist ein zentrales Steuerungsinstrument mit hoher Verbindlichkeit, das von staatlicherseits berufenen Kommissionen erarbeitet und von der staatlichen Schulaufsicht in Kraft gesetzt wird. Der Lehrplan beschreibt die verbindlichen Ziele und Inhalte des (Fach-) Unterrichts, ordnet diese in übergeordnete schulartspezifische und/oder fächerübergreifende Zusammenhänge ein und ermöglicht Schlussfolgerungen für die didaktisch-methodische Gestaltung des fachbezogenen und fächerübergreifenden Unterrichts.
Somit haben Lehrpläne einerseits eine Legitimationsfunktion, im Sinne eines staatlich erlassenen Programms für Bildung und Erziehung in der Schule. Anderseits haben Lehrpläne eine Orientierungsfunktion, im Sinne von Arbeitsinstrumenten und Planungshilfen für die einzelne Lehrkraft und als Koordinationsinstrument für das Kollegium einer Schule.
Die Konzeption von Lehrplänen ist stets zu betrachten im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, bildungspolitischer Vorgaben und aktueller Entwicklungen im Bereich pädagogischer, schulentwicklerischer, fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Theorien.
Die Wirksamkeit von Lehrplänen hängt ganz entscheidend davon ab, inwieweit sie geeignet sind, Lehrkräfte anzuregen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie als Orientierungsgrundlage für die Gestaltung der eigenen pädagogischen und fachlichen Arbeit zu akzeptieren und auch als spezifisches Instrument von SchulentwicklungSchulentwicklung zu betrachten.
Die Lehrplan-Datenbank der KMK (www.bildungsserver.de/Allgemeinbildende-Schulen-400-de.html) ermöglicht Recherchen nach Land, Schulart/Schulstufe, Fach/Sachgebiet, Jahrgangsstufe und Einführungsjahr.
2. Problemaufriss und aktuelle Situation
Spätestens seit der Forderung des Europarates, dass jeder europäische Bürger beim Verlassen der Schule neben der Muttersprache über Kenntnisse in mindestes zwei weiteren Gemeinschaftssprachen verfügen sollte, geraten die Begriffe Mehrsprachigkeit und Multikulturalität ins Zentrum bildungs- und sprachenpolitischer Absichtserklärungen (↗ Art. 9, 12). Die Kultusministerkonferenz fasst Beschlüsse zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz (2011), stellt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (↗ Art. 18) heraus, beschreibt interkulturelle Bildung und Erziehung (↗ Art. 32) als Querschnittsaufgabe (2013), verlangt die Förderung mehrsprachiger Kompetenz, fordert in den Nationalen Bildungsstandards für den Mittleren SchulabschlussBildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2003), Schülerinnen und Schüler auf ein Handeln in mehrsprachigen Situationen vorzubereiten und führt mit den Standards für die Allgemeine Hochschulreife (2012) Sprachenbewusstheit und SprachlernkompetenzSprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz (↗ Art. 22) als verbindliche Kompetenzbereiche ein.
Diese programmatischen Verlautbarungen erfahren aber nur bedingt eine verbindliche curriculare länderspezifische Verankerung (↗ Art. 72). So vermittelt ein Blick in die Lehrpläne der Bundesländer für den Fremdsprachenunterricht am Gymnasium folgendes Bild:
Curriculare Vorgaben sind auf den Einzelsprachenunterricht fokussiert. Sprachenübergreifende Ziele der Kompetenzentwicklung werden – mit Ausnahme der Sprachenlehrpläne in ThüringenThüringen – nicht formuliert.
Ausführungen zur Mehrsprachigkeit haben eher grundsätzlichen Charakter, d.h. sind vornehmlich Bestandteil von (allgemeinen) Darlegungen zu Zielen und Aufgaben des Faches – im Sinne von Leitgedanken oder Leitbildern für den Unterricht bzw. einer Wertschätzung unterschiedlicher Herkunftssprachen.
Die Entwicklung interkultureller Kompetenzeninterkulturelle Kompetenz (↗ Art. 43) wird mehrheitlich an den Vergleich von Ausgangs- und Zielsprachenkultur – im Sinne einer BikulturalitätBikulturalität – gebunden.
Die Lehrpläne integrieren Ziele sprachenübergreifenden LernensLernensprachenübergreifendes mehrheitlich nicht konsequent oder nur punktuell in das kompetenz- und standardorientierte Unterrichtskonzept (↗ Art. 14).
Sprachenvergleichende AspekteVergleicheninterlinguales sind primär eingebettet in den Lernbereich Sprachenbewusstheit/Sprachreflexion, wobei nicht in allen Lehrplänen gleichermaßen die Muttersprache Deutsch, die Herkunftssprache (↗ Art. 106), die erste Fremdsprache Englisch oder andere schulische Fremdsprachen als Kontrastfolie benannt sind oder die Rolle als Brückensprache herausgestellt wird.
Die Fremdsprachenlehrpläne sind nicht konsequent abgestimmt. Es wird der Eindruck erweckt, dass Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen SynergieeffekteSynergieeffekte eher von Bedeutung für die zweiten oder dritten Fremdsprachen (↗ Art. 86) sind.
Die Lehrplankonzeption in ThüringenThüringen (2011) (www.schulportal-thueringen.de/web/guest/lehrplaene/gymnasium) unterscheidet sich deutlich von der der anderen Bundesländer. So werden für alle Fächer des sprachlichen Aufgabenfeldes, d.h. Muttersprache Deutsch, sämtliche moderne Fremdsprachen sowie Latein und Griechisch, sprachenübergreifende Kompetenzen als gemeinsame Zielsetzung jeglichen Sprachunterrichts ausgewiesen. Dabei erfolgt die Art der Darstellung sprachenübergreifender Kompetenzen in allen Sprachen als integrativer Bestandteil des Einzelfachlehrplans. Mit der Einführung eines eigenständigen Lernbereichs „Über Sprache, Sprachverwendung und SprachenlernenSprachenlernenSiehe MetakognitionSprachenlernenreflexives reflektieren“ (SprachlernkompetenzSprachlernkompetenz) erfahren sprachenübergreifendes LernenLernensprachenübergreifendes und die Entwicklung von Sprach- und SprachlernbewusstheitSprachlernbewusstheit (↗ Art. 22) eine Verbindlichkeit in allen Sprachfächern der SekundarstufeSekundarstufe I und II. Die Zuordnung von sprachenübergreifenden Zielen zu bestimmten Klassenstufen und die damit verbundene ProgressionProgression der Kompetenzentwicklung erfolgt durch:
die Verwendung unterschiedlicher Operatoren,
einen unterschiedlichen Grad an erwarteter Selbstständigkeit,
die Bindung an die jeweiligen niveauspezifischen sprachlichen Mittel sowie RezeptionsRezeptionsstrategien- und ProduktionsstrategienProduktionsstrategien,
die Ausweisung unterschiedlicher Gegenstände für den Sprachen- bzw. Kulturvergleich.
3. Fazit
Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität sind in den deutschen RichtlinienRichtlinien für den Fremdsprachenunterricht angekommen, ohne jedoch konsequent und durchgängig curricular verortet zu sein. Der von Bausch & Helbig-Reuter vor 15 Jahren bereits geforderte „neue Lehrplantypus“ (2003: 199) ist somit noch nicht Realität. Empfehlungen zur Lehrplanentwicklung, wie:
bei der Erstellung einzelsprachlicher Curricula sprachenübergreifende Aspekte von Beginn an zu berücksichtigen (Meißner 1995: 175),
in ein integratives Mehrsprachigkeitskonzept das Lehren und Lernen von Deutsch (als Muttersprache) explizit mit einzuschließen (Bausch & Helbig-Reuter 2003: 196),
die Curricula zwischen den Sprachfächern abzustimmen (Meißner et al. 2008: 167),
ein GesamtsprachencurriculumGesamtsprachencurriculum als planerischen Rahmen zu schaffen (Hufeisen 2005: 13) (↗ Art. 14)
haben an Aktualität nicht verloren.
Lehrpläne sind ein maßgeblicher Transmissionsriemen für die Implementierung von Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität in den Unterricht. Sie können und müssen den verbindlichen Rahmen setzen für die Formulierung (gemeinsamer) sprachenübergreifender Ziele, Inhalte und mehrsprachigkeitsdidaktischer Prinzipien in allen Sprachfächern und die Beschreibung einer Progression sprachenübergreifender Kompetenzentwicklung. Letzteres erfordert die Nutzung ausdifferenzierter Deskriptoren. Hierfür liegt mit dem „Referenzrahmen für Plurale AnsätzeRePA“ (Candelier et al. 2009) ein Instrument vor (↗ Art. 20), das zweifellos Impulse für Zielbeschreibungen in Lehrplänen enthält, aber für diese Spezifik noch einer empirischen Fundierung bedarf (Schädlich 2013: 36).
Literatur
Bausch, K.-R. & Helbig-Reuter, B. (2003): Überlegungen zu einem integrativen Mehrsprachigkeitskonzept: 14 Thesen zum schulischen Fremdsprachenlernen. In: Neusprachliche Mitteilungen 56/4, 194-201.
Candelier, M., Camilleri-Grima, A., Castellotti et al. (2009): RePA. Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen. Graz, Straßburg.
[https://archive.ecml.at/mtp2/publications/C4_RePA_090724_IDT.pdf]
Christ, I. (2016): Staatliche Regelungen für den Fremdsprachenunterricht: Curricula, Richtlinien, Lehrpläne. In: E. Burwitz-Melzer, G. Mehlhorn, C. Riemer et al. (Hrsg): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6. Aufl. Tübingen, 56-60.
Hufeisen, B. (2005): Gesamtsprachencurriculum: Einflussfaktoren und Bedingungsgefüge. In: B. Hufeisen & M. Lutjeharms (2005) (Hrsg.): Gesamtsprachencurriculum. Integrierte Sprachendidaktik. Common Curiculum. Tübingen, 9-18.
Meißner, F.-J. (1995): Umrisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik. In: L. Bredella. (Hrsg.): Verstehen und Verständigung durch Sprachenlernen. Akten des 15. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung, Gießen 4.-6.10.1993. Bochum, 173-187.
Meißner, F.-J., Beckmann, C. & Schröder-Sura, A. (2008): Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES). Tübingen.
[http://www1.uni-giessen.de/rom-didaktik/Multilingualism/html/facette1/de/index.htm]
Schädlich, B. (2013): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität im Unterricht der romanischen Sprachen: begriffliche, empirische und unterrichtspraktische Perspektiven. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 24/1, 29-50.
Ursula Behr