Читать книгу Das Ende der Zukunft - Hans Jürgen Tscheulin - Страница 16
15. Den Haag (Niederlande); April 2016
ОглавлениеVor Sonnenuntergang fuhr Krüger oft nach Scheveningen. Meistens parkte er direkt hinter den Dünen und machte ausgedehnte Spaziergänge, betrachtete den Sonnenuntergang auf der wunderschönen weißen Pier oder schlenderte nachdenklich durch die Gassen. Er brauchte diese Umgebung zum Abschalten, Nachdenken und Kraftschöpfen. Ihm reichte schon ein Blick aufs Meer, um den Wind zu spüren, das Rauschen des Wassers aufzusaugen und die Möwen im Hintergrund kreischen zu hören und sich zu verlieren. Es konnten genauso gut auch Berge sein oder eine Wüste. Dann kamen seine Gedanken wieder in Schwung und die frische Luft in den Lungen fegte den zähen, klebrigen und lähmenden Alltagsschleim weg. Seine Gedanken kreisten um seinen Job, für den er momentan lebte und den aufzugeben er sich niemals vorstellen konnte. Er war zwar schon einunddreißig Jahre alt, aber für dauerhafte Beziehungen hatte er wenig Zeit. Ob er überhaupt der Typ dafür war, wusste er allerdings auch nicht. Er ließ sich schon lange nicht mehr gerne in die Karten schauen und verplanen. Vor sechs Jahren stand er fast vor dem Traualtar. Evelyn hatte ihm alles bedeutet, und ein Leben ohne sie war für ihn unvorstellbar. Er hatte gerade sein zweites Studium in Rekordzeit beendet. Vier Wochen vor der Hochzeit kam er von einem Fußballspiel, an dem er teilnehmen sollte, wegen einer Verletzung zu früh in die gemeinsame Wohnung. Der Anrufbeantworter blinkte. Als er ihn abhörte, brach seine Welt auseinander. Ein anderer war also auch noch im Spiel gewesen. Fluchtartig verließ er die Wohnung und zog in eine Pension. Das Band des Anrufbeantworters hatte er mit einem Zettel auf den Tisch gelegt. Macht’s gut ihr beiden. Marcel. Er hörte nie wieder etwas von Evelyn.
Krüger ging auch heute auf die Pier hinaus, bis ans Ende. Die Abendsonne neigte sich ganz weiß und bleich, ohne jeglichen roten Schimmer aufs Wasser. Der Wind wurde kühl, und Krüger stellte den Kragen hoch. Die letzten Tage hatte er nur gelesen und recherchiert.
Zuerst hatte er das Gutachten zur Veränderung der Marktsituation durch den Kauf von SEEDAGRO in Auftrag gegeben. Fast immer vertrauten er und Nefels Gerry Karthman. Er besaß ein Wirtschaftsprüfungsbüro in Freiburg im Breisgau. Der Mann war eine Koryphäe und ein Phänomen. Es gab in der Industrie kaum ein Vorkommnis oder eine Veränderung, die der Mann nicht mitbekam. Dazu sammelte er sämtliche zugehörigen Informationen und speiste sie in seine Datenbanken ein. Zu Krügers Verblüffung konnte Karthman die Daten auch jederzeit aus seinem Gedächtnis ausspeichern. Er verfügte über ein unglaubliches Archiv zu allen wichtigen Industrie- und Marktdaten in allen Herren Länder. Er hatte alleine zwei riesige Arbeitszimmer, in denen sich Tonnen von Studien, Zeitschriften und Papierbergen stapelten, aus denen er zielsicher das herausgriff, wonach man suchte. Das EIO wusste, dass ein Gutachten von Gerry Karthman unübertroffen präzise war. Zu Fragen der Genehmigung von Fusionen und Firmenübernahmen gab die Kommission immer zwei Marktveränderungsgutachten in Auftrag: eins an ein externes Institut und eines an das EIO. Krüger wusste, dass alle Institute und Beratungsfirmen, die zu anderen Ergebnissen kamen als Karthman entweder ihren Job nicht verstanden oder die Wirklichkeit absichtlich verbogen.
Die Geschäftsberichte von SEEDAGRO zu lesen war der langweiligste Teil. Sie zeigten ein konstant hochprofitables Geschäft, was sich unter anderem auch darin niederschlug, dass die Wirtschaftsprüfer alle Bilanzen und Finanzergebnisse der letzten vier Jahre ohne Bemerkungen attestierten.
Krüger war aufgefallen, dass SEEDAGRO in Kanada und in Mexiko eine eigene Forschungsabteilung besaß. Die mexikanische Forschungsabteilung wurde 2015 geschlossen. Das war doch nach den Vorkommnissen mit diesem Terry Hennings. Seltsam! Da musste er noch nachhaken. Er hatte auch die Patentsituation von SEEDAGRO abfragen lassen, denn die Geschäftsberichte enthielten keine Hinweise darauf, wie viele und welche Patente SEEDAGRO derzeit angemeldet hatte und wie viele noch in der Anmeldung waren. Seine Anfrage deckte Europa, USA, Kanada, Mexiko, Argentinien und China ab. Die Patentrecherche hatte er an ein dafür spezialisiertes Büro abgegeben.
Die Presserecherche zu SEEDAGRO der letzten drei Jahre mit allen wesentlichen Meldungen aus Europa und Nord- und Südamerika dauerte bei EIO ganze sieben Stunden, dann bekam er zwei Aktenordner mit allen vorsortierten und essenziellen Nachrichten. Interessant waren die Meldungen zu dem Unglück von Terry Hennings in der Schweiz. Darüber hinaus gab es mehrere Meldungen aus Mexiko und den USA, die vermuteten, dass etliche Agrarmultis gentechnisch veränderte Pflanzen illegal in Mexiko freisetzten, wobei die Korruption die Hauptantriebsfeder sei. Eine weitere Pressemeldung aus Oaxaca in Mexiko besagte, dass das Forschungslabor von SEEDAGRO im Jahre 2013 gebrannt habe. Die Meldung war eine Überraschung. Diese Tatsache hatte der EIO-Verbindungsmann in Mexiko nicht erwähnt. Interessant war die Koinzidenz der Ereignisse: Der Haftbefehl und die Flucht von Terry Hennings aus Mexiko geschah im gleichen Monat wie der Brand, im Juni 2012.
Krüger unterbrach seine Gedanken, er hatte Lust auf einen warmen Kaffee und einen Mandelkoek, auf den er geradezu versessen war. Er kehrte um und ging in der Nähe der Promenade in ein Café, welches die besten Mandelkoeks in ganz Scheveningen servierte.
Heute Mittag hatte ihn auch die Auswertung der Recherche zu den chinesischen Saatgutunternehmen in Europa erreicht. Zu seiner Überraschung gab es bereits neun Saatgutfirmen in Europa, die von chinesischen Firmen in den letzten zwölf Monaten übernommen worden waren. Meistens waren es kleine oder mittelständische Betriebe mit zwanzig bis zweihundert Angestellten, wobei etliche der Unternehmen angeblich schon sehr nahe am Rande des Bankrotts gestanden hatten. Warum in aller Welt kauften Chinesen bankrotte Saatgutfirmen in Europa auf? Das ergab doch keinen Sinn. Aber gerade deshalb wollte er dieses Phänomen weiterverfolgen.
Er machte sich Gedanken, was er heute Abend noch erledigen wollte. Auf jeden Fall musste die „Weiße Weste“-Recherche raus. Diese fragte ab, ob SEEDAGRO jemals Vergehen und Verstöße begangen hatte, ob derzeit Ermittlungen gegen die Firma anhängig waren, sie von Kartell- oder Umweltbehörden zu Bußgeldern verurteilt wurde, oder ob Angestellte und Manager jemals angeklagt oder verurteilt worden waren.
Auf dem Rückweg ins Büro rief Krüger Gerry Karthman an. Karthman überschüttete ihn mit überschwänglicher Freude.
„Marcel, schön, wieder von Ihnen zu hören. Ich habe den Auftrag von heute Morgen erhalten und schon angefangen. Wann kann ich Sie sehen? Wir müssen unbedingt reden, mein Freund, und gemeinsam einen vorzüglichen Kaiserstühler Riesling genießen, und dazu serviere ich Ihnen so leckere badischen Maultaschen, dass Ihnen die Sinne versagen. Also wann kommen Sie?“
„Gerry, so bald wie möglich. Ich plane in der kommenden Woche einen Termin in Frankfurt, und auf meinem Weg in die Schweiz schaue ich bei Ihnen vorbei.“
„Sie sind mein Gast, das versteht sich.“
„Nein, Gerry, Sie wissen, dass ich nichts lieber täte, aber mein Lieblingshotel möchte ich nicht vermissen. Sie sind mir, wie immer, nicht böse?“
„Marcel, wie könnte ich. Ich habe Sie quasi großgezogen. Sie sind mir wie ein Sohn.“
Krüger musste lachen.
„Gerry, sobald ich den genauen Termin weiß, melde ich mich. Wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
„Den werde ich haben, bebrüte aber weiter Ihr Ei, das Sie mir ins Nest gelegt haben.“