Читать книгу Das Ende der Zukunft - Hans Jürgen Tscheulin - Страница 12
11. Breisach (Deutschland); April 2014
ОглавлениеDas Gewächshaus war riesig und lag in der Rheinebene, von der aus man den imposanten Hügel mit der Breisacher Kirche sehen konnte. Die Gewächsanlage und die umliegenden Felder gehörten der INTERSAAT GmbH. Der verantwortliche Meister für Pflanzenbau bekam gestern eine Charge Mais geliefert, bei welcher eine Keimkontrolle vorgenommen werden sollte. Der Meister bestimmte die Pflanzabteilung sechsundzwanzig im vorderen Drittel des Gewächshauses als Ort für die Pflanzung, und die Arbeiter brachten die Maissaat in frische, sterile Erde in ungefähr zehn Zentimeter Tiefe aus. Danach wurde die Abteilung mit dem beweglichen Zaun abgegrenzt. Über der Abteilung wurde die Tafel ausgefüllt: Mais Keimkontrolle; Sorte: Acapulco; Spezifikation: Saatgut; Datum. Das Ganze schloss mit dem Namen des verantwortlichen Meisters. Parallel wurden dieselben Daten von den Arbeitern in das Logbuch eingetragen. Das war ein Computerprogramm, in das sämtliche Vorgänge um Aussaat und Pflanzenvermehrung minutiös eingetragen wurde.
Die sterile Erde, die die Arbeiter ausbrachten, war längst belebt von zahlreichen Bodenorganismen, denn die Plastiksäcke hatten zahlreiche Lecks und lagerten seit Wochen im Freien. Eine typische Spezies, dem Menschen normalerweise unsichtbar, lebte bereits millionenfach in der vermeintlich sterilen Erde: Nematoden (Fadenwürmer). Sie sind ein universeller Tierstamm mit über zwanzigtausend Arten, die im Wasser, in der Erde, in und auf Tieren, Käfern und Spinnen leben. Neben harmlosen Nematoden verursachen ihre krankmachenden Artgenossen Flussblindheit und Elephantiasis. Besonders die Art Caenorhabditis elegans, von den Forschern C. elegans genannt, durchdrang die frisch ausgebrachte Erde in der Pflanzabteilung sechsundzwanzig. Nematoden haben einen komplizierten Verdauungstrakt, der wiederum von spezialisierten Bakterien besiedelt wird. Kürzlich entdeckte man in einer Bodennematode, die sich von toten Kadavern ernährt, eine bisher unbekannte Bakterienart. Nematodenmägen sind sehr effektive Bioreaktoren. Praktisch alle aufgenommenen organischen Substanzen werden von den Bakterien in Sauerstoff, Wasserstoff und Glukose umgeformt. Bisher zählte man in einem Nematodenmagen bis zu über fünfzig verschiedene Bakterienarten, die in einer Art symbiotischem Gleichgewicht miteinander die Nahrungsgrundstoffe erzeugen. Weil die Teilungs- und Vervielfältigungsmechanismen von Bakterien auch in einer Nematode nicht außer Kraft gesetzt sind, scheiden Nematoden ständig einen Teil der überschüssigen Bakterien wieder aus. Ob diese längere Zeit außerhalb des Nematodenmagens im Boden überleben, ist weitgehend unbekannt. Eine höchst bekannte Bodenbakterienart ist ebenfalls in Nematodenmägen zu Hause: das Agrobacterium tumefaciens. Dieses Bakterium ist die ideale Genfähre für fremde Gene.
Nach drei Wochen war die Keimprobe erfolgreich abgeschlossen. Dreiundneunzig Prozent aller Maissamen waren gekeimt und trieben gesunde und normal große Keimblätter aus. Das war ein gutes Ergebnis und zeugte von gesunden und leistungsfähigen Samen. Der Meister dokumentierte und fotografierte das Ergebnis und gab die Anweisung, den Abschnitt sechsundzwanzig wieder zu räumen. Die Ergebnisse des Versuchs sowie alle zugehörigen Daten und Fotografien wurden in einer zentralen Datenbank gespeichert. Die kürzlich ausgebrachte Pflanzerde wurde mitsamt den gekeimten Pflanzenresten in die große Komposthalle hinter dem Gewächshaus befördert. Der Genaustausch zwischen den Bakterien lief ohne Unterbrechung weiter.