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ОглавлениеKapitel 1 Heimkehr
Chroniken der tom Brook - anno 1372-1379
Gunda von Dehn
Sie war klein und schmächtig und halb verhungert. Letzteres war auch so ziemlich das Einzige, was sie ihren Zieheltern vorwarf, nämlich, dass sie selten satt zu essen bekam.
Zusammen mit Ihrem Ziehbruder hütete Adda tom Brook tagein, tagaus die Schafe der Dorfmark. Seit der alte Hütehund an Altersschwäche krepiert und ein junger noch nicht abgerichtet war, ein hartes Brot. Am Abend fiel die Vierzehnjährige halb tot vor Erschöpfung auf ihre armselige Strohschütte im Schafkoven, den sie mit einem guten Schock Schafe und Ubbo, dem Ziehbruder, teilte.
Der Schafkoven unterschied sich kaum von anderen Koven dieses Zwecks, mit Ausnahme, dass er zwei Schlafstellen besaß, von welchen die eine einem niedrigen Holzkasten mit Stroheinschütte glich. Dieses Kistenbett stellte die einzige Annehmlichkeit dar. Nachdem eines Nachts die Schafe zu nahe gerückt und - Gottlob nur - auf Addas Beine getrampelt waren, gestand man ihr dieses Privileg großzügig zu.
Im Übrigen fühlte Adda sich mehr oder weniger glücklich. Zumindest genoss sie hier ungleich mehr Freiheiten als auf der elterlichen Burg - in den Händen irgendeines unnachsichtigen Erziehers.
Die Burg „Broke“, am Rande des Moores gelegen, dort, wo die beiden Wege aus dem Emsiger- und Auricherland nach dem Flecken Norden zusammenlaufen, gehörte Addas Großvater, dem alten Keno Hilmerisna tom Brook. An ihren Vater, den jetzigen Häuptling von Brookmerland, erinnerte sich das Mädchen kaum noch. Als Adda geboren wurde, leider nur eine Tochter, mochte er sich noch ein paar kräftige Söhne erhofft und gewünscht haben, indes – daraus wurde nichts. Adda blieb sein einziges Kind. Darum strebte Ihmel tom Brook verständlicherweise danach, dass seine Tochter ihm nachfolgen und den fehlenden männlichen Erben ersetzen konnte. Somit genoss das Mädchen anfangs besondere Aufmerksamkeit. Allzu früh suchte der Häuptling seinem Töchterlein eine gehörige Bildung eintrichtern zu lassen. Das nämlich musste der Hofkaplan übernehmen. Aber dessen rohe und überdies herzlose Bemühungen fielen anscheinend nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Bei dem Kind sei „Hopfen und Malz verloren“, hatte der Kaplan bitter gesagt. Darum beschloss Ihmel tom Brook enttäuscht, Adda in die Obhut von Zieheltern zu geben. Dies galt als durchaus üblich und angemessen, wenngleich eher nicht bei einer Häuptlingsfamilie. So kam das kleine Mädchen zu Zieheltern nach Aurichhove (heute Aurich). Und obwohl der Weg von der Burg Broke nach dem Kirchspiel Aurichhove keine großartige Entfernung darstellte, sahen sich Vater und Tochter in all den Jahren kein einziges Mal. Längst hatte das Mädchen es aufgegeben, auf den anfänglich so bitter vermissten Vater zu warten. Längst waren ihm die Zieheltern zu Vater und Mutter geworden und deren buckliger Sohn zum Bruder. Nur dunkel erinnerte Adda sich noch an Einzelheiten des Lebens auf der Burg. Die Erinnerung an ein großes, weiches Bett, warm und trocken haftete noch in ihrem Gedächtnis, und sie wusste, dass es dort niemals hineingeregnet hatte, was jetzt regelmäßig geschah, weil das Dach ihres Schafkovens aus Heidegesträuch und Torfplaggen bestand und niemals ganz dicht hielt. Unvergesslich wie der gestrenge Herr Kaplan, unter dessen Falkenaugen sie den Psalter hatte lernen müssen, blieben ihr auch die Schläge mit der Weidenrute! Gewiss, Schläge gab's auch hier, nicht aber wegen irgendeines törichten Psalters und auch nicht mit der Rute.
Wieder zurück nach BROKE. - Bedeutete das für Adda einen wundervollen Neubeginn? Oder nur die Wiederaufnahme der verhassten Psalterochserei? Das musste überlegt werden. Nachdenklich schaute Adda den Boten an, der vor ihr, zusammengesunken auf dem Maultier hockend, ungeduldig auf ihre Antwort wartete.
„Was hat mein Vater... ich meine… der Häuptling... Was hat er gesagt? Darf oder muss ich zurück nach Broke?”
„Das bleibt sich doch gleich. Was immer er gesagt hat, auf jeden Fall zurück nach Broke.” Verdrossen zog der Alte die Mundfalten noch tiefer. Haarspalterei hasste er wie die Pest. Und wenn schon so junges Gemüse damit anfing - wohin sollte das führen?
„Ich werd' mich aber doch wohl erst waschen und von meinen Zieheltern verabschieden dürfen... oder? Und meinen Ziehbruder, den Ubbo, will ich auch mitnehmen und meine gute Hima auch.”
„Wer ist das?”
„Hima? Meine Kindsmagd ist das.” Der Bote nickte, unwillig zwar, aber er stimmte zu. Was ging es ihn an, wen die Häuptlingstochter alles mitschleppte!
Aus irgendeinem unerfindlichen Grunde passte Adda das Ganze nicht. Da steckte etwas dahinter, ahnte sie. Das verschlossene Gesicht ihres Gegenübers gab keinen Anhaltspunkt. Dass der Mann ein Bote von Broke war, stand zweifelsfrei fest, zumal er den schön gestickten roten Wappenrock trug und ein ordentlich mit dem brook'schen Adler gesiegeltes Schriftstück vorweisen konnte. Was darauf geschrieben stand, vermochte Adda zwar nicht zu entziffern, aber es würde schon zutreffen, was der Bote gesagt hatte. Das erste Mal in ihrem Leben bedauerte sie es, nicht lesen zu können. Nun denn, seufzend machte sie sich daran, ihre wenigen Habseligkeiten zu schnüren. ‚Heimwärts!' wie Hohn klang das Wort in ihr nach. Eine fremde Burg – ihr Heim – ihr Zuhause? Nein, hier fühlte sie sich zu Hause, bei den Schafen mit ihren Lämmern. Dies war die schönste Zeit des ganzen Jahres. Addas Blick wanderte aufmerksam über die friedlich grasenden Tiere. Wie schön! Unbeschreiblich schön! Heide, bizarre Eiben und Wacholder, duftendes Gras und Lerchen, ein ganzer blauer Himmel voll singender, jubilierender Lerchen! Und der Ginster leuchtete im Sonnenschein wie helles Gold. Konnte es Schöneres geben? Das Leben hier bedeutete Adda eine gewisse Art von Freiheit. Auf der Burg, wo sie nur durch Aufsässigkeit aufgefallen war, gab es das nicht. - Zurück nach Broke. Tränen stiegen in ihr auf. Zurück nach Broke. - Zurück zu einem engstirnigen Zuchtmeister, der einem ständig mit der Weidenrute auf die Finger und sonst wohin schlägt; zurück zu erneutem Lernen, zu Zwängen und ungerechter Behandlung... Hima, Addas Kindsmagd, würde sich freilich freuen, wieder zurück nach Broke zu dürfen. Die sprach ohnehin Tag und Nacht von nichts anderem als dem bunten Treiben auf der Burg, und wie herrlich es sich dort angeblich lebte. Ihr jetziges Dasein als Stallmagd beim reichsten Bauern von Aurichhove hasste Hima. In einem fort kreisten ihre Sehnsüchte um Broke und immer nur um Broke. Sie verherrlichte die gewaltige Burg geradezu, gefügt aus mächtigen Quadern und Buntsandstein von Hilligenley (Helgoland). Die Stellung als Addas Kindsmagd, welche sie auf Broke innegehabt hatte, war ja auch ungleich angesehener gewesen als ihr jetziger Status. Verständlich also die heiße Sehnsucht nach Broke. Nun denn, zurück nach Broke, zurück zum Vater, zurück zum Kaplan... und dann war da ja auch noch der Großvater.