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Kapitel 3 Die Schnappe

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Der Weg dorthin nahm nur geringe Zeit in Anspruch. - Der Wirt, ein hagerer, unfreundlicher Kerl, entfachte auf Kenos Geheiß die schon fast ersterbende Glut im Kamin, so dass Hima Kenos Rock dort aufhängen und trocknen lassen konnte, bis sich der meiste Schmutz abbürsten ließ. Man trank derweil heißes Bier mit Honig und vertilgte einen Berg von Schmalzbroten. Der Bucklige packte bedächtig seinen zweiten Rock aus. Erstens brauchte er ihn selbst, nachdem er so unsanft im Straßenschlamm gelandet war und zweitens hätte der alte Häuptling unmöglich dieses kunterbunte Flickengebilde anziehen können, abgesehen von der unausweichlichen Tatsache, dass ihm der Rock kaum gepasst hätte. – Ein gewagter Narrenstreich, dieser Vorschlag. Von nun an übte der Bucklige vorsichtige Zurückhaltung, denn die Angst hockte ihm im Nacken, und der alte Häuptling tat absichtlich nichts, das zu ändern. Aus diesem Grunde blieb die Stimmung recht gespannt, auch noch, als man sich wieder auf den Weg nach Broke machte. Kaum jemand sprach ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Der Abend dämmerte schon herauf und vor der lodernd verglühenden Sonne erhob sich auf einer leichten Anhöhe eindrucksvoll die Burganlage. Eine massige, dunkle Silhouette – schicksalsgleich.

Der Alte zügelte sein Ross, um das erhebende Bild auf seine Enkeltochter wirken zu lassen: „Das ist die Kennenburg, meine Burg.” Stolz schwang in seiner Stimme. „Dein Vater spricht freilich immer nur von Broke. Aber für dich, mein liebes Kind, für dich soll es die Kennenburg sein, die Burg der Königsrichter. Sieh' sie dir gut an, mein Kind. Sie ist das Symbol unserer Macht. Die Burg überdauerte die Kämpfe von anderthalb Jahrhunderten und mehr. Sieh es dir gut an, dieses Bollwerk, dieses Wahrzeichen unseres Geschlechts.“

Ja, Adda verspürte wirklich Neugier bei Anblick der Burg. Was alles mochte sich hinter diesen dicken Mauern verbergen? Davon sprach ihr Großvater jedoch nicht, sondern erzählte von den verheerenden Sturmfluten alter Zeiten, in denen es keine andere Möglichkeit gab, als vor den unbezwingbaren Gewalten der Natur die Waffen zu strecken.

„Deichbau nämlich, so wie wir ihn heute kennen und betreiben, gab es anno dazumal noch nicht“, erklärte Keno. „Damals baute man noch sein Haus auf eine Warft, und wenn das Wasser kam und stieg und stieg, dass man im Hause nasse Füße bekam, kletterte man auf den Heuboden und weiter hinauf auf den First und manch einer verlor dabei sein gesamtes Hab und Gut und musste sich glücklich schätzen, das nackte Leben zu retten. Das Meer ließ den Menschen keine andere Wahl, als sich vor seiner Gewalt zurückzuziehen, denn wer will schon gern in der salzigen Flut ersaufen?” „Niemand”, antwortete Adda gedankenlos. Sie hatte kaum zugehört, total gefangen von dem herrlichen Bild, welches die untergehende Sonne zauberte. Jetzt schien der rote Sonnenball geradezu auf dem gewaltigen Wehrturm zu thronen. Gleich einer krönenden Aureole überstrahlte die glühende Scheibe die Zinnen der Festung.

Von Nebel umwallt, war solches Bild schon einmal vor Adda erstanden, erst vor wenigen Tagen... im Traum. Sie erinnerte sich genau: Die Fahne auf dem Wehrturm – umtanzt von Nebelschwaden; die langsam auf den breiten Mauern auf- und abschreitenden Wachen, deren graue Kettenhemden und Helme matt aufblitzten, wenn die Männer hinter den Zinnen hervortraten. Wie sonderbar, sogar den breiten Weg, der sie jetzt zur Burg führte, glaubte Adda in allen Einzelheiten zu kennen... Zuerst Sand, gesäumt von niedrigem Gebüsch, dann – das letzte Stück – kahl und ohne jegliches Gesträuch, mit Kopfsteinpflaster bis heran an die Zugbrücke.

Sonnenlicht vermag doch manchmal eigenartig zu täuschen, dachte Adda, denn plötzlich schien es ihr, als stünde die ganze Burg in Flammen... Jetzt jedoch, wo die Sonne tiefer sank, sah sie, dass die Einbildung ihr diesen Streich gespielt hatte. - Broke! Ihr Broke! Heimat und Zukunft. Immer würde sie hierher zurückkehren. Eines Tages würde sie sogar Herrin dieser Burg sein! Wenn das einen Menschen nicht mit Stolz erfüllen konnte, was dann?

Unterdessen berichtete der Großvater weiter... Seine Worte flogen an Adda vorüber wie der sie umfächelnde, sanfte Frühlingswind. Das Emsland ist fruchtbarer und ertragreicher als das sumpfige Bruchland ihres Vaters? Das Brookmerland musste unter großen Mühen kultiviert werden? Nun gut, so sollte man es tun! „Also, wie ich schon sagte: Keno, was mein Großvater war”, hörte Adda, „ist damals Bürgermeister, Vogt und Richter in Norden gewesen. Als dieser alte Richtersitz hier zum Verkauf stand, erwarb er ihn. Das ist unsere Kennenburg. Sie bildet den Grundstein, den Pattstock gewissermaßen, über den wir uns emporgeschwungen haben zur mächtigsten Familie unter all den edlen und reichen Sippen diesseits der Ems.“ Keno lachte dunkel. „Nein, eigentlich stimmt das nicht. Wir waren schon vorher die mächtigste und reichste Familie hier, sonst hätten wir den ehemaligen Gerichtshof gar nicht erwerben können. Sitte und Brauch erlauben es nicht, dass ein Gerichtshof in unwürdige Hände übergeht. Verstehst du?”

„Ja klar, verstehe.” sagte Adda, Aufmerksamkeit heuchelnd.

„Feststeht zumindest, dass wir die mächtigste Burg im Brookmerland besitzen, heute wie damals und so Gott will, bleibt das auch so. Der Bischof von Münster hat noch ein Steinhaus hier in der Nähe und in Utengrahove, aber die zählen fast gar nicht, so klein wie die sind.”

Dem Schenkeldruck seines Herrn folgend, setzte sich das Pferd wieder in Bewegung. Der Alte nutzte die Gelegenheit, seine Enkeltochter, die vor ihm auf dem Hals des Tieres saß, ein wenig an sich zu drücken. Welch warmes Glücksgefühl durchströmte den alten Mann! Keno spürte schon jetzt, dass er seine kleine Enkelin sehr lieb gewinnen würde. Und wenn er sich recht besann, so glaubte er sich gut zu erinnern, dass diese Zuneigung bereits begonnen hatte, als er das winzige Mädchen zum ersten Mal im Arm gehalten, als der zarte Flaum ihrer damals noch dunklen Haare seine Wange gestreift hatte, so wie heute die blonde Haarsträhne sein Gesicht streichelte. Sein Enkelkind Adda! Das einzige, das bei ihm auf der Kennenburg wohnen, mit ihm zusammen leben würde – zumindest bis zur Verheiratung. Und er schwor sich, seine Hand über sie zu halten, bis zu seinem letzten Atemzug.

Weit hinter sich, von irgendwoher auf der schlammigen Straße, aus Knickwällen und Gestrüpp heraus, hörte Adda das Geschrei des geschundenen Esels und das Gemähre der alten Hima, die lautstark kundtat, welch schreckliche Qualen sie erdulden musste. Die Ärmste wird wohl ganz durchgeritten sein, dachte Adda mitleidig und überlegte, was zu tun sei, um ihre Schmerzen zu mildern.

Rasch brach Dunkelheit herein, und die Burg stand da wie ein ungeheurer schwarzer Schatten, geheimnisvoll, bedrohlich sogar. Adda fielen plötzlich all die gruseligen Geschichten ein, die man über ihren Vater erzählte. Keine schönen Dinge waren das, von denen man sprach. Der Häuptling, so hieß es, zeichne sich aus durch absolute Gesetzestreue. Er kenne nicht Milde, nicht Gnade, zeige kein Verständnis, würdige nicht Reue. Sein Herz ist wohl von Stein, dachte Adda, und es schauderte sie ein wenig vor ihrem Vater.

Sie hatten jetzt die Zugbrücke erreicht, die allein den Zugang über den breiten Wassergraben zu den Gebäuden ermöglichte. Sie führte zum Torhaus, dessen dicke schwärzlich bemooste Ziegelmauern aus dem dunklen, brackigen Wasser emporzuwachsen schienen. Bewusst erinnerte Adda sich nicht mehr daran. Jetzt aber, so unmittelbar dem gewaltigen Steinhaus, dem breiten Wassergraben gegenüber, kroch die Erinnerung in ihr hoch. In ihren Träumen war die Burg immer wieder aus den Tiefen ihres Gedächtnisses aufgestiegen. Schicksalhaft ragte sie nun vor ihr auf. Überflüssigerweise schrie Keno dem Torwächter die Parole zu: „Bohnen mit Speck!” Adda musste darüber lachen und fragte nach, ob sie der Speck sei. - Eisenketten rasselten; quietschend und knarrend senkte sich die Brücke, krachte auf den Balken. Keno trieb sein Pferd an. Dumpf dröhnte der Hufschlag auf dicken Eichenbohlen als sie den düsteren Tunnelbogen des Torhauses durchquerten. Erschreckend das hochgezogene Torgitter mit den zu Boden gerichteten Eisendornen. Wehe dem, der darunter gerät! Bei diesem Gedanken stieg unwillkürlich Übelkeit in Adda auf. Düster auch der flintsteingepflasterte Burghof. Düster, weil vollkommen von Mauerwänden und fensterlosen Gebäuden umgeben. Kein einziger Baum im Hof, kein Efeu rankte sich am Mauerwerk empor, nirgendwo eine Blume. Fast verwundert bemerkte Adda, dass etwas Moos und Gras zwischen Steinfugen und auf Mauervorsprüngen wucherte.

Mitten im Hof stand ein Feuerbecken. Armlang ragten einige Eisenstangen daraus hervor. Selbst die spärliche Glut, aus der sich schwerfälliger Rauch emporwand, wirkte unheimlich. Womöglich dient das Feuer weniger zur Beleuchtung als vielmehr dem Zweck, einem Sünder ein Brandzeichen... Adda mochte den Gedanken nicht weiterführen, denn da gab es etliche grausame Strafen. Ihren verschreckten Blick bemerkend, erklärte Addas Großvater, dass sei für die Jungstiere, die ihr Brandzeichen bekommen hätten. - Nein, sonderlich einladend wirkte die Burg nicht, aber das verlangte wohl auch niemand. Sie war der Wohnsitz des zuständigen Strafrichters für diesen Beritt, ein Trutz- und Schutzbauwerk. Dass die Burg diesem Zweck entsprach, hatte sie schon häufig bewiesen. Lange Pech- und Ölnasen, von den Schießscharten des Burgturms hinunterreichend bis fast zur Erde, zeugten davon. Zweifellos hatte es sich auch als nützlich erwiesen, dass die zum Hof gerichteten Gebäude keinerlei Fenster besaßen. Hierdurch wurde es Feinden, die bereits den schützenden Wassergraben überwunden und den Burghof erreicht hatten, fast unmöglich, in die Burgstätte selbst einzudringen.

Ein schmuddeliger Stallknecht kam gerannt, Keno behilflich zu sein. Bald darauf füllte sich nach und nach der ganze Burghof mit Bediensteten. Feierlich nahm das Gesinde Aufstellung, hier Mägde - dort Knechte. Verstohlenes Wispern, mühsam unterdrücktes Husten. Mägde stopften unordentliches Haar unter frisch gestärkte Hauben, strichen blau weiß gestreifte Schürzen glatt, versteckten schmutzige Hände hinterm Rücken.

Auf der anderen Seite in Reih und Glied die Knechte - eifersüchtig darauf bedacht, ihren rangentsprechenden Platz zu verteidigen. Angesichts des Gerangels musste Adda lächeln. Von beiden Seiten betrachtete man sie verstohlen, aber mit kaum verborgener Neugier. Ein Knecht hob sie auf Kenos Geheiß vom Pferd, setzte sie am Brunnen ab. Da kam sie sich furchtbar verloren vor. Unter den vielen prüfend auf sie gerichteten Augenpaaren, stieg ihr sogar das Blut in die Wangen. Addas Großvater fragte nach seinem Sohn. Ja, wo bleibt Vater nur? Warum erschien er nicht, seine Tochter aus ihrer peinlichen Lage zu erlösen? Suchend saugte Addas Blick sich an der Eingangstür des Wohnhauses fest. Er muss doch endlich heraustreten, uns zu begrüßen! Nun war schon fast vollends die Dunkelheit hereingebrochen. Wo, um Gottes Willen, bleibt er nur?! Wie lange muss ich hier noch stehen und warten? Hinter sich Hufgetrappel und Adda dachte, dass Hima ist nun wohl endlich eingetroffen sei, aber eine dunkle Männerstimme fragte streng: „Wer hat den Volksauflauf bestellt? Habt ihr nichts zu tun?”

Alle Blicke flogen Richtung Torhaus.

„Der Herr Keno, Herr”, antwortete von irgendwoher jemand kleinlaut. „Vater, du? Ist das nötig? Na gut..., wie du meinst...” Das Pferd mit der großen hageren Gestalt darauf näherte sich langsam. „Nun denn, das ist also meine Tochter Adda... Heißet sie willkommen und dann zurück an eure Arbeit.”

Das Gesicht ihres Vaters unter dem großen Hut konnte Adda nicht erkennen, aber aus dem Unterbewusstsein heraus stieg verschwommen sein Bild in ihr auf, ausgelöst durch die bekannte Stimme. Im Alter von fünf Jahren war Adda von hier fortgebracht worden, und jetzt zählte sie immerhin gut vierzehn. Dennoch glaubte sie plötzlich, das Gesicht ihres Vaters zu kennen - schmal, hart, helle Augen unter buschigen Brauen, blondes Haar, streng geschnitten.

Eine Magd hieß Adda mit althergebrachten Worten willkommen, stotternd vor Aufregung, reichte ihr Brot und Salz und einen Krug Bier, stellte der Reihe nach Mägde und Knechte vor. Nachdem Adda in wohlgesetzten Worten gedankt hatte, eilte das Gesinde zurück an die Arbeit. Einige Knechte steckten noch Fackeln in die Halterungen an den Mauern, dann verschwanden auch sie. Gespenstisch flackerte das Licht, ließ unheimliche Schatten über die Wände huschen.

Mittlerweile vom Pferd gesprungen, nahm Ihmel seine Tochter ohne viele Umstände in den Arm, küsste sie mitten auf den Mund und meinte knapp: „Du wirst schon zurechtkommen. Ich hab’ noch zu tun.” Noch ehe Adda überhaupt seinen Gruß erwidern, ehe sie ihn mit Verstand ansehen konnte, war er schon im Haus verschwunden.

„So ist er nun mal”, entschuldigte Keno seinen Sohn. „Immer in Eile, immer etwas vor. Nimm ihn wie er ist, dann wirst du gut mit ihm auskommen. Komm, Adda. Deine Kammer ist gewiss gerichtet. Ich werde dir eine Magd beigeben, die dich betreut, bis deine Hima da ist.”

Ja, Hima, wo bleibt sie nur? Adda geriet in Unruhe. Zur Nacht durfte man als Frau nicht unterwegs sein. Zu viel Diebsgesindel und schlimmere Verbrecher trieben sich auf der Suche nach geeigneter Beute herum. Der bucklige Ubbo, mochte er auch kräftig sein, dürfte einer alten Frau kaum ausreichenden Schutz bieten.

Unendlich weit schien Adda der Weg zu ihrer Kammer. Die albern kichernde Magd führte sie über kalte Flure treppauf - treppab. Zudem hatte die dumme Magd keine Fackel dabei und es war zumeist stockfinster. Der jedoch schien die Dunkelheit nichts auszumachen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit eilte sie voraus, während Adda sich mühsam an den feuchten Wänden entlang tastete. Einmal stolperte sie dabei über einen schlafenden Knappen, ein paar Mal über Hunde, Katzen, Abfälle oder dergleichen. In der Finsternis war es kaum auszumachen, worauf sie gerade trat. Nur die empörten Lautäußerungen von Mensch oder Tier gaben nachträglich darüber Auskunft. Wie bei einem Blinde-Kuh-Spiel, irrte Adda hinter der Magd drein. Sie glaubte schon, die junge Frau halte sie zum Narren, denn so groß konnte doch die Burg unmöglich sein. Und als sie schon meinte, wohl niemals ans Ziel zu gelangen, öffnete die Magd endlich eine niedrige Kammertür, trat einen Schritt zurück und kicherte albern: „Da ist es.”

Feuerschein tanzte über gekalkte Wände und muffig-feuchte Wärme schlug Adda entgegen. Ansonsten ein hübsches Kämmerlein, bescheiden eingerichtet, aber mit frischer Streu auf dem Fliesenfußboden und einem einladend aufgemachten Alkoven. Was begehrte das Herz mehr? Nichts, denn noch nie im Leben hatte Adda das Privileg eines eigenen Kämmerleins genossen. So schien ihr die kleine, schräge Kemenate mit dem winzigen, jetzt allerdings zugestopften, Ausguckfenster geradezu paradiesisch. Dazu dieser wundervolle Alkoven mit frischem Strohsack und einem wolkenweichen Federbett! Himmlisch! So also würde sie von nun an leben. In Saus und Braus, herrlich und in Freuden!

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