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9. Beijing Dao (China); August 2013
ОглавлениеDie neuen Labors für Pflanzenzüchtung und Pflanzengenetik standen unter der Leitung des Landwirtschaftsministeriums und lagen circa fünfzig Kilometer südwestlich von Qjing Dao. Mehrere Dörfer, allesamt agrarisch geprägt, waren zwangsweise umgesiedelt worden, weil die Labors vor allem große, fruchtbare Anbauflächen für Saatgutherstellung benötigten. Die Entscheidung für die Anlage fiel vor vier Jahren, als die Regierung beschlossen hatte, die Vorherrschaft des Westens bei der Pflanzenentwicklung und Pflanzengenetik zu brechen. Innerhalb der Anlage gab es ein Laborgebäude, zu dem nur besonders befugte Personen Zutritt hatten. Es verfügte über alle vier Sicherheitsstufen für genetische Experimente und Eingriffe in Pflanzen, Bakterien und Viren.
Dieses Labor wurde von Dr. Lin Yuo geleitet, der zwar über wenig internationale Erfahrung verfügte, trotzdem aber unumstritten die Nummer Eins in China auf dem Gebiet der Pflanzengenetik war. Jahrelang hatte er die Staatsführung angemahnt, China müsse die landwirtschaftliche Nahrungserzeugung selbst in die Hand nehmen und den drohenden Nahrungskollaps durch modernes Pflanzendesign abwenden. Pflanzenzucht war trotz vieler engagierter Wissenschaftler wie Dr. Lin ein Stiefkind geblieben. Professor Hoa, heute Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, konnte ein Lied davon singen. Ihm war es zu verdanken, dass die Regierung vor fünfzehn Jahren ein Programm genehmigte, durch dessen finanzielle Ausstattung Tausende von engagierten Studenten ihr Studium im Ausland absolvierten und anschließend bei namhaften Firmen in Amerika und Europa in die Forschungsabteilungen strebten. Inzwischen ging die Rechnung auf. China konnte jedes Jahr Hunderte dieser Ausgesandten zurückrufen und ihnen lukrative Spitzenpositionen in staatlichen und privaten Unternehmen anbieten. Auch Dr. Lin war in der Lage, über zwanzig dieser Spitzenwissenschaftler zu gewinnen. Er unterstand direkt dem Ministerium für Staatsschutz. Seine Linientreue und seine Loyalität wurden nur noch von seinem Nationalstolz übertroffen. Am meisten ärgerte ihn die dauernde Überheblichkeit der vielen kleinen Nachbarn, mit der diese den aufstrebenden Riesen wie mit Nadelstichen traktierten. Leider fielen immer mehr Junge den Glitzerwelten der Nachbarn zum Opfer und versuchten, den westlichen Lebensstil nachzuahmen. So verloren sie die Tugenden, die China schon immer großgemacht hatten: Fleiß, Familiensinn, Genügsamkeit, Geduld und Mut. Die weltweite westliche Vorherrschaft dauerte nun schon ein ganzes Jahrtausend, und sie war im Begriff zu schwinden. Nur China hatte die Kraft und die Unverbrauchtheit, um dieses Vakuum zu füllen. Aber kampflos gab niemand auf. Besonders Europa bäumte sich immer wieder gegen seine wachsende Bedeutungslosigkeit in der Welt auf. Sicher würde die Weltspitze China nicht wie eine reife Frucht in den Schoß fallen, trotzdem stand der Sieger für Dr. Lin unstrittig fest.
Vor drei Wochen hatte General Fong Dr. Lin die Ergebnisse der von SEEDAGRO entwickelten Terminatortechnologie übergeben. Nur die engsten Mitarbeiter um Dr. Lin wurden nach sorgfältiger Verpflichtung zur Geheimhaltung mit der Auswertung der Dokumente betraut. Zu diesem Zweck arbeiteten die Wissenschaftler in einem großen Raum. Jeder wurde beim Verlassen des Raumes strengstens kontrolliert. Kein Blatt Papier, keine Notiz und schon gar kein versteckter, kleiner Datenträger konnten auf diesem Weg nach draußen gelangen. Auch Dr. Lin vertiefte sich seit Tagen in die Materialien, der von Hennings entwickelten Technologie. Lin hatte nie von Hennings gehört, war aber selbstverständlich mit den bis dato entwickelten Lösungen und Patenten vertraut. Es dauerte viele Stunden, bis er Hennings rätselhafte Aufzeichnungen verstand, die aus einer unsortierten Ansammlung von kurzen Notizen und Grafiken bestanden sowie Handlungsanleitungen, Laborberichten und Fehlversuchen, die mit Hunderten von Abkürzungen übersät waren, die meistens nicht erklärt wurden, sondern mühsam aus dem Kontext entschlüsselt werden mussten. Er kam sich vor wie ein Forscher, der auf Dokumente aus einer Ausgrabung gestoßen war.
Nach einer Woche verstand er, wie Hennings seine Aufzeichnungen strukturiert hatte und entrang ihnen ihre Geheimnisse.
Vor zwei Wochen hatte Lin seine Mitarbeiter zur ersten Überprüfung der bis dahin gesammelten Erkenntnisse vorgeladen, nicht zuletzt, um sie mit den eigenen Resultaten zu vergleichen, was die Mitarbeiter selbstverständlich wussten und sie bis zum Umfallen anspornte. Lin war keiner, der einen Streit schlichtete, Streithammel, Gerüchteverbreiter und Intriganten entfernte er sofort und schonungslos aus dem Institut. So wurde er unangreifbar und war nie gezwungen jemandes Partei zu ergreifen, sondern war als Vorgesetzter gefürchtet. Nur so konnte er sich auf Forschung und Ausbildung konzentrieren.
Völlig gegen jede Regel erteilte Lin zu Beginn der ersten Arbeitssitzung dem jüngsten Mitglied des Expertenteams zuerst das Wort.
Selbstbewusst trat die junge Wissenschaftlerin vor die Gruppe. „Verehrter Dr. Lin, meine Aufgabe ist die Sicherung und Dokumentation der Eingriffsverfahren in die Pflanzenzelle, wie sie von Hennings durchgeführt wurden. Parallel erstelle ich die exakte Verfahrensanweisung für unser Labor. Ziel ist, die von Hennings angewandten Verfahren und Techniken genau nachzuvollziehen, um seine Ergebnisse zu reproduzieren. Mit der Vermehrung und Ausbildung von kompletten Pflanzen aus den genetisch veränderten Zellen befasst sich später unser lieber Kollege Xan Leng.“
Die junge Wissenschaftlerin hatte ihren Vortrag auf dem Computer vorbereitet, dessen Ergebnisse von einem Beamer an die Wand projiziert wurden.
„Hennings hatte offenbar Verbindung zu allen Instituten und Datenbanken, die ständig die Genkartierung der Maischromosomen erweitern und zusammen mit der Beschreibung der neu gefundenen Gene veröffentlichen. Wir schätzen, dass Mais circa fünfzehntausend bis dreißigtausend Gene besitzt, die codieren, das heißt, Proteine erzeugen. Bis heute sind circa viertausend Gene bekannt. Aber es werden jeden Tag mehr. Noch wissen wir nicht, wofür alle Gene codieren, aber aus der Analogie zu der Genomkartierung von Arabidopsis thaliana, die Ackerschmalwand auf die sich derzeit die internationale Forschergemeinschaft konzentriert und die gute Fortschritte macht, können wir auf sehr viele Analogien beim Maisgenom hoffen. Hennings beherrschte vor allem die verschiedenen Mikrotechniken im Umgang mit Pflanzenzellen perfekt. Diese Zellen haben typischerweise nur wenige Pikoliter Zellsaft. Hennings gelang die getrennte Probenentnahme aller Zellorganellen und des Zellkernes. So konnte er ohne langwierige Züchtungsforschung die Genexpressionprofile seiner genetisch veränderten Zellen sofort testen.“
„Das heißt, Hennings hat die Auswirkungen seiner genetisch veränderten Maiszellen sofort feststellen können“, unterbrach Lin die junge Wissenschaftlerin, „indem er die hergestellten Proteine in der Zelle untersuchte, die Veränderung gegenüber der unveränderten Zelle identifizierte und so Rückschlüsse auf die zukünftige Veränderung der Pflanze zog.“
„Ja. Es ist ein geniales Verfahren, um schnell vorwärtszukommen, wenn man einen bestimmten Effekt durch eine gentechnische Veränderung erzielen will. Trotzdem kommt man später um Freilandversuche nicht herum. Denn schließlich muss die Pflanze ja beweisen, dass sie die gezüchtete Eigenschaft auch unter normalen Umweltbedingungen entwickelt. Ich denke, wir können das Verfahren zur Erstellung von Genexpressionsprofilen ebenfalls in unserm Institut einführen, alle Voraussetzungen sind da. Das Einzige, was uns fehlt, ist die Übung.“
„Herzlichen Dank“, fuhr Dr. Lin fort. „Bitte, jetzt sollten wir zum Kernthema vorstoßen. Wer berichtet über die eigentliche genetische Veränderung, die Hennings vorgenommen hat?“
Ein Wissenschaftler aus der kleinen Runde erhob sich und trat nach vorn.
„Ich darf auf Ihre Frage eingehen, verehrter Dr. Lin“, meldete sich der junge Mann. „Wir wissen nicht, warum sich Hennings so sehr auf nicht codierende Gensequenzen konzentrierte. Sie wissen alle, dass nicht codierende Gensequenzen in jüngster Zeit wieder zur Diskussion stehen. Sie sind eventuell doch kein Abfall. Pflanzen enthalten fünfzig bis siebzig Prozent solcher nicht kodierenden Gene. Der Mensch verfügt davon sogar über siebenundneunzig Prozent. Die meisten Genetiker und Biologen halten diese Abschnitte für nutzlos und nennen sie daher Junkgene. Doch es gibt Hinweise, dass auch diese Abschnitte mit ihren abertausenden Wiederholungen der gleichen Gensequenz Ribonukleinsäure synthetisieren und damit Auswirkung auf die Steuerung von Aktivitäten in der Pflanze ausüben. Wir tappen aber noch völlig im Dunkeln. Hennings konzentrierte sich auf eine Gensequenz auf dem Chromosom acht. Im Abschnitt fünf wurden bisher einundzwanzig Gene identifiziert. Im letzten Teil dieses Abschnitts gibt es Junk-DNA, also viele Wiederholungen der gleichen Sequenz. Hennings entdeckte, dass bei einem gentechnischen Eingriff in den Wiederholungssequenzen erst geringe und dann immer stärkere Veränderungen bei den codierten Proteinen ausgelöst wurden, und zwar umso mehr, je mehr Wiederholungssequenzen er veränderte. Damit hatte er einen Schlüssel gefunden, um die Zahl der intakten Nachfolgegenerationen zu steuern. In der letzten Generation starten die Zellen die Synthese eines Proteins, welches die Zellwände von Pflanzenzellen auflöst und somit die Pflanze sterben lässt.“
„Aber wie hat Hennings herausgefunden, die Zahl der Nachfolgegenerationen zu bestimmen, ohne die Pflanzen anzubauen und viele Generationen abzuwarten?“, wollte Lin wissen.
„Verehrter Dr. Lin, es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, Hennings hatte einen speziellen Instinkt. Er begriff Gensequenzen anscheinend intuitiv. Sie sprachen zu ihm. Ich habe nach dem Studium seiner Unterlagen das Gefühl, dass er darin wie in einem Buch las.“
„Aber das ist doch Unsinn“, sagte Dr. Lin. „niemand kann Gensequenzen wie ein Buch lesen.“
„Sie haben Recht, verehrter Dr. Lin, trotzdem musste Hennings den Code verstanden haben. Etwas Ähnliches passiert, wenn Sie in einem Computerprogramm einen Befehl programmieren, den das Programm danach sichtbar ausführt. So muss es Hennings gegangen sein. Er begann, den Code zu verstehen.“
„Also das kann ich nicht glauben“, sagte Lin in keineswegs abfälligem Ton. „Bitte sagen Sie uns, ob wir dieselben gentechnischen Veränderungen vornehmen können wie Hennings.“
Der junge Mann nickte.
„Ja, selbstverständlich“, sagte er strahlend.