Читать книгу Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik - Группа авторов - Страница 128

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24. Mehrsprachigkeit in Wirtschaft und Beruf

Eine erste Episode soll eingangs illustrieren, dass auch scheinbar von fast allen geteilte Überzeugungen nicht als gegeben angenommen werden sollten. Als vor mehr als 15 Jahren ein großer südwestdeutscher Energieversorger mit einem französischen Großkonzern und Quasimonopolisten im Energiebereich fusionierte, wurde EnglischEnglischin der Wirtschaft (↗ Art. 13, 98), nicht Deutsch oder Französisch als Konzernsprache festgelegt. Man folgte dem Beispiel vieler internationaler Unternehmen wie Siemens, VW u.a. Die Zahl der Englischkurse stieg in dem südwestdeutschen Unternehmen drastisch an. In der praktischen Kooperation zeigte sich aber bald, dass entgegen der Annahmen und ursprünglichen gegenseitigen Versicherungen („Wir sprechen Englisch“) der kooperierenden Managementebenen weder auf deutscher, noch auf französischer Seite die Englischkompetenzen für exakte Vereinbarungen und reibungslosen Kommunikationsfluss im Alltagsgeschäft ausreichten. In der Folge stieg zuerst der BedarfBedarfan Übersetzern u. Dolmetscher an Übersetzern und Dolmetschern und schließlich auf deutscher Seite auch die Nachfrage nach firmeninternen FranzösischkursenFranzösischkursein internationalen Unternehmen, nicht immer mit dem Ziel berufsspezifische KommunikationKommunikationberufliche, sondern eher mit der Intention der Teilnehmenden, in direkten Kommunikationssituationen nicht sprachlos zu sein (↗ Art. 103).

Die zweite Episode etwa aus der gleichen Zeit zum Thema „Mehrsprachigkeit“ stammt nicht aus der Managementebene, sondern aus der Produktion. Ein deutscher Automobilkonzern fertigte in seinem Werk in der Nähe von Lissabon zwei Modelle, deren Motoren aus einem norddeutschen Zulieferwerk kamen. Es gab Probleme mit der Passung und die Direktive des Managements, getreu der Devise „unsere Konzernsprache ist Englisch“, dieses Problem auf Englisch zu lösen. Auch hier stellte sich rasch heraus, dass dies nicht durchführbar war. Weder in der norddeutschen Produktionsstätte noch bei den portugiesischen Kollegen war die Kompetenz vorhanden, ein technisches Problem auf Englisch zu beschreiben, bzw. zu verstehen. Im vorliegenden Fall war die kostengünstigste Lösung, die portugiesischen Kollegen soweit zu schulen, dass sie in der Lage waren, eine begrenzte Anzahl an Fehlern auf DeutschDeutschin der Wirtschaft zu beschreiben.

Beide Episoden illustrieren Entwicklungen in den Bereichen der berufsbezogenen SprachkompetenzSprachkompetenzberufsbezogene im Kontext mit der Weiterentwicklung der industriellen Produktionsformen anschaulich. Starre Vorgaben zum SprachgebrauchSprachgebrauch und einer vermeintlichen lingua franca werden komplexen und international diversifizierten Produktionsvorgängen und Kommunikationsanforderungen nicht mehr gerecht. Notwendig sind stattdessen konkrete, fallspezifische Bedarfsanalysen und passgenaue Lösungen. Die Internationalisierung der Industrie hat die regional-komplementäre Produktion, wie sie in der Episode 2 zu besichtigen ist, zum Regelfall gemacht. Das gilt ausweislich der Unternehmensstrukturen besonders in Westeuropa. Die Produktionsform löst damit das traditionelle Export / Import-Modell ab, das in der Regel durch eine Konzentration auf Sprachexpertinnen und Sprachexperten („FremdsprachenkorrespondentinFremdsprachenkorrespondentin“) und auf bi-nationale, vor allem schriftliche Kontakte gekennzeichnet ist. In den großen Export-orientierten Nationalökonomien ist dieses Modell vor allem noch bei KMUs (Kleine und mittlere Unternehmen) verbreitet. Die GlobalisierungGlobalisierung hat in der Konsequenz zu einer horizontalen (mehr Themen), vertikalen (Sprachbedarf auf allen Unternehmensebenen) und qualitativen (interkulturelle Kompetenzinterkulturelle Kompetenz in direkten Kontaktsituationen) Ausweitung der sprachlichen Kompetenzanforderungen geführt (Deutscher Volkshochschulverband & Goethe Institut 1995: 14ff.).

Dabei ist die lingua franca Englisch (↗ Art. 13, 98) zwar vor allem in den höheren Hierarchie-Ebenen der Unternehmen von Bedeutung. Sie deckt aber nur einen kleinen Teil unternehmensinterner und -externer KommunikationsbedarfeKommunikationsbedarfeinternationale ab.

Die wachsende Arbeitsmigration innerhalb EuropasArbeitsmigration innerhalb Europas – in der Regel von Süd nach Nord und von Ost nach West – hat zudem insbesondere in Europa, aber nicht nur dort, sowohl in KMUs als auch in großen Firmen zu mehrsprachigen BelegschaftenBelegschaften (Unternehmen)mehrsprachige geführt, ohne dass diese Potenziale firmenintern systematisch gepflegt oder gar gefördert würden. Auch hier ist die Reichweite einer lingua franca sehr begrenzt, die Sprache des ProduktionsstandortesSprache des Produktionsstandortes dagegen ist das wichtigste firmeninterne Kommunikationsmittel sowohl in Bezug auf fachlich-berufliche KommunikationKommunikationberufliche als auch in Bezug auf die zunehmend wichtige Arbeit in internationalen Teams und zur Etablierung und Aufrechterhaltung kollegial-sozialer Kommunikation. In einer nicht-publizierten, internen Erhebung der ERFA-Wirtschaft-SpracheERFA-Wirtschaft-Sprache (www.erfa-wirtschaft-sprache.de) in Deutschland im Jahre 2016 spiegelt sich diese Entwicklung in der Stagnation der Anzahl der Englischkurse (auf hohem Niveau), vor allem aber im Anstieg der Kurse anderer Sprachen mit der stärksten Steigerung für Chinesisch.

Die erste und bisher weltweit einzige große Studie zur Lage der beruflichen Mehrsprachigkeit, die ELAN-StudieELAN-Studie (CILT 2006), wurde durch das inzwischen aufgelöste EU-Kommissariat für Mehrsprachigkeit (↗ Art. 12) in Auftrag gegeben. Sie bestand u.a. aus einer Befragung mit bis zu 100 KMU aus jedem Land und 30 großen Unternehmen in europäischen Ländern. Im Anschluss daran erfolgte eine Befragung einflussreicher Persönlichkeiten, wie z.B. Leiter von Industrie- und Handelskammern. Die Erhebung erfolgte mittels Fragebogen und telefonischen Interviews. Die Ergebnisse belegen trotz forschungsmethodischer Mängel – die Auswahlkriterien der Interviewpartner bleiben unklar und die Rückmeldungen aus dem deutschsprachigen Raum blieben z.B. spärlich – die beschriebenen Entwicklungen anschaulich und zeigen Strategien zur Optimierung auf. Das wichtigste Ergebnis der Studie ist, dass europäische Firmen nach eigener Einschätzung durch mangelnde Sprachkenntnisse Umsatzverluste in vielfacher Millionenhöhe durch fehlende Kompetenzen verzeichnen. So gaben 11 % der 2000 befragten Unternehmen an, Aufträge wegen mangelnder Sprachkenntnisse verloren zu haben. 10 Unternehmen gaben eine Auftragssumme von über einer Million an. Dabei waren fehlende EnglischkompetenzenEnglischkompetenzenfehlende in Wort und Schrift aus Sicht der Firmen nur in weniger als 20 % der Verlust-Fälle ursächlich. Vor allem mangelnde Französisch-, Spanisch-, Russisch- bzw. Chinesisch-Kenntnisse waren in den restlichen 80 % der Fälle Gründe gewesen (vgl. CILT 2006: 22).

Die Studie lässt auf ein differenzierteres Bild des Sprachbedarfs in Europa schließen, in dem einer lingua franca nur eine begrenzte Funktion zukommt. In der Außenkommunikation von Unternehmen spielt neben der UmgebungsspracheUmgebungssprache die Sprache (und Kultur) der Kunden eine wesentliche Rolle, sowie im höheren Management vor allem das Englische. Dabei ist ggf. die regionale Mehrsprachigkeit ein wesentlicher Faktor der Personalentwicklung und der Kundenansprache. Auch die Binnenkommunikation in größeren Unternehmen ergibt ein differenzierteres Bild. Die durch Migration geprägten Belegschaften sind mehrsprachig und die KommunikationKommunikationBinnen- u. Außen- in Unternehmen am Arbeitsplatz erfolgt nicht immer in der Standortsprache des Unternehmens, deren Kenntnis allerdings unabdingbar ist, besonders im fachsprachlichen Kontext und als Sprache der Qualifikation (Berufsabschlüsse, Weiterqualifikation). Internationale Produktionsstandorte und Vertriebsstrukturen führen zu höherer Mobilität und damit Expat / Impat-BewegungenExpat/Impat-Bewegungen mit erhöhtem SprachenbedarfSprachenbedarfhoher. Diese Entwicklung kann als funktional ausdifferenzierte Mehrsprachigkeit bezeichnet werden.

Die ökonomische Bedeutung von Mehrsprachigkeit in Europa ist besonders sichtbar in den GrenzregionenGrenzregionen, den „EUREGIOs“ (↗ Art. 101). Die 1995 gegründete Region Saar-Lor-LuxSaar-Lor-Lux verzeichnet beispielsweise aktuell über 200.000 grenzüberschreitende PendlerPendlergrenzüberschreitende pro Tag, deren Wohnort-Sprache sich von der Sprache am Arbeitsplatz unterscheidet (Wille 2015). Die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung von öffentlichen Aufträgen hat zudem den Sprachbedarf bei Klein- und mittleren Unternehmen steigen lassen. Der Mangel an Auszubildenden in Deutschland und die zumeist vergeblichen Versuche der Werbung um Nachwuchs in benachbarten Grenzregionen verdeutlichen auch, dass allgemeine und berufsschulische Konzepte mit den ökonomischen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Im deutsch-niederländischen Konzeptpapier der EUREGIO wird die Voraussetzung grenzüberschreitender Kooperation so formuliert:“ …dass Kompetenzen für den interkulturellen Dialog vorhanden sind, wozu neben der Beherrschung der lingua franca Englisch die Kenntnis der NachbarspracheNachbarsprachen, das Wissen über das Nachbarland und interkulturelle Kompetenzeninterkulturelle Kompetenze gehören“. Die Forderung nach bilingualen Kindergärten, Netzwerken und Informationsportalen, grenzüberschreitenden Schulpartnerschaften und schulischer Kooperation (gemeinsame Klassenfahrten) haben Fortschritte gebracht, die allerdings in manchen Grenzregionen weiter vorangeschritten sind als in anderen (zur deutsch-tschechischen Grenz- und Schulsituation: vgl. Spaniel-Weise 2018).

Besonders in den ökonomischen Fortschritten und Strukturproblemen in den Euregios wird sichtbar, dass die schulischen Konzepte – trotzt aller ermutigenden Einzelbeispiele in EuropaschulenEuropaschule und Grenzregionen- und die Konzepte in der Ausbildung von Lehrkräften mit diesen Entwicklungen nicht Schritt gehalten haben. Nicht nur in den BerufsschulenBerufsschulen, aber dort besonders, fehlen LehrkräfteLehrkräftemangel mit einer mehrsprachigen fremd- und zweitsprachendidaktischen Ausbildung, die auf die Erfordernisse des mehrsprachigen Berufslebens in Europa angemessen vorbereitet werden (Funk & Kuhn 2010). Auf einer vom damaligen EU-Mehrsprachigkeitskommissariat im September 2007 veranstalteten Konferenz zur beruflichen Mehrsprachigkeit in Europa war eine der beiden Leitfragen „Sind die nationalen Erziehungs- und Ausbildungssysteme in der Lage, dynamische Unternehmen mit einer ausreichenden Anzahl von Menschen mit den benötigten Kompetenzen zu versorgen?“ Diese Frage muss auch 10 Jahre später noch verneint werden.

Literatur

CILT (Hrsg.) (2006): ELAN: Auswirkungen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den Unternehmen auf die europäische Wirtschaft. London. [http://ec.europa.eu/assets/eac/languages/policy/strategic-framework/documents/elan_de.pdf].

Davignon, E., Albrink, W., Dyremose, H. et al. (2008): Languages Mean Business. Recommendations from the Business Forum for Multilingualism Established by the European Commission. Brussels. [http://ec.europa.eu/dgs/education_culture/repository/languages/library/documents/davignon_en.pdf].

Deutscher Volkshochschulverband e.V. & Goethe Institut (Hrsg.) (1995): Das Zertifikat Deutsch für den Beruf. München.

Euregio2020 (Hrsg.) (2012): Unsere Strategie für morgen. Onze strategie voor morgen. [https://www.euregio.eu/sites/default/files/downloads/EUREGIO2020_de.pdf].

Funk, H. & Kuhn, C. (2010): Berufsorientierter Fremdsprachenunterricht. In: W. Hallet & F. G. Königs (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze, 316-321.

Spaniel-Weise, D. (2018): Europäische Mehrsprachigkeit, bilinguales Lernen und Deutsch als Fremdsprache. Längsschnittstudien zum Nachbarsprachenlernen im ostsächsischen Grenzraum. Berlin.

Wille, C. (2015): Lebenswirklichkeiten und politische Konstruktionen in Grenzregionen. Das Beispiel der Großregion SaarLorLux: Wirtschaft – Politik – Alltag – Kultur. Bielefeld.

Hermann Funk

Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik

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