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Kapitel 4 Der Häuptling
ОглавлениеWunderschön, ausgestattet wie der Saal eines Märchenschlosses, so schien Adda der Prunksaal der Kennenburg. Sie erinnerte sich nicht, jemals zuvor so etwas Schönes geschaut zu haben. Wohin der Blick schweifte: Felle, kostbar gestickte Wandteppiche, Geweihe, ausgestopfte Vögel, sogar ein Eberkopf mit rubinfunkelnden Augen; die kassettenvertäfelte Zimmerdecke kunstvoll geschnitzt und bunt bemalt, schöner als die Sendkirche von Lamberti zu Aurichhove. Reiches Schnitzwerk zierte auch die beiden Hochstühle auf dem Teppich belegten Podest an der Stirnwand. Samtkissen... purpurne Samtkissen mit Goldfädenstickerei und goldenen Quasten lagen darauf! Ob man sich dort draufsetzen durfte? Ein geschickt geraffter roter Baldachin beschirmte beide Häuptlingsstühle. Adda kam aus dem Staunen nicht heraus. Herrlich, wieder hier zu sein! – Zwei Kamine im Saal, Kamine, so groß, dass man wohl einen Ochsen darin rösten konnte. Beide schön verziert mit behauenem Sandsteinsims. Die großen, jetzt erkalteten, Feuerlöcher und deren Umgebung – schmutzig und rauchgeschwärzt – machten allerdings einen liederlichen Eindruck.
Zögernd ging Adda zu der langen Tafel, auf der noch die Reste der vergangenen Nacht lagen. Die Tafel mitsamt den Holzböcken, auf denen sie ruhte, hätte üblicherweise längst fortgetragen sein müssen. Da dies nicht der Fall war, konnten die letzten Gäste erst vor kurzem gegangen sein. Ein unbeschreibliches Durcheinander von Speiseresten, abgenagten Knochen, umgestürzten Bierkrügen, von Holzlöffeln, Schüsseln, Messern... Unwillkürlich begann Adda aufzuräumen, stellte einen umgeworfenen Holzschemel wieder auf, sammelte die Scherben eines zerbrochenen Tonkruges von den braun-weißen Fussbodenfliesen, entdeckte dabei ein buntes schnarchendes Etwas unter dem Tisch.
„He, du da, steh’ auf!” rief Adda, mit dem Fuß dagegen stoßend. Das Bündel rollte sich auseinander, krabbelte schlaftrunken unter dem Tisch hervor, reckte sich. Ubbo, Addas buckliger Ziehbruder. Schwankend, ob vor Müdigkeit oder vom reichlichen Biergenuss, stand er vor Adda, verlegen seinen Kopf kratzend. „Was treibst du da? Bist du schon lange hier?”
Ubbo antwortete nicht, sondern klopfte an seiner Kleidung herum.
„Bist du taub? Ich hab’ dich was gefragt! Antworte mir gefälligst!” beschimpfte Adda ihn ärgerlich. „Mein Vater kommt gleich. Ich denke mir, dass er...”
„Wer?”
„Mein Vater! Der Häuptling!”
„Ach, der...”, entgegnete der Bucklige gedehnt, als ob er damit Geringschätzigkeit aufzeigen wollte.
„Was soll das heißen, Ubbo! In solchem Ton spricht niemand ungestraft von meinem Vater!” Adda fühlte sich ungeheuer stark und trat drohend einen Schritt näher, obwohl ihr Ziehbruder drei Jahre älter und ziemlich kräftig war.
„Du willst die Häuptlingstochter hervorkehren? Nur zu, Adda, ich weiß mich danach zu richten.”
„Dann ist’s ja gut, richte dich danach, denn jetzt bin ich es, die befiehlt und du derjenige, der gehorcht. Und nun erzähle mir, was du gerade sagen wolltest.”
„Nichts wollt’ ich sagen, nichts, edles Fräulein. Du wirst schon selber sehen.”
„Was denn? Was werd’ ich sehen? Sprich! Wer ‚A’ sagt muss auch ‚B’ sagen.”
„A und B, was für’n Quatsch!“
„Quatsch?“
„Ja, was denkst ‘n du? Kannst du lesen? Kannst du schreiben? Weißt du überhaupt, wovon du sprichst? Das glaub ich kaum. Aber wenn du jemanden brauchst, der dir hilft, dann denk dran, dass ich dir immer geholfen und zur Seite gestanden hab. Und wenn du jetzt auch glaubst, deine kleine Nase himmelwärts tragen zu müssen, die Zeit wird dir beibringen, sie wieder zu senken, wenn dein Vater dir erst die Flügel gestutzt hat.”
„Mein Vater? Mir? Die Flügel stutzen? Du bist närrisch!”
„Ich? Närrisch? Ich will dir mal was sagen, was er mit dir vor hat...”
„Was habe ich denn mit ihr vor?” fragte plötzlich eine scharfe Stimme aus dem Hintergrund, und dann umfassten zwei starke Hände Addas Schultern und drückten sie vertraulich und... irgendwie schutzversprechend. „Guten Morgen, meine Süße! Wie geht es dir? Gut geschlafen die erste Nacht auf Broke? Gut geträumt? Träume gehen manchmal in Erfüllung. – Bekomme ich keinen Begrüßungskuss, wie es sich gehört?”
Addas Vater schaute sie aus gletscherklaren Augen an, und während sie scheu und ein wenig erschrocken der Aufforderung folgte und dem Vater artig die glatt rasierte Wange küsste, entwischte Ubbo wieselflink durch die offen stehende Flügeltür.
„Halt!” rief Adda schnell und wollte hinterher, aber ihr Vater hielt sie zurück: „Lass ihn, Adda. Kinder und Narren haben eine ausgeprägte Einbildungskraft und tun sich gern wichtig. Komm, lass uns hinuntergehen an die frische Luft. Sie wird uns beiden gut tun. Außerdem lässt es sich besser plaudern in Gottes freier Natur. Nimm das Brot da mit, wir können dabei die Enten füttern.”
Auf einen ganzen Laib Brot deutete er! Welche Sünde, den an die Enten zu verfüttern! Davon konnte man eine ganze Woche lang leben. Ungläubig schüttelte Adda den Kopf. Sie kannte Hunger und wusste, was es heißt, tagelang schmachten zu müssen. Welche Verschwendungssucht! – Ihres Vaters Schritte hallten schon holzschuhklappernd auf dem Flur. Ungeduldig rief er nach ihr. Da schnappte sie sich rasch den Brotlaib und biss herzhaft hinein. Mit vollen Backen kauend lief sie hinterdrein, führte sich zwischendurch immer wieder ein kräftiges Stück Brot zu Gemüte. – Einmal blickte der Vater sich nach ihr um, sagte aber kein Wort, strich sich nur schmunzelnd den blonden Schnurrbart und pfiff das Lied von der gefräßigen Maus, die im Schmalztopf stecken blieb, weil sie so vollgefressen war. Am Burggraben angelangt, hatte Adda fast das halbe Brot verzehrt.
„Du wirst Magendrücken kriegen”, lachte Ihmel, als sie errötend den Brotrest hinter ihrem Rücken versteckte. „Schön hier, nicht wahr? Sieh’ nur, meine kleinen Freunde kommen schon geschwommen.”
Gemeinsam hockten sich Vater und Tochter an das mit Efeu überwucherte Grabenufer, warfen einträchtig zerbröckeltes Brot ins Wasser. Wie ausgehungert stürzten sich die Enten darauf.
„Es bedeutet mir sehr viel, mit dir ein Weilchen hier zu sitzen und ein paar ruhige Augenblicke zu genießen, Adda. Früher bin ich täglich hier hergekommen, aber mit den Jahren wird es immer seltener, dass ich mir die Zeit dafür genehmige. Nun, manchmal brauche ich es... Hier kann ich Kraft schöpfen, für kurze Zeit all die lästigen, albernen Zänkereien meiner Mitmenschen vergessen, mit denen ich mich als Richter herumschlagen muss, weißt du? Hier vergesse ich Kleinkrieg und Nachbarschaftsfehden all der Leute, die mir mit ihren lächerlichen Streitigkeiten das Leben vergällen. Jetzt ist es wohl schon Wochen, nein Monate her, dass ich das letzte Mal hier gewesen bin. Zu dumm, nicht? Und dabei finde ich das Leben so lebens- und liebenswert, wenn es so beschaulich dahinfließt wie das Wasser des Sielers, das unseren Burggraben speist. Sieh’ dich um, mein Kind. Hier bist du zu Hause und hier bist du geboren, oben in der Kemenate, wo du jetzt wohnst. Ich hoffe, dass du hier glücklich sein wirst, in diesen dicken, alten Mauern, die dich beschützen werden, genauso, wie eine Glucke ihr Küken.” Er lachte leise, aber seine Stimme verlor nichts an Ernsthaftigkeit.
Ja, der Vater mochte Recht haben. Die Burg wirkte stark und warm und irgendwie... Adda suchte nach einer passenden Bezeichnung für das Gefühl des Beschütztseins, welches sie beim Anblick der Kennenburg überkam. ‚Heimatlich’ mochte vielleicht der richtige Ausdruck sein. Aber auch das gab nicht treffend ihre Empfindungen wieder, denn da war auch ein gewisses Unbehagen, ein Gefühl von Gefangenschaft. Das Brot war aufgebraucht; die Enten schwammen ruhig auf und ab, harrend, ob noch mehr Futter nachfolgte, tauchten dann gründelnd ins Wasser hinunter als die beiden Menschen fortgingen.