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18. Bern (Schweiz); Mai 2016
ОглавлениеDie Fahrt von Freiburg nach Bern dauerte diesmal nur knapp über zwei Stunden. Ohne sein Navigationssystem hätte er sich hoffnungslos verfahren. Etwa eine Viertelstunde nach seiner Ankunft im Mövenpick-Hotel klingelte sein Mobiltelefon. Es war Brockmann.
„Sind Sie gut angekommen? Herzlich willkommen in Bern. Und sind Sie zufrieden mit dem Hotel?“
„Ja, danke, alles bestens. Wie sind Ihre Pläne für heute?“
„Sie kommen zu mir. Ich bin leider noch unterwegs und werde mich verspäten, sagen wir in zwei Stunden?
„Hervorragend.“
„Nehmen Sie ein Taxi oder das Tram. Lassen Sie Ihr Auto stehen. Es gibt bei uns kaum Parkplätze.“
Nachdem er sich umgezogen hatte, verließ er das Hotel, um sich ein wenig in der Stadt umzusehen.
Am Empfang des Gebäudes, in welchem Brockmann sein Büro hatte, erwartete man ihn bereits. Eine ältere Frau begrüßte ihn und führte ihn zum Aufzug. Der setzte sich nur in Bewegung, wenn man eine Codekarte einsteckte, die vermutlich die Zugangsberechtigung regelte. In der vierten Etage stiegen sie aus. Auch hier öffneten sich alle Türen nur mittels Codekarte. Schließlich erreichten sie Brockmanns Büro.
Die Frau klopfte kurz an die Tür und öffnete, ohne abzuwarten. Ein großer, schlanker Mann, Ende fünfzig, erhob sich und kam um seinen Schreibtisch herum auf Krüger zu. Er trug eine zerknitterte blaue Anzughose; sein Hemd war mausgrau und die Krawatte hing auf Viertel vor neun. Krüger fand Urs Brockmann auf Anhieb sympathisch. Brockmann hatte einen festen Händedruck.
„Schön, dass Sie ihr Weg nach Bern geführt hat“, sagte er mit seinem melodischen schweizerdeutschen Singsang. „Wir kennen uns vom Telefon und von der E-Mail. Das bringt wohl die Zeit so mit sich, dass die modernen Kommunikationsmittel uns der Unmittelbarkeit berauben.“
Brockmann strahlte eine große Herzlichkeit aus. Sein schlankes Gesicht wurde geprägt von seinem schwarzen, kurz gestutzten Schnurrbart und verlieh ihm jene Würde, die sich zusammensetzt aus langer Erfahrung im Umgang mit Menschen und einer unverbrüchlichen Portion Herzlichkeit. Die schwarzen, blitzenden Augen und der militärisch kurze Schnitt seiner schwarzen, drahtigen Haare standen dazu in Kontrast, und Krüger erahnte die schlummernde Unbeugsamkeit und Zähigkeit.
„Bitte nehmen Sie Platz.“
Sie setzen sich an den schmucklosen Besprechungstisch, auf dem bereits zwei weiße, klinisch tote Bürokaffeetassen warteten, daneben die obligatorisch weiße Plastikthermokanne.
„Sind Sie zum ersten Mal in Bern?“, wollte Brockmann wissen.
„Ja. Die Stadt gefällt mir. Da ich Freiburg ein wenig kenne, kommt einem in Bern vieles vertraut vor, und man merkt, dass Bern von denselben Herrschern gegründet und geplant wurde.“
„Ja dann werden wir die Zeit, die wir heute Abend haben, gleich ausnutzen und noch mehr von der Gegend des Berner Oberlandes präsentieren. Lassen Sie sich überraschen. Auf jeden Fall steht das Menü schon felsenfest: Raclette.“
„Das ist sehr nett, und ich habe auch schon vorgehungert“, antwortete Krüger.
„Aber Ihr Besuch hat ja einen sehr ernsten Hintergrund, Herr Krüger“, fuhr Brockmann fort. „Der Fall Terry Hennings ist sehr mysteriös für mich. Zuerst gab es dazu gar keinen Anlass. Wanderer fanden den Toten und benachrichtigten die Kantonspolizei. Die Identifikation war rasch geschehen. Die Leiche wurde von der Bergwacht geborgen, und der Fall wurde vom Eidgenössischen Polizeidepartement in Sion übernommen. Die Unfall- und Mordkommission in Bern wurde routinemäßig eingeschaltet, da es sich bei Hennings um einen Ausländer handelte. Mein Dezernat stellte damals einige Ermittlungen an, Sie wissen: Wohnort, Arbeitgeber, Familie recherchieren, Bekannte befragen und so weiter. Ich musste den Fall nach zwei Monaten entnervt zu den Akten legen, aber es blieben einfach zu viele Ungereimtheiten zurück. Wir fanden keine Spur für ein Verbrechen und keine Motive. Aber warum hatte man sein fahruntüchtiges Auto weitab auf einem Autobahnparkplatz in der Nähe von Thun gefunden? Warum war er nicht verabredungsgemäß in Kandersteg bei seinem Bekannten erschienen und hatte diesen auch nicht benachrichtigt? Stattdessen verunglückte Hennings tatsächlich auf einer ganz anderen Wanderroute, die außerdem für routinierte Bergwanderer harmlos war? Er hatte nirgends in der näheren Umgebung übernachtet. Er musste ja schon ziemlich weit oben in der Gemmi gewesen sein, als er ausrutschte und abstürzte, hatte aber seinen Proviant und seinen Wasservorrat nicht angerührt. Offensichtlich vermisste ihn SEEDAGRO gar nicht, und man erklärte, dass sich Hennings angesichts seiner überstrapazierten Arbeitssituation in einer Art stillschweigend vereinbartem Urlaub befunden habe. Wir fanden heraus, dass sich sein Mobiltelefon auf dem Parkplatz, auf dem man seinen Mietwagen fand, um exakt zweiundzwanzig Minuten nach seinem Anruf bei der Autobahnmeisterei aus dem Mobilfunknetz ausbuchte und auch nie mehr eingeschaltet wurde. Auch die zuletzt geführten Telefonate brachten uns nicht weiter. Zu gerne hätte ich gewusst, warum Hennings circa zwei Wochen vorher die russische Botschaft in Bern angerufen hatte. Dort nachzufragen war allerdings aussichtslos. Nur wenige Gegenstände aus seiner Wohnung wanderten in die Asservatenkammer: Eine Piaget Uhr, ein Montblanc Kugelschreiber und drei DVD-Filme, die wir im Auto fanden. Seltsamerweise handelte es sich um Originalhüllen, aber DVD Filmkopien. Die einzige Angehörige von Hennings, seine in London lebende Schwester, hatte wenig Interesse an den persönlichen Habseligkeiten. Sie nahm aus dem erst kürzlich von Hennings bezogenen Appartement ein paar Fotos, Briefe und Bücher mit. Die Polizei händigte ihr vor Ort noch seine Digitalkamera, einen Smartcardleser, einen DVD-Recorder und alle seine Wertsachen und Kreditkarten aus. Hennings wurde im selben Ort begraben, in dem seine Schwester lebt. Einer Autopsie der Leiche stimmte sie nicht zu, da kein Verdacht auf ein Verbrechen vorlag. Die intensive Durchsuchung seiner Wohnung in Genf und eine Analyse der Festplatte sowie aller E-Mails seit seiner Rückkehr aus Mexiko förderten nichts Verwertbares zutage. Seltsam war nur, dass man SEEDAGRO die Tatsache des Mexikoaufenthalts fast gewaltsam aus der Nase ziehen musste. Ich konnte die Mauer bei SEEDAGRO gegen die Ermittlungen förmlich spüren und wurde den Eindruck nicht los, dass es sich bei dem Verhalten von SEEDAGRO, möglichst knappe, aber gerade noch ausreichende Antworten auf meine Fragen zu geben, um eine verabredete Taktik handelte. Und dann passierte etwas Unvorstellbares: Die Fremdenpolizei von Genf rief uns an. Sie sind üblicherweise für die Gewährung der Aufenthaltserlaubnis von Ausländern zuständig. Der Leiter des Eidgenössischen Biologischen Instituts in Bern, Professor Boegli gab eine Aktennotiz an die Ausländerpolizei, nach der gegen Hennings in Mexiko Haftbefehl vorläge und man daher die Gewährung seines Aufenthaltsrechtes in der Schweiz doch kritisch prüfen solle. Unsere Recherchen ergaben jedoch, dass der Haftbefehl von den mexikanischen Behörden wieder fallengelassen worden war. Ich habe sogar die Originalübersetzung erhalten. Hier ist sie.“
Brockmann reichte Krüger die Abschrift.
„Hennings und der Chef von SEDDAGRO in Mexiko wurden tatsächlich wegen illegaler Freisetzung von gentechnisch veränderten Pflanzen angeklagt?“, fragte Krüger nach.
„Offensichtlich konnte man die Beschuldigungen aber nicht aufrechterhalten“, fuhr Brockmann fort, „weil die Labors abgebrannt sind und alle Beweismittel vernichtet wurden!“
„Ja, ich weiß“, sagte Krüger.
Brockmann schaute Krüger verdutzt an.
„Ich bin durch eine Recherche auf die Zeitungsmeldung aus Mexiko gestoßen“, sagte Krüger, „in der über den Brand in den SEEDAGRO-Labors von Oaxaca berichtet wurde. Der Brand passierte im selben Monat, in dem der Haftbefehl ausgestellt worden war. Und daraus habe ich natürlich entsprechende Schlussfolgerungen gezogen.“
„Aufgrund dieser Erkenntnisse haben wir den Druck auf SEEDAGRO verstärkt, aber die Antwort war stupide immer wieder dieselbe: Man habe sich nichts zuschulden kommen lassen und es habe zu keinem Zeitpunkt illegale Freisetzungen gentechnisch veränderter Pflanzen gegeben, darüber hinaus hätten sich der Haftbefehl und die Verdächtigungen als haltlos erwiesen, woraufhin der Haftbefehl wieder aufgehoben worden sei. Die Juristen von SEEDAGRO drohten sogar mit Verleumdungsklage. Die Manager, die ich damals befragte, sind noch heute in ihren leitenden Positionen. Schließlich schloss ich die Akte Hennings, gab sie in die Registratur, und der Fall ging als Bergunfall mit Todesfolge in die eidgenössische Statistik ein.“
„Wie heißen die befragten Manager und was ist ihre Funktion?“, wollte Krüger wissen.
„Jacques Durrance ist der Leiter der Forschung in Lausanne. Und Marco Helfiger ist der Forschungsvorstand. Die beiden stecken unter einer Decke und verbergen etwas, da fresse ich einen Besen.“
„Hennings Arbeitsplatz durften Sie nicht inspizieren?“, fragte Krüger.
„SEEDAGRO hätte das solange verhindert, bis sie alles, was wichtig war, beiseitegeschafft hätten. Außerdem hatte ich keine Rechtfertigung für einen Durchsuchungsbefehl, kein Richter hätte mich da unterstützt.“
„Dann wird wohl eine Reise nach Mexiko unumgänglich sein, um den Vorwürfen an SEEDAGRO vor Ort auf den Grund zu gehen. Wenn Sie mir den Kontakt des dortigen Staatsanwaltes geben, kann ich Sie gerne in die Ergebnisse der Recherche einbeziehen.“
„Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich glaube, Sie haben da mehr Möglichkeiten und Freiheitsgrade als ich. Da die Akte Terry Hennings geschlossen ist, wäre auch für mich eine Wiedereröffnung der Ermittlungen nicht einfach. Ich gebe Ihnen den Kontakt des Staatsanwaltes heute Abend.“
Brockmann ging zu seinem Schreibtisch und holte eine kleine Blechschachtel heraus.
„Darf ich einen Zigarillo rauchen?“
„Aber bitte, das ist schließlich Ihr Büro.“
„Trotzdem frage ich lieber vorher.“
Brockmann zündete sich den Zigarillo an und setzte sich wieder an den Besprechungstisch.
„Ich habe da noch eine Sache, in der ich Sie um strengste Vertraulichkeit bitte.“
„Selbstverständlich.“
„Gut. Wir überwachen die russische Botschaft und auch wichtige Plätze der Stadt mit Kameras. Das ist an sich nichts Bedeutsames. Aber offiziell tun wir so was natürlich nicht. Jedenfalls haben wir im Juni 2013 routinemäßig registriert, dass die Botschaftsangestellte Olga Gromskaja die Botschaft verließ. Sie fuhr später mit dem Tram zum Bahnhof. Auf dem Bubenbergplatz gibt es einen Eisstand vor einem Kaufhaus. Dort kaufte sie ein Eis und wurde von einem Mann angesprochen. Innerhalb von Sekunden übergab er ihr einen Umschlag, den sie blitzschnell in ihre Jackentasche steckte. Dieser Mann war Terry Hennings. Wir haben für diesen Zeitraum keine Mietwagenmeldung gefunden, also hat er wahrscheinlich von Genf nach Bern den Zug benutzt. Wir wissen nicht, was in diesem Umschlag war. Botschaftsangehörige anderer Länder wegen so einer Sache offiziell zu belästigen, würde niemals genehmigt. Ich dachte, ob Sie vielleicht Interesse haben, mit der Dame einmal zu reden. Wir können uns ja eine Geschichte einfallen lassen, und ich mache Sie vertraut damit, wo die Dame wohnt und welche Gewohnheiten sie hat.“
Krüger überlegte erstaunt.
„Gut. Da Sie verhindert sind, kann ich mir vorstellen, diesen Job zu übernehmen.“
„Das freut mich, mein siebter Sinn sagt mir, dass wir auf eine neue Spur kommen.“
„Was könnte das für eine Story sein, mit der ich die Dame bitte, mir etwas zu verraten?“
„Sie sind einfach ein guter Freund von Hennings, und er hat Ihnen noch wenige Tage vor seinem Tod mitgeteilt, dass er sich mit Ihnen kurzfristig treffen möchte. Sie wollen unbedingt seinen Tod aufklären, weil sich sonst niemand darum kümmert. Sie fahren die Edle-Ritter-Tour. Frau Gromskaja hat schon zweimal versucht, ihre Tochter in der Schweizer Schule anzumelden, angeblich spricht das Kind perfekt Deutsch. Immer wurde das aus prinzipiellen Gründen abgelehnt. Da könnten wir eventuell erneut darüber nachdenken.“
„Das ist mir zu vage. Können Sie wirklich den Schuleintritt regeln?“
„Nein, das können wir nicht anordnen, aber wir können dafür sorgen, dass das Mädchen einen fairen Aufnahmetest bekommt.“
„Das klingt doch schon besser“, sagte Krüger. „Sie können den Test bereits fest buchen: Ich bin überzeugt, dass Olga Gromskaja darauf anspringt.“
Es klopfte an der Tür. Dieselbe Frau, die Krüger am Empfang abgeholt hatte, steckte den Kopf hinein.
„Ober bittet um Unter“, sagte sie bedeutungsvoll und schloss wieder die Tür.
Brockmann lächelte.
„Sie entschuldigen, auch ich habe einen Chef, der mich dringend sehen will. Da ich nicht weiß, wie lange es dauert, schlage ich vor, dass ich Sie um achtzehn Uhr im Hotel abhole.“