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Kapitel 15 Sommersonnenwende
ОглавлениеAn jenem Juniabend anno 1372 lodern die roten Flammen der Pechtonnen, welche die Ecken des Festplatzes markieren, zu einem dunkelsamtenen Himmel empor. Unterhalb der Burg, auf der großen Wiese, tummelt sich bereits das Jungvolk in fröhlichem Reigen. Der Abend ist herrlich warm und duftet nach Gras und Heu, und es riecht nach dem röstenden Hammelfleisch und nach Baumharz, Rauch und Pech. Musikanten spielen auf mit Dudelsack und Flöte. Jung und Alt singt und lacht. Die unverheirateten jungen Mädchen tragen geflochtene Kränze aus Johanniskraut im Haar.
Feierlich singend, Pechfackeln in den Händen, schreitet das Burggesinde hinunter zur Festwiese. Keno tom Brook führt hoch zu Ross den Zug an, hinter ihm reitet Ihmel mit seiner Tochter Adda. Sie umrunden den Reisighaufen bis sich der Fackelzug „in den Schwanz beißt“. Da hebt Ihmel tom Brook die Hand; die Leute bleiben stehen.
„Eala frya Fresena!” begrüßt der Häuptling sein Volk und laut schwingt das „Eala frya Fresena!” – „Oh, freie Friesen!” – getragen von leichter Windbö zurück. Ihmels Schimmel tänzelt überreizt und erschrocken zur Seite. Das Volk drängt heran an den Kreis der Fackelträger. Das traditionelle Lied erklingt. – Auf Ihmels Zeichen läuft einer der Knechte mit der Pechfackel zu dem sorgsam geschichteten Reisigstoß. Feierlich entzündet er das Johannisfeuer; die übrigen Knechte tun es ihm nach. Zögernd züngeln die Flammen an dem trockenen Reisig empor bis sie sich, entfacht von der lauen Meeresbrise, in glühender Gier in den Holzstoß fressen. Die Hitze treibt die Menschen zurück. Junge Männer machen sich bereit, mit dem Pattstock über das Johannisfeuer zu springen.
Funkenspeiend wirft das Feuer seine heiße Lohe in den dunklen Himmel. Die Menge schreit auf, begeistert von diesem herrlichen Anblick. Im gleichen Augenblick bäumt sich jäh Ihmels Hengst auf. Vergebens fischt der Häuptling nach den entglittenen Zügeln. Seine Hände krallen sich instinktiv in die üppige Mähne. Zwei, drei Mal steigt steil der Hengst, rast plötzlich in voller Karriere um den Scheiterhaufen herum in die zurückweichende Menschenmauer. Schreckensschreie treiben das Tier zurück. Es dreht sich auf der Hinterhand, sein Reiter stürzt; der weiße Hengst rast weiter, schleift Ihmel mit sich, der sich mit dem Fuß im Steigbügel verfangen hat. Schrill wiehernd, wie von Furien gehetzt, jagt das Pferd auf den Flammenberg zu, reißt den Häuptling hinter sich her durch das hohe Gras. Mutige Männer springen beherzt hinzu. – Nervös tänzelt Addas Stute; der alte Keno packt mit einer Hand ihre Zügel, hält das Pferd mit eisernem Griff ruhig. Mit aufgerissenen Augen folgt Adda dem entsetzlichen Schauspiel, starrt wie gelähmt auf die schaurige Szene, die sich, feurig beleuchtet von einem gewaltigen Flammenmeer, vor ihren Augen abspielt. Einem der Männer gelingt es, sich an den Hals des Pferdes zu klammern. Ein anderer wird, getroffen von den Hinterhufen, in den Scheiterhaufen geschleudert, der funkenspeiend seinen glutheißen Rachen aufsperrt. Unfähig, zu schreien, presst Adda die Hand auf den Mund. Schon kommt der Kerl gleich einer lebenden Fackel aus dem Feuer getaumelt, fällt zu Boden, wälzt sich im feuchten Gras. – Ein Entsetzensschrei durchschneidet markerschütternd die Nacht. In blinder Panik rennt eine Frau hin zu dem Mann, wirft sich auf ihn, um mit ihrem Leib die Flammen zu ersticken. Kräftige Männerhände reißen sie zurück. Aber schon haben ihre langen Haare Feuer gefangen. Helfende Hände werfen Mäntel über die Frau und den immer noch gegen die Flammen kämpfenden Mann.
Ein Pfeil schwirrt durch die Luft, bohrt sich in den weißen Bauch des Hengstes. Dunkel quillt Blut aus der Wunde. Wild bäumt sich das verletzte Tier auf. Der Mann an seinem Hals verliert den Halt, stürzt, rollt sich blitzschnell zur Seite, um den tödlichen Hufen zu entgehen. Ein Funkenregen geht nieder. Das Pferd schießt vorwärts, noch immer den Häuptling mitschleifend. Erneut zischt ein Pfeil von der Sehne, durchschlägt den Hals des Hengstes. Schrill wiehernd stürzt das zu Tode getroffene Tier, begräbt Ihmel tom Brook unter sich. Sein grauenhafter Schrei übertönt das Kreischen der Weiber, das Krachen des Holzstoßes, die herausgebrüllten Befehle des alten Keno. In Intervallen schießt Blut aus dem Pferdehals. Das Pferd schlägt wild mit den Hufen, versucht verzweifelt auf die Beine zu kommen, will sich auf den Bauch wälzen, aber es gelingt nur halb, so dass es mit voller Wucht zurückfällt auf Ihmel tom Brook. Grausig gellt sein Schrei in Addas Ohren. Fürchterlich ist der Todeskampf des Pferdes. Immer wieder versucht der Hengst sich aufzurichten, stürzt wieder und wieder zurück auf den Häuptling. Endlich bereitet jemand mit gezieltem Speerwurf dem furchtbaren Kampf ein Ende.
Stille – unheimliche Stille – kein menschlicher Laut – kein Nachtvogel – keine Grille – nur Knistern, Puffen, Knacken im Scheiterhaufen. Überstürzt rutscht Adda aus dem Sattel, fällt auf die Knie, spring auf, rennt zu ihrem Vater. Sie spürt nicht den Schmerz im Knie, nicht den glühenden Feueratem, nicht die gierigen Flammenfinger, die sich nach ihren Haaren ausstrecken. Verzweifelt versucht sie, den Pferdeleib wegzudrücken, schiebt und zerrt wie besessen an dem leblosen Pferdekörper. „Hilft mir denn niemand! Warum hilft mir niemand?!” schreit sie. „Mein Vater liegt da drunter! So helft doch! Vater! Vater! Seht ihr denn nicht?!” Sie deutet mit ihren blutverschmierten Händen auf ein Bein, das unnatürlich abgewinkelt unter dem Pferd hervorragt. Jemand packt sie grob am Arm, zieht sie mit Gewalt zurück: „Komm, das ist nichts für dich..., du kannst nichts mehr für ihn tun”, hört Adda eine Stimme sagen. Sie will es nicht glauben, kann es nicht glauben, und doch hat sie das Unglück mit eigenen Augen gesehen.
„Es ist aus? Vorbei?“ flüstert sie tonlos; und ohne sich dessen bewusst zu sein, stürzen Tränen über ihr Ruß verschmiertes Gesicht. „Ich bringe dich zurück”, sagt jemand zu ihr. Adda hat nicht die Kraft, sich dagegen aufzulehnen, lässt sich auf die Burg zurückbringen.
Die Ereignisse überstürzen sich. Adda scheint alles ein schrecklicher Alptraum! Man führt sie in den Prunksaal. Da liegt ihr Vater, aufgebahrt vor dem Hauptkamin. Sein prächtiges Häuptlingsgewand schimmert mattgolden im Licht der vielen Kerzen. Irgendwer hält Totenwache – sechs oder acht Freunde von ihm. Adda bemerkt sie kaum. Sie sieht nur sein Gesicht – Vaters Gesicht – ungewöhnlich scharf geschnitten... Aber irgendwie... rosig, ohne jegliche Verletzung. „Er schläft”, murmelt Adda, „er schläft. Nicht wahr? Er schläft doch?” „Ja, für immer, Kind.” Wer hat das gesagt? Das stimmt doch nicht! Nein, das ist das Antlitz eines Schlafenden, nicht das eines Toten. - Das warme Kerzenlicht haucht Leben in sein Gesicht. - Er schläft..., schläft in stiller Ruh, ist in Gottes Schoss eingeschlafen. Sogar den Mund hält er etwas geöffnet, wie immer, weil er durch die Nase nicht genug Luft atmen kann. – Aber was ist das, was dort so dunkel in seinen Mundwinkeln klebt? Und an seinen oberen Zähnen? – Blut ist das! Adda erschauert. Wo kommt das her? Warum blutet er? Ach ja, er ist vom Pferd gestürzt, deswegen... Tante Elbrig nimmt Adda zur Seite. Tante Doda steht auch da und schluchzt in einem fort. Adda kann nicht weinen. Warum nur weinen sie alle? Das müssen sie doch nicht. Er schläft ja nur!
Zwölf Häuptlinge heben die Bahre auf, tragen sie hinaus. Benommen folgt Adda ihnen nach. Großvater hält seine knotigen Hände gefaltet und murmelt unablässig Gebete. Auf dem Hof steht das Gesinde Spalier. Adda sieht die zuckenden Gesichter der Mägde; sie lieben ihn wohl sehr. – Mit zu Boden gesenkten Lanzen erweisen die Knechte ihrem Häuptling die letzte Ehre. Adda blickt in starre Maskengesichter, in feuchte Augen. So sind sie also alle traurig... Dumpf dröhnen ihre Schritte auf den Holzbohlen der Zugbrücke. Das noch vor wenigen Wochen mit Blumengirlanden geschmückte Torhausportal ist nun umhüllt von schwarzem Trauertuch. Bleich und schmal, dichtauf hinter den betenden Mönchen, folgt Adda an der Seite ihres Großvaters der Bahre. Sie blickt hinunter auf den dunklen Wasserspiegel des Burggrabens. Die eifrig nach Nahrung tauchenden Enten erinnern sie an ihren ersten Tag auf Broke nach langen Jahren im Auricherland. Am ersten Tag, da hatten sie zusammen Enten gefüttert, sie und ihr Vater, und später noch so manches Mal. Das ist unwiederbringlich vorbei...
Weiter führt der schwere Weg über die ‚Wilden Äcker’ zum Dom von St. Marien durch eine Gasse scheu zurückweichender Menschenleiber. Die Bevölkerung von ganz Brookmer- und Auricherland scheint von ihrem Häuptling Abschied nehmen zu wollen. Schon seit Sonnenaufgang stehen sie da, dicht gedrängt – Männer, Frauen, Kinder, Arme, Reiche – und warten auf den Trauerzug. Verstört wimmernde kleine Kinder krallen sich in die Röcke ihrer Mutter; Kinder, die nicht wissen, warum sie hier stehen müssen und warum ihre Mutter weint. Kinder, die so müde sind, dass ihre kleinen Beinchen sie kaum noch tragen können.
„Er ist trotz allem ein guter Mensch gewesen”, hört Adda jemanden wispern. Ja, denkt sie, ja, ein guter Mensch... „Wie schön er aussieht.”- Eine junge Frau war das, und Adda lächelt ihr dankbar zu. Die Leute schließen sich dem Trauerzug an, ebenso die Klageweiber. Die haben sich Asche auf den Kopf gestreut und tragen zerfetzte Kleider und sie schreien und wehklagen und weinen...
Zarte Nebelschleier schweben über dem Moor, so wie Ihmel es geliebt hat. Es scheint, als ob selbst das Moor den Häuptling zu letzten Male grüßen will. Fliegen umschwirren den Toten, und widerliche dicke Brummer setzen sich auf sein Gesicht. Hilflos muss Adda zusehen...
Der Sitte gemäß führt man die Totenbahre ein Mal um Kirchhof und Kirche, ehe der Kondukt durch den südlichen Eingang, die Brauttür, die Basilika betritt. Die Glocke von St. Marien dröhnt in Addas Ohren. Dumpf schwingt ihr Klang über das Land. Und es ist ihr, als ob sie klagend riefe: „Trau...er, Trau...er, Trau...er”
Da steht es, das schwarze Trauergerüst, geformt wie das Domdach von St. Marien, besetzt mit hundert brennenden Kerzen, die überragt werden von einer Vielzahl von Ebenholzkreuzen. Die Totenbahre wird darunter platziert. Adda starrt auf die schön bemalte Stirnseite des Trauergerüsts, wo der brook’sche Adler golden auf rotem Grund seine Schwingen ausbreitet. Ihr Blick irrt durch die Kirche und zurück zur Totenbahre. Dort liegt ihr Vater, ihr geliebter Vater - eingeknotet in ein Totenlaken, bedeckt von der brook’schen Fahne. Wann ist das geschehen? Wer hat das getan? Warum? Warum?... Sie will zu ihm, das Laken wegreißen, sich auf ihn werfen, ihn wachküssen! Aber jemand hält sie mit sanfter Gewalt auf ihrem Platz, zwingt sie auf die Knie, weil die Liturgie es verlangt. Qualvoll streckt Adda die Hände aus, will die Männer daran hindern, den Vater in den steinernen Sarg zu den Gebeinen seiner Frau zu senken. Nun gehört er wieder ihr, seiner geliebten Frau, die so früh von ihm gegangen ist.
Es folgt die feierliche Segnung des Sarges mit Weihwasser und Weihrauch. Immer lauter dröhnt die Stimme des Geistlichen im Gewölbe! Langsam wird der schwere, sorgfältig behauene Deckel aus Gelbsandstein über die Öffnung geschoben. Das schlurfende Geräusch schneidet in Addas Herz. Das alles ist doch nur ein böser Traum! Ein Alptraum! Das kann nicht Wirklichkeit sein! Schmerzhaft schreit Adda auf, als könnte sie damit die Qual dieses furchtbaren Alpdrucks verscheuchen.
Grausig kreischen die Chorknaben ihr Gotteslob... Haben sie jemals so schlecht gesungen? Lautes Schluchzen erfüllt den Dom. Und manch einer der Trauergemeinde weint weniger um den Verstorbenen als um dessen Tochter, deren Schmerz sie tief erschüttert.
Adda fühlt sich wie in einer anderen Welt, einer Welt der Finsternis und Kälte, während die Liturgie an ihr vorüberzieht, ohne dass sie auch nur Kenntnis davon nimmt. Sie bewegt gewohnheitsmäßig die Lippen, ohne zu beten. Sie kniet bis jemand sie hochzieht. Sie tritt ins Freie, ohne bemerkt zu haben, wie sie dorthin gelangt ist. - Aber die warmen Sonnenstrahlen, die fühlt sie auf ihrem kalten Gesicht, ihren kalten Händen und sie ist dankbar dafür...
Bis in die Seele erzitternd, selbst in Tränen zerfließend, starrt die wartende Menge auf Adda tom Brook. Erschüttert und gepackt zugleich gafft die Menge, kann den Blick nicht wenden von dem leidverzerrten Gesicht des jungen Mädchens. Die Trauerkleidung lässt es zerbrechlich erscheinen – eine sturmgebeugte junge Birke. Rotgeweinte Augen brennen in ihrem verwüsteten Gesicht. Das Mädchen scheint an seinem Schmerz schier zu ersticken, wirkt plötzlich uralt. Weiß umrahmt das über ihren Kopf gelegte Dodenlaken ihr kleines Gesichtchen und unterstreicht noch diese Wirkung. Mit zitternden Fingern hält Adda das Laken über der Brust zusammen.
Sie muss daran denken - absurd, aber gerade jetzt, in diesem Augenblick, erinnert sie sich, dass der Vater noch vor kurzem danach gefragt hat, ob sie nun endlich ihr Totenlaken fertig habe. Eigenhändig musste sie es nähen und auch noch eines zusätzlich für Folkmar Allena, ihren zukünftigen Mann, anfertigen. Wenn Adda eines Tages gestorben sein würde, dann sollte sie, so wollten es Sitte und Brauch, in dieses, jetzt Kopf und Schultern verhüllende Leichentuch eingeknotet werden.
Die Glockentöne erschrecken die Krähen, die im Turm nisten. Das klagende Geläut zerstört die Ruhe des Moores. Das Volk zerstreut sich, denn die Arbeit muss weitergehen. Zurück bleibt nur die stattliche Anzahl der Tröstelbier-Gäste, die nach dem Totenschmaus das ‚Fell versaufen’ will. Und das geschieht auch nach allen Regelnder Kunst. Angeekelt von dem Trinkgelage flieht Adda in ihre Kammer. Allein. - Müsste ich jetzt nicht eigentlich weinen? Ich kann es nicht, ich fühle mich so ausgebrannt, so leer... Sie denkt an die Horde betrunkener Trauergäste im Prunksaal, die das Tröstelbier wie Wasser in sich hineingießt. Wie roh diese Leute sind! Eben noch weinen und klagen sie, jetzt lachen und tollen sie! Sie können ihre Trauer ausblasen wie ein Kerzenlicht! Und ich? Bin ich anders als diese Menschen, die ich so verachte? Auch ich habe geweint und kann es nun nicht mehr... Sie muss plötzlich lachen; mein Gott, sie muss lachen, kann nicht an sich halten vor lauter Lachen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, wirft sich aufs Bett, und mit einem Mal wird aus ihrem hysterischen Gelächter ein schmerzhaftes Schluchzen und es rollen heiße, erlösende Tränen über ihr Gesicht...