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23. Portfolio im Kontext von Mehrsprachigkeit

1. Begrifflichkeit

Im Kontext von Unterricht wird unter einem PortfolioPortfolio ein Instrument verstanden, das zur Sichtbarmachung und zur Reflexion von Lernwegen, Entwicklungen und Lernleistungen für die Lernenden selbst und für andere dient (vgl. Paulson et al. 1991: 60). Kennzeichnend für Portfolioarbeit ist das Sammeln und Auswählen von Arbeitsproben, beispielsweise in Papierform oder in einem digitalen Portfolio.

Portfolios können in einem Lernbereich und für eine kurze Phase oder über einen längeren Zeitraum und verschiedene Lernbereiche hinweg, auch sprachenübergreifend, eingesetzt werden. Neben der pädagogischen Funktion, mit der Lernprozesse unterstützt und lebenslanges Lernen angelegt werden sollen, dienen sie in der DokumentationsfunktionDokumentationsfunktion auch der Sichtbarmachung nach außen, zum Beispiel bei einem Schulwechsel.

Relevant für den Fremdsprachenunterricht sind vor allem das Europäische SprachenportfolioSprachenportfolioSiehe ESPEuropäisches Sprachenportfolio (ESP) (Europarat o.J.), offene Portfolioformen sowie Portfolios in der Aus- und Weiterbildung von Lehrenden, z.B. das European Portfolio for Student Teachers of LanguagesEuropäisches Sprachenportfolio (EPOSTL) (vgl. Newby et al. 2007) und das Lehramtsportfolio für Fremdsprachenlehrkräfte (vgl. Burwitz-Melzer 2004). Die verbreitetste Portfolioform ist das ESP, das ein Instrument der Europäischen SprachenpolitikSprachenpolitikder EU (↗ Art. 12) ist und sich am Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen der Sprachen (GeRGeR) orientiert (↗ Art. 18). Die Idee eines ESPESP wurde 1991 im Zuge der Präsentation des GeR auf dem Rüschlikon-Symposium vorgestellt und das erste Portfoliomodell 2001 veröffentlicht. In den darauffolgenden Jahren wurden 118 Modelle für unterschiedliche Länder und Zielgruppen akkreditiert.

Das ESP enthält

1 einen SprachenpassSprachenpass, in dem Lernende einen jeweils aktuellen Überblick über ihr sprachliches Profil darstellen,

2 eine Sprachenbiografie, in der sie u.a. ihren Sprachstand anhand von Deskriptoren des GeRKompetenzniveaustufen-Deskriptoren selbst einschätzen sowie

3 ein Dossier, in dem Beispielarbeiten gesammelt werden, die den Sprachstand und kulturelle Lernerfahrungen der Lernenden dokumentieren.

Das ESPESP wurde als Instrument zur Förderung der Mehrsprachigkeit (↗ Art. 7) und des lebenslangen Fremdsprachenlernenslebenslanges Fremdsprachenlernen sowie zur Stärkung einer europäischen IdentitätIdentitäteuropäische der europäischen Bürgerinnen und Bürger entwickelt (vgl. Europarat online o.J.). Es ist so angelegt, dass darin mehrere Sprachen aus dem individuellen Repertoire der Lernenden abgebildet werden können. Bei dem zugrundeliegenden Verständnis von Mehrsprachigkeit ist auffällig, dass die Kompetenzbeschreibungen von einzelsprachlichen Fähigkeiten ausgehen und sich dabei vor allem auf autochthone europäische Sprachen (↗ Art. 117) beziehen (vgl. Little im Druck). Ein Verständnis von Mehrsprachigkeit als integriertes Sprachensystem hat sich hier (noch) nicht niedergeschlagen. Außerdem werden Herkunftssprachen und die Zielgruppe der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit bislang kaum einbezogen (vgl. Langner im Druck).

Im Vergleich zu offenen Portfolioformen, die in der Regel ohne Vordrucke auskommen, weist das ESP durch die vorgegebene Aufteilung, umfangreiche Vordrucke und die Orientierung an den Deskriptoren des GeR eine höhere Standardisierung auf (↗ Art. 18). Allerdings sind für alle Portfolioformen ein flexibler Einsatz sowie eine spezifische Ausgestaltung je nach Unterrichtskontext, Zielgruppe und Zielsetzung vorgesehen.

2. Verbreitung und Verwendung

Zunächst fanden Portfolios in den 1980er Jahren in den USAUSA als writing portfolios Eingang in den Unterricht. Die Arbeitsweise knüpft an kognitivistische, konstruktivistische und interaktionistische Lerntheorien an, indem BewusstmachungBewusstmachung und Reflexion eine zentrale Rolle einnehmen, individuelle Lernprozesse betont und von der Lehrperson unterstützend begleitet werden und der Austausch mit Mitlernenden und mit der Lehrperson ein wichtiges Element darstellt, beispielsweise in Portfoliogesprächen oder in Peer-Feedback-Szenarien.

Offene Portfolioformen, wie beispielsweise Projekt-, Schreib- oder auch Leseportfolios, spielen im Fremdsprachenunterricht gegenüber dem ESP eine untergeordnete Rolle. Dieses fand nach seiner Einführung relativ schnell Eingang vor allem in den schulischen Fremdsprachenunterricht und schlug sich auch in den gängigen Lehrwerken nieder, die zur Portfolioarbeit anregen und die jeweils zugeordneten Deskriptoren in Checklisten anbieten.

Während der GeR in Europa und darüber hinaus weiterhin an Bedeutung gewinnt, konnte sich das ESPESP nicht in der erwarteten Form durchsetzen. Hierfür werden verschiedene mögliche Gründe diskutiert, z.B. die Vernachlässigung der pädagogischen Funktion zugunsten der Dokumentationsaufgabe (vgl. Ballweg / Stork 2008), Schwierigkeiten, die spezifische Arbeitsweise des ESP mit bestehenden Curricula in Einklang zu bringen, sowie unzureichende Unterstützung von Lehrenden und Institutionen bei der Einführung (vgl. Little im Druck).

3. Forschungsstand

Empirische Studien zeigen, dass Portfolioarbeit die Reflexionsfähigkeitreflexives Fremdsprachenlernen von Fremdsprachenlernenden unterstützen und ihr Strategienrepertoire (↗ Art. 44) erweitern kann (vgl. z.B. Häcker 2007; Kolb 2007). Die Arbeit mit dem Instrument wird von Lernenden und Lehrenden grundsätzlich als autonomiefördernd wahrgenommen, wobei sie das Portfolio und seine Möglichkeiten jeweils vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erwartungen und Vorstellungen unterschiedlich interpretieren und ausgestalten (vgl. z.B. Ballweg 2015; Kolb 2007). Lernende nehmen Portfolioarbeit auch als aufwändig und fremd wahr und beurteilen sie v.a. dann positiv, wenn der vorgeschlagene Umgang mit dem Instrument den eigenen Zielen und Erwartungen, den persönlichen Eigenschaften, der individuell bevorzugten Arbeitsweise sowie den institutionell wie auch kulturell geprägten Lerngewohnheiten der Lernenden entgegenkommt. Für die didaktische Ausgestaltung bedeutet dies, dass Lehrende gefordert sind, ein auf die Zielgruppe angepasstes Konzept der Portfolioarbeit zu entwickeln und gleichzeitig ausreichend Offenheit und Wahlfreiheiten zu schaffen, um den Lernenden eine individuelle Ausgestaltung zu ermöglichen (vgl. Ballweg 2015).

4. Praxisrelevanz

Während PortfoliosPortfolio auch im Kontext alternativer Leistungsfeststellungsverfahren (↗ Art. 50) und in Hinblick auf die Dokumentationsfunktion diskutiert werden, liegt das größte Potenzial in der pädagogischen Funktion und damit in der Förderung von Mehrsprachigkeit, Autonomie und Reflexionsfähigkeit. In Einklang mit aktuellen Tendenzen im Fremdsprachenunterricht sind für diese Arbeitsweise kooperative Lernformen sowie die zeitliche, methodische und inhaltliche Öffnung des Unterrichts kennzeichnend.

Portfolioarbeit kann in Bezug auf die Sichtbarmachung und Förderung der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeitFörderung der der Lernenden einen wichtigen Beitrag leisten, wobei dies auch der Kooperation der Lehrenden und der Heranführung der Lernenden an eine sprachenübergreifende Sichtweise bedarf. Eine Voraussetzung für den Einsatz von Portfolios sind die Möglichkeit und die Fähigkeit der Lehrperson, das Instrument an die Rahmenbedingungen sowie an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Dabei bietet es sich an, nicht top down komplexe Konzepte in den Unterricht zu integrieren, sondern vielmehr gewünschte portfolionahe Arbeitsweisen und Funktionen im Unterricht zu stärken oder sie neu einzuführen und diese in einem Portfolio zu bündeln.

5. Perspektiven

Während das ESP nach seiner Einführung zunächst auf großes Interesse stieß, hat dies in den vergangenen Jahren wieder nachgelassen, wozu die Komplexität des Instruments für Lehrende und Lernende, die Schwierigkeiten bei der Integration in den Unterricht und bei der Vereinbarkeit von Portfoliogedanken und curricularen Gegebenheiten sowie bestehenden Lernkulturen beigetragen haben (vgl. Little im Druck). Mit der Einführung des Companion VolumesCompanion Volume (Council of Europe 2018) sind einige Chancen, aber auch Herausforderungen für das ESPESP verbunden (↗ Art. 19): Durch ein Verständnis von Mehrsprachigkeit, das weniger additiv und an einer monolingualen Norm orientiert ist, kann auch in Portfolios den vielfältigen Formen von Mehrsprachigkeit der Lernender besser entsprochen werden, nicht zuletzt durch den Einbezug von Erst- und Herkunftssprachen (↗ Art. 100, 106). Allerdings würde das eine grundsätzliche Überarbeitung der bereits akkreditierten Portfoliomodelle sowie neue Überlegungen zu einer sprachenübergreifenden Arbeitsweise für die Praxis voraussetzen. In dieser Umbruchphase besteht außerdem die Chance, die pädagogische Funktion gegenüber der dokumentarischen zu stärken und das Instrument zu reduzieren oder zu entzerren, wobei offene Portfolioformen beispielgebend sein können.

Darüber hinaus ist weiterführende Forschung dringend notwendig: Von empirisch untermauerten Deskriptoren des GeRGeR könnten auch die darauf beruhenden Selbsteinschätzungsvorlagen profitieren. Weitere relevante Forschungsbereiche sind beispielsweise die Perspektive und Arbeitsweisen der Lehrenden und die Möglichkeiten einer sprachenübergreifenden Arbeitsweise.

Literatur

Ballweg, S. (2015): Portfolioarbeit im Fremdsprachenunterricht. Eine empirische Studie zu Schreibportfolios im DaF-Unterricht. Tübingen.

Ballweg, S. & Kühn, B. (Hrsg.) (im Druck): Portfolioarbeit im Kontext von Sprachenunterricht. Göttingen.

Ballweg, S. & Stork, A. (2008): DaF-Lehrende und das Europäische Sprachenportfolio. In: InfoDaF 4, 390-400.

Burwitz-Melzer, E. (2004): Das Lehramtsportfolio für Fremdsprachenlehrkräfte (LAPF): auf dem Weg zum ‚reflective practitioner‘. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 15/1, 143-157.

Council of Europe (2018): Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Companion Volume with New Descriptors. [https://rm.coe.int./cefr-comanion-volume-with-new-descriptors-2018/1680787989].

Europarat (Hrsg.) (o.J.): European Language Portfolio (ELP). [https://www.coe.int/en/web/portfolio].

Häcker, T. (2007): Portfolio: Ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen. Eine explorative Studie zur Arbeit mit Portfolios in der Sekundarstufe I. 2. Aufl. Baltmannsweiler.

Kolb, A. (2007): Portfolioarbeit. Wie Grundschulkinder ihr Sprachenlernen reflektieren. Tübingen.

Langner, M. (im Druck): Portfolio und Mehrsprachigkeitsförderung. In: Ballweg & Kühn (Hrsg.).

Little, D. (im Druck): The European Language Portfolio: Past Success, Present Reality, Future Prospects. In: Ballweg & Kühn (Hrsg.).

Newby, D., Allan, R., Fenner A.-B. et al. (2007): EPOSA. Europäisches Portfolio für Sprachlehrende in Ausbildung. Graz. [http://archive.ecml.at/mtp2/publications/c3_epostl_d_internet.pdf].

Paulson, F., Paulson, P. & Meyer, C. (1991): What Makes a Portfolio a Portfolio? Eight Thoughtful Guidelines Will Help Educators Encourage Self-Directed Learning. In: Educational Leadership 5, 60-63.

Sandra Ballweg

Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik

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