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Kapitel 2 Keno Hilmerisna tom Brook
ОглавлениеDie Reise von der Burg Broke nach Aurichhove gestaltete sich für Keno Hilmerisna tom Brook recht beschwerlich. Noch aufgeweicht vom Frühjahrsregen, kam der alte Mann nur langsam auf dem matschigen Weg voran. Irgendwo in der Ferne rief ein Kukuk und er hielt inne, um zu lauschen und die Rufe zu zählen. Wie viele Jahre würden ihm auf Erden noch vergönnt sein? Natürlich war es Unsinn, zu glauben, dass der Ruf des Kukuks das offenbaren könnte, aber es war doch tröstlich, dass die Vogelrufe lange kein Ende fanden. Sonnenhell leuchtete der Besenginster, seinen typisch strengen Geruch verströmend. In dieser Gegend gehörte er zum Frühling, dieser unverwechselbare Duft, ebenso wie der nach aufspringenden Knospen, nach aufsteigender Lebenskraft in Baum und Gesträuch. Es roch nach sich erwärmender Erde, nach verdampfender Feuchtigkeit, nach Frühlingsblumen. Im Winter war das ganze Land zwischen Aurichhove und Emden – wie üblich – ein einziger großer See gewesen; immer ein wenig zugefroren, zu viel, um mit Booten befahren werden zu können, zu wenig für Pferdeschlitten. So hatte man den ganzen langen Winter nicht zueinander kommen können. Nun aber war diese trostlose Zeit vorüber – endlich! Ein Aufatmen ging nicht nur durch die Natur. Auch Keno tom Brook hatte schon lange voll Ungeduld darauf gewartet, denn er wollte seine Enkelin zurückholen auf die elterliche Burgstätte. Den Zieheltern freilich würde das missfallen – wegen des Geldes – aber das ließ sich nicht vermeiden. Es wurde Zeit, Adda zurückzuholen; eine Vierzehnjährige benötigte keine Zieheltern mehr. Wie mochte Adda sich entwickelt haben? Wie aussehen? So hübsch wie die Mutter? Oder eher herb wie der Vater? Seit Jahr und Tag hatte Keno seine Enkeltochter nicht gesehen, gab es doch wichtigere Dinge als sich um die Ausbildung eines Mädchens zu kümmern. Man schickte regelmäßig Geld an die Zieheltern – möglichst nicht zu viel – für das leibliche Wohl des Kindes. Alles Weitere lag in Gottes Hand. Ein Knabe, ja, der erforderte mehr Aufmerksamkeit. Aber so? Adda war schließlich nur ein Mädchen, wenn auch das einzige Kind seines jüngsten Sohnes Ihmel. - Sicher, Kenos Töchter hatten ihm genügend andere Enkelkinder beschert; Elbrig und Doda schätzten sich glücklich, mit insgesamt fünf Kindern gesegnet zu sein – vier davon sogar Knaben. Aber die gehörten letztendlich zu den Familien von Faldern und Greetsiel und zählten nicht für den Fortbestand der direkten Linie. Plötzlich jedoch gestalteten sich die Dinge um Adda derart, dass dem Mädchen wesentliche Bedeutung zukam, denn es war dazu ausersehen, das mächtigste Geschlecht des Emsigerlandes mit dem der tom Brook zu verbinden. Der alte Keno hatte Zeit seiner Herrschaft vergeblich versucht, Emsiger- und Brookmerland miteinander zu vereinen. Nun sollte es endlich seinem Sohn Ihmel gelingen, diesen Traum zu verwirklichen. - Kenos erstgeborener Sohn, Ocko, lebte in Italien als Heerführer. Condottiere nannte man das dort. Soweit der Alte wusste, blieb Ocko bislang unverheiratet und wohl auch ohne Nachkommenschaft. Dadurch stieg Adda also möglicherweise zur Erbtochter auf. Erbtochter, ja, wenn Ihmel nicht noch ein zweites Mal heiratete... Worauf wartete der Bengel eigentlich? Zehn Jahre Trauer um eine Frau, das reichte doch wahrhaftig! An geeigneten Bewerberinnen fehlte es nicht. Frauen gab es wie Sand am Meer... reiche Witwen oder jungfräuliche Erbtöchter. Worauf nur hoffte Ihmel? Die eine schalt er zu hässlich, die andere zu alt, die dritte zu jung, zu dumm, zu frech, zu arglos, zu einfältig... Auszusetzen gab es an jeder Frau etwas. Was suchte er denn? Einen Engel auf Erden? - Keno ließ seinen Blick über die weite Sumpflandschaft schweifen. Viel sandiger, mooriger Boden, der kaum Nutzen brachte, breitete sich vor seinen Augen aus. Die Arbeit von Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten würde benötigt, dieses Land trockenzulegen. Keno fühlte sich jetzt zu alt und besaß weder die Macht noch die Kraft, Pläne zur Trockenlegung des Sumpfes in die Tat umzusetzen, aber er nahm sich vor, mit seinem Sohn Ihmel die Sache durchzusprechen. Die gegenwärtige Sachlage, die in naher Zukunft Emsiger- und Brookmerland vereinte, musste eine passende Lösung finden lassen. Vielleicht im Verbund mit dem Zisterzienser-Orden? Zu viel Zeit vertat Ihmel mit unwichtigen Dingen, ließ sich von seinem Richteramt auffressen, statt den Häuptling hervorzukehren und seine Macht zum Nutzen aller einzusetzen. Zwar musste Keno seinem Sohn zugestehen, dass er sich sehr um die Norder Ländereien bemühte, aber das schien Keno nicht ausreichend. Die niedrigen Hammriche im Norderland bestanden zum Teil aus rotem Sand und Darg, dann wieder aus unfruchtbarem blauem Klei. Daran ließ sich ohnehin nichts ändern; zum Ackerbau nutzte dieses Land nicht, tat nur als Viehweide gute Dienste. Nach Ansicht des Alten verbiss Ihmel sich zu sehr in die Viehzucht, statt sich des vielen ungenutzten Landes zwischen Aurichhove und Emden anzunehmen. Manchmal – so wie gerade jetzt – bereute Keno es zutiefst, seinem Sohn Ihmel schon so früh die Macht übertragen zu haben. Dann vergaß er die Tatsache, wie krank er vor Jahren gewesen, wie sehr die Gicht ihm zugesetzt hatte, so sehr, dass er sich kaum aus eigener Kraft hatte fortbewegen können.
Der Alte beschloss, für sich und sein Pferd eine Pause einzulegen. Das Tier schäumte aus allen Poren. Nässe und tiefer Boden machten ihm schwer zu schaffen. Der niedrige Knickwall am Rande des Weges lud zum Ausruhen ein, und die Frühlingssonne hatte schon so viel Kraft - jetzt im Mai, dass Keno sich zu einem Nickerchen entschloss. Mit dem Rücken gegen eine alte, verkrüppelte Weide gelehnt, ließ er sein Gesicht von der Sonne liebkosen. Schön, so zu sitzen, den Duft des sprießenden Grüns einzusaugen und nichts zu tun! Das Pferd knabberte derweil die zarten Knospen der Weidenzweige ab, malmte genüsslich. Ruhe... Stille... und zwischen Wachen und Träumen ging einem so unendlich viel durch den Kopf. Man hörte das Summen der Insekten, das „Kiwitt” des Kiebitzes, das Glucksen und Zirpen im Moor, den jubilierenden Gesang der Lerchen... Man musste wohl hier geboren sein, so wie Keno, um dieses Land lieben zu können. Fremde Herren konnten das nicht, und er bezweifelte, ob sein Sohn Ocko dieses Land noch zu lieben vermochte, sollte er einmal zurückgekehrt sein aus Neapel. Unter südlicher Sonne, so schrieb Ocko seinem Bruder so manches Mal, sei alles viel leuchtender, die Farben strahlender, das ganze Leben bunter, die Sonne heller... Mit dem alten Vater führte Ocko keinen Briefverkehr, denn – wie er es formulierte – konnte und wollte Ocko ihm nicht die ungeheuren Bestrafungen und Demütigungen verzeihen, die er angeblich hatte erdulden müssen. Demütigungen! Der alte Mann schüttelte seinen Kopf, als wollte er die Erinnerungen verscheuchen, aber vielleicht störte ihn auch nur das Krabbeln des Marienkäfers auf seiner Wange.
Sein Sohn Ihmel war zweifellos ein Starrkopf, aber Ocko - sein Erstgeborener - ein Hitzkopf und eigensinnig wie ein Stier. Er hatte Ockos Eigensinn zu brechen versucht, ihn ins Verlies gesperrt, ihn hungern und die achtschwänzige Katze spüren lassen; aber Ockos Sinn verhärtete sich nur noch mehr. Und eines guten Tages war er auf und davon, einfach verschwunden. Ein ganzes Jahr oder länger mochte wohl ins Land gezogen sein, ehe man wieder ein Lebenszeichen von ihm bekommen hatte. Ockos Mutter hatte sich darüber zu Tode gegrämt. Nun ja, vorbei - Vergangenheit. Und dabei hatte Keno so große Pläne mit seinem ältesten Sohn gehabt... Na ja, ganz so übel war seine Stellung am Königshof von Neapel gerade nicht, wenn Keno ehrlich zu sich war. Der Königin Johanna jedenfalls schien Ocko unverzichtbar zu sein, als Diplomat ebenso wie als Majordomus.
Mit Kenos jüngsten Sohn Ihmel verhielt sich die Sache etwas anders. Als potentieller Nachfolger hatte er eine besondere Strategie im Umgang mit Menschen entwickelt. Er vermochte sich sehr gut anzupassen. Er verstand es, die Leute zu überzeugen, sie gar hinters Licht zu führen und er setzte sich überall durch - weniger mit Gewalt als durch seine Klugheit. Ihmel überzeugte durch Argumente - und gelang es ihm heute nicht, so morgen - und dann gab es da noch etliche andere Mittel einzusetzen... Oh ja, Ihmel verstand sein Handwerk! Dadurch war es ihm auch gelungen, den mächtigsten und reichsten Häuptling des Emsigerlandes – Folkmar Allena – zu einer Ehe mit seiner Tochter Adda zu bewegen. Dies schien Keno der klügste Schachzug, den Ihmel je vollbracht hatte. Auf diese Art und Weise gelang es endlich, Brookmer- und Emsigerland wieder zu vereinen, so wie es in früherer Zeit einmal gewesen war. Dies bedeutete einen ersten großen Schritt voran zu dem hehren Ziel, Ostfriesland unter eine Herrschaft zu bringen - unter die des Hauses tom Brook. Keno freute sich so sehr darüber, dass seine hellen Augen funkelten und er zufrieden ein Liedchen pfiff.
Zeit, weiterzureiten. Der ausgeschickte Bote, der seiner Enkelin die Nachricht zur Rückkehr nach Broke überbringen sollte, befand sich sicherlich schon auf dem Heimweg. Keno kratzte sich den weißen Haarkranz, band sein Pferd los, saß auf, nachdem er dem Tier freundlich den Hals geklopft hatte. - Seine Enkeltochter würde sich gewiss nicht lange bitten lassen und stehenden Fußes aufbrechen nach Hause, nach Broke. -
Von fern drang unverkennbar Lärm und Gesang wandernder Gaukler an sein Ohr. Das mochten die Leute sein, die Ihmel nach Broke eingeladen hatte, um die Rückkehr seiner Tochter gebührend zu feiern. Der Junge wirft manchmal das Geld zum Fenster ‘raus, dachte der Alte bitter und hielt Ausschau nach dem fröhlichen Völkchen. - Richtig, nicht lange, da trat es aus der Wegbiegung hervor; ein buntes Häuflein Menschen, das unter He und Ho ein armseliges Grautier vorwärts zog und schob, auf dem eine füllige Person zeternd und zappelnd hing, denn als sitzen konnte man das nicht bezeichnen. Das arme Tier konnte einem fast Leid tun, so schwer war es beladen, nicht nur das schwergewichtige Weib, sondern zudem noch gewaltige Gepäckstücke musste es tragen. Und die Alte greinte, dass einem angst und bange werden konnte. Offenbar wollte sie absitzen, aber man ließ sie nicht. Ein kleines Kerlchen, bucklig und krummbeinig, tanzte um die Gruppe herum, einen buntbebänderten Schellenstab schwenkend. Und unter all dem Geschrei und Glöckchengebimmel, dem Gelächter und durchdringenden Protestgeschrei des Esels erklang deutlich eine helle Mädchenstimme. Seinen Braunen verhaltend, lauschte Keno. Schön, nickte er. Schon lange niemanden mehr so schön singen gehört. Diese Mädchenstimme – so rein und klar, so froh und jubilierend! Es schien, als stimme die Natur in das geträllerte Lied mit ein. - Mittlerweile war das muntere Völkchen herangekommen. Das krumme Kerlchen schlug – ungeachtet des Straßenschlamms – ein Rad nach dem andern, um dann Keno tom Brook ehrfurchtsvoll seine Huldigung zu erweisen und ihm gleichzeitig die Narrenkappe unter die Nase zu halten, damit er eine Münze hineinwerfe.
„Geld willst du? Ich hab keinen Groschen!” rief Keno, lachend einige Nüsse in die Kappe werfend. Er pflegte stets Nüsse dabeizuhaben, für den eventuellen Hunger.
Unterdessen war die Mädchenstimme verstummt und – bei Gott – es musste wohl doch ein Knabe gewesen sein, der da gesungen hatte, denn ein Mädchen befand sich nicht bei der Gruppe. Nur ein schmächtiger Bengel in reichlich geflickten Kleidern von vielleicht 12 oder 13 Jahren stand herausfordernd lachend vor ihm:
„Er braucht keine Brook’sche Sware, Herr! Mein Vater wird ihn fürstlich entlohnen.” Und zu dem Kerlchen gewandt: „Komm her, Ubbo, dass du nicht seine Peitsche zu spüren bekommst. Der hohe Herr schaut gar so angriffslustig drein. Sieh’ nur, wie die Peitsche in seiner Hand zuckt, wie die Schlangenzungen einer Geißel. Du hast ihn in Wut gebracht, den hohen Herrn.”
Wütend? Er? Noch nie fühlte Keno sich so gut gelaunt wie heute, wie gerade jetzt! „Her zu mir, Jungs! Ihr bekommt euren Lohn”, rief Keno ungeduldig.
„Ihr wollt mich schlagen? So versucht Euer Heil! Mir macht es nichts. Er ist es gewöhnt, mein Achtersteven...” Herausfordernd bot der Bub seinen arg geflickten Hosenboden dar: „Vielleicht wollt Ihr es einmal dort versuchen?”
„Herrgott! Ich will niemanden schlagen! Dreh' dich endlich zu mir herum, damit ich dich belohnen kann!” Mit heftiger Handbewegung riss Keno ihm ungeduldig die Mütze herunter, um ein paar Nüsse hineinzuwerfen. Und siehe da! Eine Flut blonder Haare floss daraus hervor, ergoss sich in Ringeln über Schultern und Rücken bis hinunter zur Taille. Der überraschte Keno brachte nur ein erstauntes „Oh!” heraus, während sich der vermeintliche Bub ausschütten wollte vor Lachen.
Die Frau auf dem Grautier hatte sich bisher bescheiden zurückgehalten, glaubte aber nun, das Mädchen in Schutz nehmen zu müssen. Gar zu bedrohlich schien ihr die gegenwärtige Lage, denn Herrschaften sind manchmal so ungerecht. Unterdessen bemühte sie sich, von dem bockigen Grautier abzusitzen, was absolut nicht gelingen wollte, da sich ihre umfangreichen Röcke beiderseits in dem festgezurrten Gepäck verfangen hatten. Verhalten schimpfte sie, warum ihr keiner zu Hilfe eile, und dass sie sich noch die Knochen brechen werde, aber das sei wohl allen gleichgültig. Als es ihr schließlich und endlich doch gelang, mit beiden Beinen auf dem Boden zu landen, hörte man ein gewaltiges „Ratsch” wie das Zerreißen von Tuch. Entsetztes Kreischen der alten Frau. Sie stand halb in Unterröcken da. Röte schoss in ihre Wangen, verzweifelte Versuche, die Röcke zusammenzuhalten. Doch je stärker ihre Bemühungen, desto heftiger das Geräusch zerreißenden Stoffes. Zu allem Überfluss trottete der dumme Esel grasrupfend weiter, den schönen braunen Wollrock Schritt für Schritt ein Stückchen weiter aufreißend. Vergeblich fischte die Frau mit der einen Hand nach dem Zaumzeug, mit der anderen die Röcke schürzend. Gleichzeitig bemühte sie sich, über die mehr oder weniger ausgedehnten Pfützen zu springen, um ihre schönen neuen Holzschuhe trocken zu behalten und nicht zu beschmutzen. Trotz ihrer Körperfülle bewies sie hierbei außerordentliche Geschicklichkeit. Dennoch musste sie letztlich dem Grautier durch eine weitläufige Wasserlache folgen. - Schellenklirrend und giggernd hüpfte indes der bucklige Schelm vor der alten Frau herum, ohne jedoch irgendeine Anstrengung zu unternehmen, ihr zu helfen. Stattdessen wusste er sofort ein schlüpfriges Liedchen zu trällern und nutzte weidlich die Bedrängnis der armen Frau aus, um sich selbst zur Schau zu stellen. Für ihn lautete das Gebot der Stunde: Zeig, was du kannst, solange du kannst.
Endlich befreite das Mädchen die vor Scham und Verzweiflung fast weinende Frau aus ihrer misslichen Lage:
„Hima, was machst du immer für Sachen?” lachte es fröhlich. „Wolltest du dem hohen Herrn deine schönen Beine zeigen, damit er Geschmack an dir findet?”
„Adda! Schweig still!” schalt die Angesprochene. „So lockere Reden ziemen sich nicht für ein Fräulein deines Standes. Was soll der hohe Herr von dir denken?”
„Denken? Wieso denn?”
„Der Herr denkt, dass er soeben seiner Enkeltochter begegnet ist”, brummte Keno, sich vom Pferd schwingend. „Und er denkt, dass sie noch viel lernen muss, bis eine botmäßige Häuptlingsfrau aus ihr wird.”
„Mein Großvater! Mein Großvater!” jubelte Adda begeistert. „Hast du gehört, Hima? Warum hast du ihn nicht gleich erkannt? Er ist es! Mein Großvater!” Hochentzückt sprang Adda ihrem Großvater an den Hals, erdrückte ihn fast vor Freude, gab ihm Küsse über Küsse und wollte ihn gar nicht wieder loslassen, als hätte sie noch nie im Leben einen Menschen lieber gehabt als ihn. - Rührung stieg in dem Alten auf. Ja, sogar Tränen schossen ihm in die Augen. Unmöglich, das Mädchen von sich zu schieben, um sich von ihr zu befreien. Welch großväterliches Gefühl durchströmte ihn in diesem Augenblick! Der Druck ihrer Lippen auf seinem bärtigen Gesicht, die nackten warmen Arme an seinem Hals, die helle Stimme in seinem Ohr... Er sog dieses Erlebnis des Wiedersehens gleichsam ein; verharrte – in sich hineinhorchend – in der Umarmung mit seiner Enkeltochter.
Während Hima und Ubbo die beiden freudestrahlenden Menschen gerührt beobachteten, stürmte der Esel plötzlich los, schnurstracks geradeaus. Mir nichts dir nichts rannte er die beiden um. Geräuschvoll platschten sie in den Straßenschlamm. Der Schelm gluckste verdächtig, wagte aber keine Miene zu verziehen. Adda und Hima aber mussten herzlich darüber lachen, so dass die Kindsmagd sogar ihren zerrissenen Rock vergaß, während Addas Großvater das Missgeschick weniger komisch fand, wie sein empörtes Gesicht signalisierte.
„Ich wette mein zerrissenes Hemd, dass du noch nie einen eifersüchtigen Esel gesehen hast, Großvater”, prustete Adda. „Dies hier ist einer. Er gehört meinen Zieheltern, aber er will nicht dort bleiben, wenn ich nicht mehr da bin. Es ist das Beste, du machst dich mit dem Gedanken vertraut, das Tier bezahlen zu müssen.”
„... oder ich schlage ihm den Kopf ab”, brummte Keno wütend, sich aus dem Straßenschlamm hochrappelnd.
„Aber Großvater, es ist günstiger, du hältst ihn am Leben, sonst musst du den Esel auch bezahlen! Übrigens, bezahlen..., du wolltest mir doch etwas schenken.” Adda lachte unbeeindruckt und hielt heischend die Hand auf.
„Ach so, ja, ja”, in seinen Nussbeutel greifend, gab er ihr eine Handvoll. „Hier, da hast du. Das ist besser für dich als Geld, wo du so spiekerig aussiehst.”
„Ich bin so dünn, weil das Ziehgeld nicht für ein fettes Essen reichte, und weil das Schafe hüten auch nichts einbringt, gab's mehr Schläge als Brot.”
„Nun, da du nicht verhungert bist, muss das Ziehgeld gereicht haben, und du konntest zumindest kein Fett ansetzen.”
Weit und breit sprach man von Kenos Geiz, und dass er auch heute noch die Hand auf der Kasse halte, wo doch sein Sohn schon lange Zeit regierte. Eine Lügengeschichte, ein bösartiges Märchen, hatte Adda bisher gedacht, aber nun erlebte sie ihren Großvater Auge in Auge, und musste erkennen, dass sein Geiz durchaus nicht erdichtet war, ebenso wie seine Eigenart, ständig Nüsse anstelle barer Münze zu verteilen. – Welche Enttäuschung! Als noblen, freigebigen Herrn, der auch die Armen bedachte, hatte Adda ihren Großvater bisher in Erinnerung gehabt oder haben wollen. Sollte sie sich derart geirrt haben? Sie würde Hima danach fragen müssen. - Vielleicht hat er sich so verändert in all den Jahren? - So, wie er jetzt vor ihr stand, ein wurzeliger Geizhals mit dem Blick eines Raubvogels, so entsprach er ganz und gar nicht dem Bild, welches sie sich erträumt hatte.
Im warmen Sonnenschein surrten Mücken über den von leichtem Wind gekräuselten Pfützen. Adda schüttelte energisch ihr Haar aus dem Gesicht, und Keno bewunderte insgeheim die schimmernden blonden Locken, nickte wohlwollend, ehe sein Blick hinüber zur Kindsmagd glitt. Die versuchte unterdessen vergeblich, das Gepäck auseinanderzuschnüren. Eifrig erklärte sie dem Schelm, der neugierig ihre vielfältigen Bemühungen verfolgte, ohne jedoch helfend einzugreifen, dass sie zum Glück immer Nadel und Faden dabei habe. Den Schweiß im Gesicht, je länger sie sich abmühte, die festgezurrten Seile zu entknoten, wurde Hima immer aufgeregter.
„Es geht nicht! Es geht nicht!” klagte sie gottserbärmlich. „Muss ich meinem Häuptling denn in zerrissenen Röcken seine Tochter bringen?! Es ist zum Weinen! Will mir denn keiner helfen? So helft mir doch endlich! Ubbo, bitte! Ich bitte dich! Womit habe ich das verdient?” Den Tränen nahe, nörgelte sie ununterbrochen, bei Adda nur heiteres Gelächter auslösend.
„Ich krieg's nicht auf! Ich find's nicht! Was soll ich nur tun? Wie soll ich es aufkriegen?”
Endlich fand Addas Großvater sich bereit, hilfreich zur Hand zu gehen, aber auch ihm gelang es nicht, die nassen Knoten zu lösen. So nahm er ohne Umstände seinen Dolch zur Hand und das Gepäck platschte auf den Weg, den Alten gehörig voll Dreck spritzend. Während Hima sich ans Werk machte, ihr Nähgerät zu suchen, zog der Häuptling seinen Rock aus, um ihn zu säubern. Jedoch, er scheiterte kläglich. Der gute Rock, sein bester, wie er mehrfach beteuerte, war und blieb schlammig. Je mehr er putzte, desto schlimmer sah er aus. Was tun? Der Narr wusste Rat: Er besitze noch einen wundervollen Rock, rief er entzückt, den er dem edlen Herrn mit Vergnügen ausleihe. Vor Freude hüpfte der Bucklige von einem Bein aufs andere und konnte nun gar nicht schnell genug sein Bündel auseinanderschnüren. Schier unvermeidbar, Hima ins Gehege zu kommen, die immer noch – jetzt mit zitternden Händen – ihr Nähzeug suchte.
„Geh weg, du dummer Kerl!” schrie sie außer sich. „Du siehst doch, dass ich hier bin!”
„Ach, du findest im Leben nichts, weil eben nichts da ist!” kläffte der Bucklige zurück, ihr gleichsam das Bündel entreißend.
„Ubbo! Du willst mich beklau'n?! Das hat noch keiner gewagt!” Wutentbrannt klatschte Himas Handfläche in sein Gesicht. Einige Schritte rückwärts taumelnd, schien es, als gelänge es dem Buckligen, sich wieder zu fangen, aber dann rutschte er doch aus und landete im Matsch. Wasser und Dreck spritzten in hohem Bogen auseinander. Verblüffung, dann Zorn, ein blitzartiger Griff neben sich, Schlamm schoss in Richtung Kindsmagd. Die bückte sich aber gerade wieder nach ihrem Bündel. Der Schlammbatzen sauste über ihren Kopf hinweg, dem alten Keno direkt aufs Auge. - Im ersten Augenblick... Entsetzen – der Bucklige wie erstarrt. Pech, vermaledeites! Verflucht! - Im Geiste sah er nun nicht nur alle seine Felle wegschwimmen, nein, er sah sich gleichsam am Pranger stehen, schmachtend und dürstend, angespuckt und angepinkelt von den ehrbaren Leuten. Und er sah im Geiste seinen ohnehin schmerzgeplagten armen Körper unter den Hieben der achtschwänzigen Katze zucken... Heilige Jungfrau Maria, hilf! Wie konnte ihm solch Unglück passieren?! Immer wurde nur er vom Schicksal gebeutelt. Immer traf es nur ihn. Und wenn er glaubte, endlich einen guten Wurf getan zu haben, endlich das Glück am Schopfe packen zu können, geschah etwas Unvorhersehbares, das alles zunichte machte, ihn wieder zu Boden warf, ja, mehr denn je niederknüppelte. Sollte er denn sein Leben lang kriechen müssen nach den Brosamen barmherziger Mitmenschen? Sollte er ewig getreten werden wie ein erbärmlicher Wurm? Und das nur, weil er, als Krüppel auf die Welt gekommen, sich nicht wehren konnte wie gesunde Menschen? Das konnte, das durfte doch nicht sein! Mühsam rappelte Ubbo sich auf. - Betretenes Schweigen. In den blauen Himmel schraubten sich jubilierende Lerchen, im Moor gluckste es wie mühsam unterdrücktes Lachen... Oder kam das Glucksen gar nicht aus dem Moor? Der Alte wischte sich den Matsch vom Auge, blickte zu seiner Enkelin hinüber. Augenblicklich verlor Adda die Beherrschung, platzte heraus mit unbeschreiblichem Gelächter, konnte einfach nicht mehr an sich halten vor lauter Lachen. Zu ulkig war der Großvater mit seinem schlammverschmierten Auge! Schwarzbraun rann Moorwasser über seine Wange in den Bart hinein, der langsam seine eisgraue Farbe in jugendliches Braun zu wandeln schien, zumindest auf der einen Gesichtshälfte. Adda aber lachte..., lachte, wie nur ein junges Mädchen lachen kann; lachte, dass Tränen über ihre Wangen kullerten. Ansteckend wirkte es – so herrlich jung, unbekümmert und herzerfrischend... Hatte Keno jemals solch wundervolles Lachen gehört? Wohl kaum. Jedenfalls erinnerte er sich nicht daran. Und eigentlich wollte er es nicht, aber er musste einfach mitlachen; genau wie die Kindsmagd, die ihr Gesicht verstohlen in die Unterröcke drückte. Darüber vergaß der Alte sogar seinen Ärger und dass er den buckligen Dummkopf am liebsten auf der Stelle erschlagen hätte. – Ihm ging plötzlich ein Licht auf, nämlich, dass die Magd das Ziel gewesen war und lediglich der Zufall das Missgeschick verursacht hatte. Normalerweise hätte Keno sich bedenkenlos über diese Erkenntnis hinweggesetzt und den dummen Kerl seine Schandtat bitter büßen lassen; in diesem Falle aber... Da stand lachend seine entzückende Enkeltochter, die sein Herz auf Anhieb zum Schmelzen gebracht hatte! Und er dachte daran, dass Härte das Mädel erschrecken oder sogar abstoßen könnte. Kenos Lachen wurde unecht, erstarb schließlich in seinen Überlegungen: Da muss ich wohl den großzügigen Herrn hervorkehren, der nachsichtig und mildherzig einem armen Krüppel Gnade zubilligt. Zum andern kann man nicht wissen, welchen Nutzen das noch bringen wird. Ein Mensch wie dieser da, vom Schicksal gebeutelt, von jedermann ausgenutzt und in die Ecke gestellt, der ist zuweilen aus Dankbarkeit zu großen Treuebeweisen bereit. Keno würde sich zweifellos zur rechten Zeit seiner erinnern. Blieb abzuwarten, ob es für die Buckligen nicht letztlich doch vorteilhafter gewesen wäre, sich am Schandpfahl auspeitschen zu lassen, um dann das Weite zu suchen, sofern er noch konnte... Missmutig befahl der Alte, aufzusitzen: „Hopp, hopp! Marsch, marsch! Es geht weiter.”
Adda fragte neugierig nach dem Weg und der Alte meinte grienend: „Kinder und Narren müssen nicht alles wissen.” Versöhnlich fügte er hinzu, nachdem er Addas enttäuschtes Gesicht gesehen hatte, dass er zur Schnappe wolle, einem Gasthaus unweit von Aurichhove.