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Kapitel 9 Das Moor

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Sie wandten sich dem Moor zu. Dort konnten Hunde wegen der Nässe die Spur nur schwer verfolgen und es gab genug Möglichkeiten, sich im Auwald zu verbergen. Irgendwo hier auf dem schwankenden Grund musste ein Sprickelweg durch das Moor führen, irgendwo... Ubbo wusste das. Er konnte ihn nur nicht finden, nicht so schnell, nicht in der gebotenen Eile. Die zusammengebundenen Hölzer mussten in Schlamm und braunem Wasser versunken sein... Teufel, auf was hatte er sich da eingelassen?! Das war gefährlich, lebensgefährlich. Langsam tastete sich der Esel voran. Hoffentlich konnte man sich auf den Instinkt des Tieres verlassen!

Nebel stieg auf, alles schien zu dampfen. Adda bemerkte es mit Schrecken, aber sie schwieg. Sollten sie lieber umkehren? Sollten sie warten, bis man sie fände und sicher heimbrächte? Oder Flucht? Mitten in den Nebel hinein? Gewiss würde man die Suche bald einstellen. – Kein Narr wagt sich bei Nebel ins Moor und noch dazu kurz vor der Dunkelheit. Um sie herum gluckste und wisperte es, als ob unheimliche Mächte... Nein, sie durfte nicht daran denken, nicht an die schaurigen Geschichten von Moorhexen und Nebelfrauen und noch entsetzlicheren Dingen. Sie drückte sich fester in Ubbos Arm, schloss für eine Weile die Augen. Wenigstens wollte sie nicht sehen, wenn die nassen Finger der Moortöchter nach ihr griffen.

Wie lange hatte der Esel sich so über den schwankenden Grund vorwärts getastet? Eine Stunde oder zwei? Wie auch immer, zwar hatte Ubbo mittlerweile den Knüppelpfad gefunden, aber die Dämmerung war schon hereingebrochen und Adda fürchtete sich. Ganz fest hielt Ubbo sie an sich gedrückt. „Damit du nicht frierst, Liebste”, hatte er gesagt, aber manchmal stahlen sich seine Finger an ihre Brust. Sie mochte das nicht, absolut nicht.

Von irgendwoher hörten sie Hundegekläff, gedämpft – es schien weit fort.

Adda schalt Ubbo einen Lüstling und klopfte ihm heftig auf die Finger. Aber er konnte es nicht lassen, versuchte es immer wieder. Was mochte nur in ihn gefahren sein! Jetzt schien das Hundegebell geradewegs auf sie zuzukommen. Das beunruhigte Adda. Und dieser Buckel-Ubbo machte sie wahnsinnig! Jetzt versuchte er beharrlich, sie zwischen den Schenkeln zu befingern! Wütend fuhr sie herum und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Ubbo lachte: „So gefällst du mir! Du hast den Teufel im Leib! Nur weiter so.”

„Wenn du es wagst, mich noch einmal anzufassen, werfe ich dich in den Sumpf!” kreischte Adda empört.

„Wir wollen sehen, wer wen in den Sumpf wirft, du Teufelin!” Grinsend zeigte Ubbo seine Nagetierzähne, unbeeindruckt seine Bemühungen – jetzt in verstärktem Masse – fortsetzend. Ubbo war zwar bucklig, aber kräftig und Adda erkannte plötzlich, dass sie nicht die geringste Möglichkeit einer erfolgreichen Gegenwehr besaß. Sie musste versuchen, ihm mit Vernunft beizukommen.

„Ich bitte dich herzlich, Ubbo. Hör auf damit. Ich habe jetzt keinen Sinn dafür. Später, wenn wir in Sicherheit sind... Was hast du davon, wenn wir beide ins Moor fallen? Dann sind wir alle beide hin... Lass das jetzt, Ubbo, bitte!”

Aber er ließ nicht nach, konnte es einfach nicht. Noch nie war sie ihm so nah gewesen. Seine Begierde ließ ihm keine Wahl. Er musste sie haben, jetzt... hier auf dem Esel... oder nie... Und sie konnte ihm nicht entkommen. Hatte sie sich ihm nicht wissentlich ausgeliefert? Wissentlich und freiwillig? Er hatte es ihr gesagt! Klar und deutlich! Gewiss zierte sie sich nur, um die Form zu wahren. - In blindem Verlangen riss er ihr plötzlich den mürben Flickenrock vom Leibe und sie fand sich mit einem Mal halb nackt auf dem Esel sitzend. Wie wild schlug Adda um sich, traf Ubbo empfindlich auf Auge und Nase. Vor Schreck oder warum auch immer, ging der Esel durch, veranstaltete Bocksprünge wie ein wild gewordener Ziegenbock. In hohem Bogen sausten die beiden Reiter über seinen Kopf hinweg, klatschten fast gleichzeitig in das braune Moorwasser, ruderten haltsuchend mit Armen und Beinen, versanken in einem weichen morastigen Brei.

Die eisige Kälte raubte Adda den Atem, erstickte ihren Schrei in der Kehle. Ihre Füße fanden keinen Widerstand, ihre tastenden Hände keinen Halt. Ihr war, als würden ihre Beine von vielen, vielen Händen in die Tiefe gezogen.

Die Moortöchter, die in ihr eine Gespielin suchten? Bis übers weit Knie steckte sie schon im Sumpf. Von panischer Angst erfasst, strampelte sie wie verrückt, um die Hände, diese unsichtbaren, entsetzlichen Hände abzuschütteln. Aber es gelang nicht; sie sank nur noch tiefer.

„Zu Hilfe! Hilfe! Ich versinke! Ich versinke! So hilf mir doch! Ubbo!” gellte ihre Stimme durch die tropfende Stille des Moores. Warum tut Ubbo nichts? Wo ist er? Nicht auf dem Esel, nicht auf dem Knüppeldamm? Wo? „Ubbo! So hilf mir doch! Ubbo! Ich bitte dich! Ich flehe dich an!”

Der Bucklige konnte ihr nicht helfen. Mühsam befreite er gerade seinen Kopf aus dem Schlamm, hustete, verschluckte sich, spie Schlamm und Wasser und Blut.

„Ubbo! Wo bist du? Ich weiß nicht, wo du bist!” kreischte Adda voller Angst.

„Hier bin ich, hier! Hinter dir!”

„Wo denn? Wo? Ich sehe dich nicht!”

„Hinter dir! Du musst dich umsehen!”

Ja, da sah sie ihn, kaum erkennbar so voller Moorschlamm und dabei war er keine drei Schritt entfernt. Ihre Hand nach ihm ausstreckend, versuchte sie, ihm entgegenzuwaten – das Moor ließ es nicht zu.

„So hilf mir doch! Ubbo! Hilf mir!”

„Ich kann dir nicht helfen, Liebste, ich kann nicht! So gern ich’s täte.” Seine Stimme klang heiser, gepresst. „Kannst du dich irgendwo festhalten, so halte dich fest.” Er hustete, spuckte, rang nach Luft. „Du darfst nicht so viel strampeln, desto schneller versinkst du”, hörte Adda ihn keuchen. Er ist viel kleiner als ich, dachte sie, und viel schwerer. Schon jetzt steckt er bis zu den Hüften im Moor. „Es tut mir leid, Adda. Verzeih mir... Es war nur die Liebe, diese schreckliche Liebe, nach der du gefragt hast... Du musst dich festhalten! Siehst du denn nicht den Weidenbaum? Du musst ihn erreichen! Du musst!”

„Die Weide? Welche Weide? Wo?!”

„Neben dir! Neben dir, Adda! Du musst nach links schauen! Links!”

Der Esel schrie, die Hunde kläfften - beides weit, weit weg. Tränen rannen über Addas Gesicht. Sie fühlte sich hilfloser denn je. Hinter sich Ubbo wissend und noch weiter dahinter den sicheren Knüppeldamm - nur wenige Schritte... und doch in unerreichbarer Ferne. Vor sich das Moor in schier unendlicher Weite und nirgendwo ein Baum, ein Strauch, der direkt in greifbarer Nähe gewesen wäre. Die dünnen Zweige der Weide, so tief sie auch hingen, sie waren zu hoch, um dranzukommen.

„Du musst dich zur Seite werfen, Adda! Zur Seite und hochrecken!”

„Zur Seite werfen! Wie soll ich das machen? Hochrecken! Ich kann es nicht. Sie halten meine Füße fest, ziehen meine Beine herunter!”

„Wer? Wer zieht dich?”

„Die Moortöchter! Ubbo, ich habe Angst! Entsetzliche Angst!”

„So schrei doch! Schreie! Hörst du die Hunde?“

Das Hundegebell, ja das konnte sie hören, sogar lauter als zuvor. Das gab Hoffnung, entfachte neue Kraft. „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Wir versinken!” So schrill tönte ihre Stimme, dass sie davor erschrak und jäh abbrach.

„Ruf nur weiter! Schrei, schrei, bis deine Stimme birst”, keuchte Ubbo dumpf, „vielleicht, dass man dich hört oder die Hunde dich hören.”

Aber sie schwieg, schaute sich nach ihm um. Bis zur Gürtellinie stand er schon im Sumpf, hatte wohl unglücklicherweise ein besonders weiches Moorloch erwischt. Es gab Moorlöcher, die hatten schier keinen Grund. Wenn dort etwas hinein fiel, war es für alle Zeiten verloren. In der Nähe der Burg gab es mehrere solcher Löcher. Der Herr Luippe hatte mal gesagt, das käme davon, weil es unterirdische Bäche gebe. Die wären früher an der Oberfläche gewesen. Weil das Wasser aber nicht abfließen konnte, wären sie versumpft und die Erde rundum eben auch. Und dort, wo sich die Quelle befand, wären diese schrecklichen Moorlöcher entstanden, wo es keinen Grund gäbe. Irgendwie logisch, aber das zu wissen, das rettete sie nun auch nicht aus ihrer misslichen Lage.

Vor ihren Augen schien Ubbo kleiner und kleiner zu werden. Warum versuchte er nicht, den Knüppeldamm zu erreichen? Sie fragte ihn danach.

Unter der Schlammmaske verzog Ubbo sein Gesicht zu einem bitteren Grinsen. Er habe es versucht, sagte er, mehr als ein Mal, deshalb säße er ja so tief im Dreck. Für ihn sei es aussichtslos. Ihm könne nur noch ein Wunder helfen. - Aussichtslos hatte Ubbo gesagt, aussichtslos. Und es hämmerte in Addas Kopf, dass nur noch ein Wunder helfen könne: Da kommst du nie heraus. Nie wieder, dachte sie. Aber du musst. Du musst dich anstrengen! Morgen sollst du dich verloben mit dem mächtigsten Häuptling diesseits der Ems... Du musst hier heraus. Was sollen sonst die Gäste von dir denken? Eine tom Brook ersäuft nicht im Moorloch wie ein Schwerverbrecher... Mit aller Kraft warf sie sich dem Baum entgegen, um seine tief hängenden Zweige zu packen. Und sie schaffte es sogar, nur - die Zweige waren dürr und rissen ab. In diesem Augenblick fiel ihr ein, was der Herr Kaplan noch über das Moor erzählt hatte..., gewachsen auf sandigem Grund. - Gab es nicht auch manchmal eine feste Lehmschicht? Hätte sie nur im Unterricht besser aufgepasst, dann wüsste sie jetzt Bescheid, wüsste vielleicht Dinge, die ihr das Leben retten konnten. Die Weide musste doch auch irgendwo mit ihren Wurzeln in Sand oder Lehm stecken? – Oh, mein Gott, hätte ich nur besser aufgepasst! Aber sie hatte es nicht getan. - Herr Gott, sie musste nachdenken, in Ruhe nachdenken. Aber ihr blieb keine Zeit dafür..., da waren die Moortöchter, die sie unbarmherzig zu sich hinunterzogen. „Ubbo! Versuch, den Esel zu locken. Vielleicht, dass du über ihn hinweg auf den Knüppeldamm klettern kannst.”

„Den Esel? Weiß der Himmel, wo der ist. Wie denn?”

„Pfeifen, Ubbo! Du musst pfeifen, so wie ich es immer getan habe.”

„Adda, ich kann nicht so pfeifen wie du. Das weißt du doch. Es ist mir noch nie gelungen. Ich… mit meinen Hasenzähnen kann ich‘s nicht und außerdem hast du mir die Lippe aufgeschlagen. Sie ist ganz dick.”

„Du hättest es eben beizeiten üben sollen, als ich es dir gesagt habe. Aber du weißt ja immer alles besser. Du Klugscheißer! Siehst du nun, wie Recht ich hatte?”

„Recht hin, Recht her, ich kann’s nicht! Warum tust du‘s nicht selber?”

„... hab nicht dran gedacht. Dumm von mir”, entschuldigte Adda sich halbwegs und stieß ihren charakteristischen Pfiff durch die Zähne. Ob das Grautier darauf hörte? Ob es kam? Atemlos lauschten die beiden hilflosen Menschen. Ein paar Vögel waren erschreckt aufgeflattert, irgendwo patschte etwas ins Wasser, aber das Geräusch, auf das sie hofften, nämlich den sich nähernden Hufschlag des Esels auf dem Knüppeldamm, jenes Geräusch blieb aus. Ob das Tier schon im Moor versunken war? Möglich, jedenfalls hörte man auch sein durchdringendes Geschrei nicht mehr. Noch einmal schrillte Addas Pfiff übers Moor. – Vergebens – nichts geschah... tropfende Stille. Außer dem Wispern und Flüstern in Gräsern und Röhricht, dem Glucksen und Blubbern im Moor, dem Schrei der Sumpfohreule – nichts. Auch das Hundegebell schien in unendliche Ferne gerückt.

Ubbo hatte gesagt ‚nicht strampeln’. Wie aber sonst sollte sie den Weidenbaum erreichen? Wie? Sie war doch nicht weit entfernt, vielleicht eine Armeslänge oder sogar weniger. Und Ubbo, was machte der? Weit und breit kein Sträuchlein, kein Hälmchen, das er mit den Händen fassen konnte. Schon bis zur Brust reichte ihm das Moor. Aber sie, sie musste es schaffen, sie musste hier heraus... Bis zu den Hüften war sie erst eingesunken, und sie warf sich mit all ihrer Kraft in das eisige Wasser, dem rettenden Baum entgegen. Ihre Finger erreichten abermals nur die verdorrten Zweige und abermals brachen sie ab. Enttäuscht ließ sie das Sprickelholz fallen. Sie fühlte, wie ihr Körper zurückgezogen wurde ins Moor; jetzt tiefer als zuvor, aber dennoch war sie ein Stückchen vorangekommen. - Und noch einmal raffte sie all ihre Kraft zusammen. Es erging ihr kaum anders als vorhin, nur, dass sie diesmal den ganzen Ast packen konnte. Der jedoch war dürr und brach unter ihrem Gewicht ab. Verzweiflungstränen rannen über Addas schmutzigen Wangen. „Hilfe, so helft mir doch”, wimmerte sie leise. „Hilfe. Heilige Mutter Gottes, hilf uns doch!” Nun steckte sie schon bis zur Körpermitte im Moor. Die Möglichkeiten, rechtzeitig gefunden zu werden, schmolzen von Augenblick zu Augenblick.

Der Nebel wallte jetzt stärker über dem Moor, was die Suche nicht gerade erleichtern würde; dazu die hereinbrechende Dunkelheit... Um sie herum nur graue, wattige Nebelschleier und weit, weit weg hörte sie ihres Vaters Hunde gedämpft kläffen. - Beute suchend strich niedrig eine Eule über sie hinweg. Adda fühlte den Luftzug, und sie fühlte ihre Kräfte schwinden. Sie klammerte sich an den dürren Ast, ohne sich dessen bewusst zu sein; starrte bar jeder Hoffnung in den dampfenden Nebel. „Vater!” weinte sie. „Mein lieber Vater!”

Erscheint einem in solchen Augenblicken nicht alles in anderem Licht? Vergangenheit und Zukunft? Ja, so ist es wohl.

Irgendwas patschte regelmäßig ins Wasser. Adda lauschte. Tropfen, die von einem Busch fielen? Nein, das klang anders, zudem näherte sich das Geräusch. Da – wie aus dem Nichts standen plötzlich – nicht weit von ihr – dort, wo der Knüppelpfad sein musste, Beine. Zweifellos Beine – lange, dürre Beine in schlotternden grauen Strümpfen. Darüber, ungefähr ab Kniehöhe, der grobe Stoff eines dunklen Mantels. Adda mühte sich, das Gesicht des Mannes zu erkennen, aber es lag im Schatten einer übergroßen Kapuze. Vielleicht ein Aussätziger? Aber dann hätte er das Glöcklein läuten müssen...

„Ruft hier nicht jemand?” quäkte eine hohe Fistelstimme.

Adda war wie gelähmt, konnte nichts sagen... eine Ewigkeit nicht.

„Heda, ist da wer? He!” Die Beine entfernten sich mit tastenden Schritten. Gleichmäßig klatschte es abermals ins Wasser. Was mochte das sein? Adda fürchtete sich, gleichzeitig wissend, dass sie fremde Hilfe nötig brauchte, um hier herauszukommen; aber sie schwieg. „Hierher!” rief stattdessen Ubbo heftig. „Hierher! Hier bin ich!” Das seltsame Wasserpatschen hörte auf. „Wo ist ‚hier’?“

„Hier! Im Moor, ich bin vom Wege abgekommen.” Das Patschen setzte erneut ein. Glucksende, quatschende Geräusche erzeugten die Holzknüppel unter den Tritten des sich nähernden Mannes. Genau vor Ubbo blieb er stehen, rief: „Heda, ich kann dich nicht sehen! Wo bist du?”

„Hier, vor dir, direkt vor dir. So hilf mir doch, ich versinke.” Er streckte dem Mann seine Hand entgegen aber der Fremde schlug mit seinem langen gedrehten Knüppel suchend auf das Wasser.

„Rette mich!” blubberte Ubbo, bereits kurz vor dem Ertrinken. Immer noch schlug der Fremde aufs Wasser, traf Ubbo hart auf den Schädel. Der aber packte im selben Augenblick geistesgegenwärtig den Stock. - Endlich zog der Fremde, zog mit aller Kraft, bis Ubbo den rettenden Damm unter seinem Leib fühlte. „Da ist noch jemand”, keuchte der Bucklige, „noch jemand...” „Wo denn? Wo?” Der Retter ließ erneut seinen Stock aufs Wasser patschen. „Hier bin ich, hier, bei dem Weidenbaum”, rief Adda mit belegter Stimme. Wahnsinnige Angst presste ihr das Herz zusammen, oder war es der Sumpf, der seinen eisigen Ring um ihre Brust schloss und ihr die Luft zum Atmen raubte? „Rette mich! Ich bitte dich! Mein Vater wird dich reich belohnen!” Der Fremde hielt inne, den Kopf zum Himmel gereckt, als lausche er ihrer Stimme nach.

„Ich bitte dich! Ich flehe dich an, hilf mir! Lass mich nicht im Sumpf versinken!” Warum beugte sich der Mann nicht zu ihr herunter? Warum streckte er ihr nicht seinen Stecken entgegen? Mehr brauchte er doch nicht zu tun. Mit Entsetzen fühlte Adda ihren Körper in die Tiefe sinken – immer schneller – immer schneller – von tausend glitschigen Fingern gezogen. Das Moor stand ihr nun fast bis zum Hals. - Mein Gott, warum hilft er mir nicht? Was treibt er für ein grausames Spiel! „Ubbo! Ich versinke! So helft doch endlich!” Aber der Bucklige war selber mehr tot als lebendig. Stattdessen fragte der Fremde ohne Hast: „Wer bist du?”

„Adda tom Brook bin ich, Herrn Ihmels Tochter, des Häuptlings von Brookmerland Tochter bin ich. Rettet mich! Ich schwöre es bei allem was mir heilig ist, mein Vater wird Euch reich belohnen.”

„Das tat er schon”, antwortete der Fremde mit irrem Gelächter, sich endlich etwas zu ihr herunterbeugend: „Wo bist du? Gib Laut!”

„Ich bin kein Hund! So helft mir doch! Ich flehe Euch an! Helft mir!” Da sah sie den gedrehten Stock vor sich, ergriff ihn voller Erleichterung mit beiden Händen, fühlte wie der Kerl sie zu sich heranzog, spürte ihren Körper langsam, viel zu langsam durch den zähen Morast gleiten. Gerettet! dachte sie matt und ohne Freude, denn ihre Erschöpfung ließ es nicht mehr zu, dass sie sich freuen konnte. Schon glaubte sie, festen Boden unter den Füßen zu spüren, da warf der Kerl mit rascher Kopfbewegung seine Kapuze zurück und fing an zu lachen, lachte mit seiner dünnen Fistelstimme wahrhaft satanisch – und Adda starrte fassungslos in sein Gesicht, ein grauenhaftes nasenloses Gesicht, in dem leere Augenhöhlen glühten.

Der Knochenmann leibhaftig! durchfuhr es sie, aufschreiend in maßlosem Entsetzen, schreiend, dass sich ihre Stimme überschlug. Der Mann aber zog sie nun nicht endlich heraus, im Gegenteil, er drückte sie mit aller Kraft zurück in den Sumpf, stieß ein schreckliches, rachedürstendes Gelächter aus, das ihr Blut in den Adern gefrieren ließ.

Wie wahnsinnig schrie Adda, ließ den Stock fahren, versuchte sich wegzudrehen, aber der entsetzliche Kerl schlug mit seinem Knüppel nach ihr, als gelte es, einem räudigen Hund den Schädel zu zertrümmern. Instinktiv ergriff Adda den abgebrochenen Ast der Weide, um sich zur Wehr zu setzen. Aufgerüttelt von ihren Entsetzensschreien, regte der Bucklige sich aus seiner Ohnmacht. „Schweig still!” rief er ihr zu. „Schweig still! Er sieht dich nicht, Adda. Er schlägt nach deiner Stimme.” Ja, ja, das wusste sie auch irgendwie, aber sie war nicht fähig, vernünftig zu sein. Mit beiden Händen hatte der entsetzliche Mann jetzt seinen Knüppel gepackt und schmetterte ihn kaum eine Handbreit an Addas Kopf vorbei. Wasser und Schlamm spritzten auf. Wieder und wieder ließ der Mann seine Waffe niedersausen, traf ein paar Mal den dürren Ast, mit dem Adda sich notdürftig gegen seine wütenden Angriffe schützte, und der nun mehr und mehr zerbröckelte. Der saugende, ziehende Morast reichte Adda schon wieder bis an den Hals und sie schrie, schrie, bis ihr das Moorwasser in den Mund lief und sie vor Husten nicht mehr schreien konnte. Jetzt ist es aus, dachte sie, alles aus. Doch plötzlich mündete das fürchterliche Gelächter in einen gurgelnden Schreckenslaut. Das grauenhafte Gesicht schien auf Adda zuzustürzen; wie ein gefällter Baum klatschte der Mann ein, zwei Schritte von ihr entfernt ins Moor. Patsch, patsch, patsch machte es, so wild schlug er mit Händen und Füßen um sich. War er nun auch keine Gefahr mehr für Adda, so half ihr das aber auch nicht weiter. Ein letztes Stoßgebet... ihr Kinn tauchte ein, ihr Mund... Schluss... Nein, doch nicht... Adda fühlte plötzlich festen Halt unter ihren Füßen. Wie konnte das sein? Ein Ast vielleicht? Wurzelwerk? Ein Baumstamm gar? Neue Hoffnung keimte auf. Solange sie noch atmen konnte, war noch nicht alles zu Ende. Vorsichtig tastete Adda sich mit den Zehenspitzen voran. Der feste Grund blieb. Ihr war irgendwie, als ginge es bergauf, ein wenig nur, aber doch genug, dass ihr Kopf freier wurde. Neben ihr strampelte und prustete immer noch der Blinde. Sie hatte keinen Blick dafür. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie ein einziger Eisbrocken... Eis, ja Eis, das konnte es sein; da unten konnte das Moor noch gefroren sein. Gab’s das? Gleich wie, sie kam jedenfalls vorwärts und sackte auch nicht mehr tiefer. Ihr Herz fasste neuen Mut. Auf dem Knüppelpfad rappelte Ubbo sich auf. Konnte er ihr helfen? Sie musste seine Hand erreichen, die er ihr entgegenstreckte. Also weiter, weiter, vorsichtig weiter...

Wie lange hatte Adda sich so voran gequält? Sie wusste es nicht, hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Beinahe schon konnte sie Ubbos Fingerspitzen erreichen. Viel fehlte nicht mehr, aber immer wieder glitt sie rückwärts, und die Beine, ihr ganzer Körper wurde so schwer, und sie fühlte sich so entsetzlich müde... Nein, so ging es nicht. Sie musste nachdenken, einen anderen Weg finden. Aber sie konnte nicht denken, war nicht fähig, ihre Gedanken beieinander zuhalten.

Im Röhricht schlug die Rohrdommel „ü-prumb, ü-prumb, ü-prumb...”

Fast schon war es ganz dunkel. Mit ihren Kräften am Ende, hätte Adda sich am liebsten absinken lassen. Dann wäre alles rasch aus und vorbei. Aber da war Ubbo, der ihr unablässig zuredete und dann dieser ,Knochenmann’, der in den höchsten Tönen um Hilfe kreischte. Für Ubbo schien er überhaupt nicht vorhanden. Ob Buckel-Ubbo ihn ins Moor gestoßen hatte? Er beachtete Addas Frage nicht und auch nicht das sporadische Winseln des Mannes, ihm doch sein armseliges Leben zu retten. - Merkwürdige Gedanken gingen Adda durch den Kopf: Wie mochte das sein, wenn man keine Augen zum Weinen hatte? Ach nein, die Tränen flossen ja nicht aus den Augäpfeln, die man ihm herausgerissen hatte. - Indessen mühte Ubbo sich ab, einen Knüppel aus dem Damm zu reißen. Aber die Hölzer waren zu fest verflochten und zusätzlich noch aufgequollen von der Nässe. „Mist, verfluchter, elendiger, dreckiger!” hörte Adda ihn schimpfen. „Wirst du wohl... ich werd’ dir helfen! Verdammt und zugenäht! Da bricht man sich eher die Finger, als...” Pause.  „Ü-prumb, ü-prumb...” schlug unweit die dicke Rohrdommel immer noch. Adda lauschte. War da nicht das Bellen von Hunden? Nein, sicher nur ein Füchslein.

„Sieh da! Sieh da!” schrie Ubbo mit einem Mal begeistert. „Sie kommen! Sie kommen! Halte aus, Adda! Halte aus!”

„Wo? Wo? Wo denn?”

„Da, da hinten, die Lichter!”

Ja, tatsächlich – jetzt sah Adda sie auch, die milchig-rosa Lichterkette, die langsam näher schwankte. Aber es dauerte noch eine Unendlichkeit, ehe die Retter an der Unglücksstelle eintrafen. Und zuerst waren die Hunde da, ein Dutzend fröhlich kläffender Jagdhunde, die mit ihrem Lärm erheblichen Aufruhr im Moor stifteten. Überall hörte man das aufgeregte Flattern und Patschen aufgescheuchter Tiere.

Die Handvoll Leute – Leitern, Taue und anderes Rettungsgerät mitschleppend – handelte rasch. – Eine Kleinigkeit, das zu Tode erschöpfte Mädchen aus dem Sumpf zu befreien. – Aber auch das schien Adda ewiglich zu dauern. Von trockenem Schluchzen geschüttelt, zitternd vor Kälte, knickten ihr die Beine unterm Leib weg. Bei aller Kraftanstrengung gelang es Adda nicht, sich ohne Hilfe aufrechtzuhalten. Aber das verlangte auch niemand. Einer der Männer nahm sich ihrer an; sein Gesicht schien Adda bekannt, aber sie wusste nicht woher. Die andern nannten ihn ‚Häuptling‘, aber für sie schien er der ‚Liebe Gott’ persönlich. Zuerst einmal flößte er Adda Genever ein, behutsam, ganz vorsichtig. Der brannte in der Kehle wie Gift. Sie verschluckte sich, musste husteten. Jemand zog ihr die klebrignassen, zerlumpten Kleider aus, rieb ihren erstarrten Körper mit Schnaps ab. Zu guter Letzt hüllte der Häuptling sie fürsorglich in seinen mit feinstem Marder gefütterten Mantel ein. – Inzwischen machten seine Leute sich mit vereinten Kräften daran, auch den Blinden zu retten. Buckel-Ubbo war unterdessen weniger fürsorglich bedacht worden. Man hatte ihm einen Mantel und eine Schweinsblase voll Schnaps in die Hand gedrückt, mit der wenig freundlichen Aufforderung, dass er sich gefälligst selbst bedienen möge. Das tat er dann auch, und er leerte die Schweinsblase in einem Zug.

- Hatte Adda bisher auch kaum wahrgenommen, was mit ihr und um sie herum geschah, so weckte der Genever doch langsam die Lebensgeister, und von den Armen des fremden Häuptlings gehalten, verfolgte sie die Rettungsvorgänge mehr oder minder aufmerksam. „Wer ist das? Gehört der auch zu dir?” fragte der Häuptling ganz nah an ihrem Ohr. Zu müde, etwas zu antworten, zuckte Adda nur mit den Schultern. Aber dann stand der Kerl unvermittelt kälteschlotternd vor ihr. – Der kahlgeschorene Kopf – die schlammverschmierte Fratze. Die dünnen Spinnenfinger weit vorgereckt, trat er auf sie zu. Ein unheimliches Spiel von Licht und Schatten belebte das entstellte Gesicht. Der Häuptling fühlte, wie sich der Körper des Mädchens in seinen Armen spannte, wie es sich von Entsetzen gepackt an ihn drückte. Da drehte er behutsam ihr schmutziges Gesichtchen an sein Wams, um ihr den Anblick zu ersparen.

„Wer bist du? Woher kommst du? Was treibst du hier?” fragte er den Kerl. „Bleib, wo du bist und untersteh dich, näher zu kommen. – Wie ich sehe, hat man dich geblendet. Warum?”

„Mich friert. Wollt Ihr mich erfrieren lassen?” hörte Adda den Kerl fisteln. Auf einen Wink brachte einer der Knechte einen wollenen Umhang für ihn. „Nun? Wie ist es. Du bist die Antwort schuldig geblieben. Willst du keine Auskunft geben?” Der Häuptling schien ungehalten.

„Jagt ihn weg von hier”, stöhnte Adda an seiner Brust. „Jagt ihn weg, ich habe Angst. Ich habe Angst vor ihm; er wollte mich töten. Er will es immer noch!” „Töten? Dich? Stimmt das?”

„Seht mich an, Häuptling. Ihr Vater hat mich verstümmelt. Ihr Vater war es, der mich so zugerichtet hat.”

„Na, na, doch wohl nicht selber ... und nur im Rahmen seiner Richterpflicht, nehme ich an.”

Buckel-Ubbo schaltete sich ein: „Ja Herr, das wollte er. Im Moor wollte er sie erschlagen. – Das ist wahr, so wahr ich hier stehe. Ich schwöre es bei allen Heiligen und den Gebeinen des Heiligen Jakob. Wäre es mir nicht gelungen, ihn ins Moor zu stoßen, bei Gott, er hätte es getan!”

Der sparsamen Handbewegung des Häuptlings folgend, schob einer der Knechte den Geblendeten ein paar Schritte näher an den Rand des Knüppeldamms. Unter den schweren Männerschritten quatschte das Wasser zwischen den Hölzern hindurch. Unheimlich umwallten rötliche Nebel den Ort des Geschehens, und die tanzenden Flammen der in den Boden gespießten Fackeln ließen schmale Silhouetten riesengroß sich aufrecken in den schwarzen Himmel. Leise winselnd scharten sich die Hunde um ihren Herrn. Mit fragendem Blick auf den Häuptling zog der Knecht wortlos einen Dolch aus seinem Gürtel.

„Ich will heim, ich bin so müde”, murmelte Adda erschöpft. Der Häuptling drückte das zitternde Mädchen beschützend an sich, nickte, den Blick auf seinen Knecht gerichtet. – Ein gurgelnder Laut, der klatschende Aufschlag eines Körpers, eine Weile noch blubbernde Geräusche, dann Stille. –

„Erledigt!” rief der Knecht wohlgelaunt. „Wir können...” Sich umblickend, sah Adda einen Mann sich bücken, etwas abzuwaschen. Wassertropfen blitzten funkelnd im roten Fackelschein, große dunkle, braunrote Wolken verfärbten das Wasser. Der Knecht spülte seine Hände ab, steckte gleich darauf die stählerne Klinge zurück in seinen Gürtel. Weiß und kalt blinkte die gereinigte Waffe, Wasser tropfte daran herunter.... Schwarze Schatten wandten sich ab. Da wusste Adda: der Mann, der sie erschlagen wollte, er war gerichtet worden und für dieses standrechtliche Urteil würde der Häuptling in seiner Eigenschaft als Richter nicht einmal Rechenschaft ablegen müssen, und Adda begriff plötzlich, dass er dem Gerichteten damit sogar einen Dienst erwiesen haben mochte, indem er ihm weitere Pein erspart hatte. Indes hob der Häuptling sie vom Boden auf: „Du bist leicht wie eine Feder, hoffentlich auch so schmiegsam.”

„Das bin ich ... manchmal”, antwortete sie leise und drückte ihr Gesicht in seinen Pelzkragen.

„So etwas erlaube ich dir nie wieder”, hörte sie ihn flüstern und verstand nicht, warum dieser Fremde so merkwürdige Dinge sagte. Sie fühlte sich zu Tode erschöpft, ja – erschöpft, aber auch glücklich. Glücklich, an diesem Tage zwei Mal dem Tode entronnen zu sein. Zwei Mal! Oder... nein, sogar drei Mal, rechnete man den niederträchtigen Anschlag des Geblendeten mit. Wenn das kein gutes Omen war, was dann?

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