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3. Oaxaca (Mexiko), Mai2103

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Roberto Hidalgo genoss die Cohiba und fühlte sich an diesem Abend satt und zufrieden. Das Restaurant im Hotel Regente am Place de la Constitution war eine Perle unter den Restaurants von Oaxaca. Hidalgos Blick schweifte vom Balkon auf den wunderschönen Platz. Musik und Stimmen flogen herüber. Sein Gesprächspartner war kurz in die Waschräume verschwunden. Komischer Kauz, dieser Engländer. Okay, er hat viel auf dem Kasten, aber er kriegt, verdammt noch mal die Zähne nicht auseinander.

Plötzlich stand Terry Hennings wieder am Tisch.

„Bestellen wir noch Kaffee?“, fragte Hennings.

„Natürlich, das ist das Mindeste, um einen solchen Abend abzuschließen“, antwortet Hidalgo und winkte dem Kellner.

Manchmal wurde Hidalgo aus dem Engländer nicht schlau. Wieso trank er nicht mal einen über den Durst? Warum war er so wortkarg, wenn es um seine Arbeit im Labor ging? Selbst er, Hidalgo, Leiter von SEEDAGRO in Mexiko, folgte der Anweisung, die Arbeiten von Terry Hennings nicht zu stören und ihm alle erdenkliche Unterstützung zu gewähren, die er wünschte.

„Sie leben schon über zwölf Monate hier, nehmen sich aber nie Zeit für Land und Leute. Sie gehen fast nie aus. Genießen Sie diese Stadt, die hübschen Frauen, das wunderbare Essen, und die berühmten Feste unserer Stadt“, sagte Hidalgo, um Hennings ein wenig aus der Reserve zu locken. „Selbst meine engsten Mitarbeiter fragen mich dauernd, warum Sie ihre vielen Einladungen ausschlagen. Ich betone dann immer, dass Sie nicht zum Vergnügen hier sind, sondern um zu arbeiten, aber das nimmt Ihnen auf die Dauer keiner ab. Deshalb würden Sie mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie ab und zu den Vorschlägen meiner Landsleute folgen und ihre Gastfreundschaft annehmen. Das würde auch unserem Betriebsklima guttun. Wissen Sie, wenn Sie einen guten Draht zu den Mexikanern pflegen, sind Sie eher akzeptiert, und dann bleiben auch dumme Fragen aus.“

„Was denn für dumme Fragen?“, meinte Hennings und schlürfte von dem mittlerweile eingetroffenen Espresso.

„Die Leute denken nach, Hennings“, sagte Hidalgo.

In der Tat wurde der blonde, gut aussende Engländer umschwärmt. Der schaute jedoch durch die Mexikaner hindurch, als existierten sie nicht.

„Sie machen sich Gedanken darüber, warum jemand ziemlich abgeschottet Tag und Nacht in einem eigenen Labor vor sich hin forscht. Dann entstehen natürlich Gerüchte. Sie wissen, dass Mexiko wegen der laschen Bestimmungen das ideale Übungsfeld für Agrarmultis und illegale Gentechnikexperimente war. Unsere Regierung hat durch ihr entschlossenes Handeln dem illegalen Treiben ein Ende gesetzt. Trotzdem erweckt jede Geheimniskrämerei sofort Argwohn.“

Hennings Handy klingelte. Mit einem Schulterzucken und einem leise gemurmelten „Sorry“ nahm er ab. Hidalgo sah, wie seine Gesichtszüge versteinerten. Grußlos beendete er das Gespräch. Was er eben gehört hatte, lähmte ihn völlig. Er sollte morgen verhaftet werden, ebenso Hidalgo. Dazu Labordurchsuchung, Aktenbeschlagnahmung, Wohnungsdurchsuchung. Er musste schnellstens verschwinden.

„Terry, was ist mit Ihnen los?“, fragte Hidalgo bestürzt. „Schlechte Nachrichten?“

„Ja, kann man wohl sagen. Meine Schwester! Es geht ihr nicht gut. Sie hatte einen Unfall. Ich fürchte, ich muss meinen Aufenthalt kurzfristig unterbrechen. Die Kinder, wissen Sie, die sind jetzt allein, sie brauchen Hilfe und Unterstützung. Ich muss das organisieren, sonst geht es schief. Wenn Sie erlauben, würde ich mich gerne zurückziehen und mich um meine Rückreise kümmern.“

Hidalgo zögerte einen Moment.

„Das ist natürlich eine besondere Situation“, antwortete er. „Kann ich Ihnen helfen? Ich könnte mich um die Flüge nach London kümmern.“

„Ich danke Ihnen, aber das ist nicht nötig. Jetzt muss ich erst mal meine Gedanken sammeln und mir einen Überblick über die Situation verschaffen. Danke für den netten Abend und die Gastfreundschaft. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich mich jetzt verabschiede.“

„Keine Ursache, bitte sagen Sie mir jederzeit, wenn ich helfen kann“, antwortete Hidalgo und erhob sich.

Vor dem Restaurant lehnte sich Hennings gegen eine Mauer und atmete tief durch. Wie sollte er vorgehen? Zuerst musste er die letzten Ergebnisse seiner Abschlussversuche aus dem Labor rausholen und die Spuren dieser Versuche beseitigen. Belastende Aufzeichnungen aus dem Labor gab es praktisch nicht. Er war doch kein Anfänger. Und die Unterlagen für die Freilandversuche? Bei genauerem Nachdenken war auch da nichts, worüber er sich Gedanken machen müsste. Aber wo war die undichte Stelle? Langsam wurde ihm die Tragweite bewusst. Haftbefehl! Was wollte man ihm vorwerfen? Niemand außer zwei Herren in der Firmenleitung in Lausanne wusste von seinen illegalen Forschungen. Und niemand konnte wissen, worauf es ihm bei den Freilandversuchen ankam. Vielleicht war der Mittelsmann, den er eingeschaltet hatte, um die Behörden zu beeinflussen, die undichte Stelle. Aber auch der wusste nur einen Bruchteil und wurde gut bezahlt. Und wegen Schmiergeld ist in Mexiko noch niemand unter die Räder der Justiz geraten. Er gab sich einen Ruck und nahm sein Handy.

„Ja, hallo?“, meldete sich eine verschlafene Stimme.

„Hallo, Jacques, hier spricht Terry Hennings.“

„Terry, warum zum Teufel reißen Sie mich aus dem Schlaf?“, knurrte Jacques Durrance.

„Wir haben hier ein kleines Problem. Ich soll morgen verhaftet werden, und die Labors und die Firmenräume sollen durchsucht werden. Diese Warnung bekam ich vor zehn Minuten. Wir sollten sie ernst nehmen.“

„Verdammt, was haben Sie angestellt! Sind Sie verrückt? Das ist ein unglaublicher Skandal! Was ist, wenn alles auffliegt? Ich kann meinen Hut nehmen!“, brüllte Jacques Durrance so heftig, dass Hennings sich automatisch umsah und fürchtete, gleich gebe es einen Menschenauflauf.

„Jacques, bitte beruhigen Sie sich“, bettelte Hennings. „Niemand wird irgendetwas finden. Aber ich muss weg, wir können es uns nicht leisten, dass ich für einige Wochen in die Mühlen der mexikanischen Justiz gerate. Wer weiß, wann man da wieder rauskommt. Ich brauche morgen früh einen Flug nach London. Dann müssen Sie Hidalgo warnen und auf den Besuch der Polizei vorbereiten. Sagen Sie ihm, dass SEEDAGRO mich offiziell wieder nach Lausanne zurückbeordert hat.“

„Hören Sie mir jetzt zu!“, schrie Durrance weiter. „Sie werden Ihren Arsch in das nächstbeste Flugzeug verfrachten, dann werden Sie alles, was ihren Aufenthalt dort unten in irgendeiner Weise mit Ihrer Tätigkeit in Verbindung bringt, vernichten. Sie sind ein harmloser Gastforscher aus Lausanne. Basta! Und wehe, wenn Sie nicht alle Ergebnisse Ihrer Forschung fein säuberlich aufgeschrieben und ausgewertet bis morgen Abend bei mir auf den Tisch legen! Dann Gnade Ihnen Gott! Die Verbindung brach ab. Hennings rief die internationale Nummer der British Airways an und buchte den Flug um sechs Uhr dreißig nach London. Den Weiterflug nach Genf wollte er im Flugzeug organisieren, um keine Spuren zu hinterlassen. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken.

Er raste zum Firmengelände. Ihm stachen sofort die Fahrzeuge und Menschen ins Auge, die sich am Firmeneingang drängelten. Es war jetzt immerhin nachts um halb zwölf.

Gerade raste mit wildem Hupen und Sirenengeheul ein riesiges Feuerwehrfahrzeug auf den Eingang zu. Das Gitter war zurückgeschoben, und er fuhr einfach hinterher. Niemand hielt ihn auf. Als er um die Hauptverwaltung herum Richtung Labor fuhr, sah er die Katastrophe. Aus dem Dach des Labors drangen dunkle, dichte Qualmwolken. Durch die Fenster leuchtete der Feuerschein. Fassungslos starrte Hennings in das Inferno. Er riss das Steuer herum und drängelte sich mühsam zurück. Schließlich erreichte er den Ausgang, verließ das Firmengelände, ohne aufgehalten zu werden, und fuhr durch die nächtliche Stadt zu seinem Appartement.

Seine Gedanken überschlugen sich. Der Brand konnte unmöglich ein Zufall sein, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen und fuhr mechanisch in das Parkdeck des Appartementhauses. Der Nachtportier grüßte ihn, als er in den Aufzug stieg. Er musste packen und gegen vier Uhr am Flughafen sein. Vor allem wollte er seine vielen geheimen Daten noch einmal sichern. Sein Verfahren war genial. Niemand kannte es. Man konnte es auch nicht im Laden kaufen. Nahezu beliebige Datenmengen und Datenarten ließen sich damit auf einer Film-DVD unterbringen. Niemand, der den Film anschaute, konnte ahnen, dass auf der DVD noch weitere unsichtbare Informationen schlummerten. Alles, was er brauchte, um sie wieder ans Tageslicht zurückzubringen, war seine Kreditkarte und sein Lesegerät für Smartcards. Beides hatte er nach seinen eigenen Ideen umgebaut. Die Verschlüsselungsmethoden, die ihm die Biologie jeden Tag vor Augen führte, waren unschlagbar. Er hatte den Verschlüsselungsalgorithmus bei dem Informationstransfer zwischen Bakterien herausgefunden, ein Programm geschrieben und den Smartcard-Leser mit handelsüblichen elektronischen Bauteilen von außen unsichtbar umgebaut. Die winzig kleine Infrarotschnittstelle zum Videorecorder konnte man nur bei genauerem Hinschauen erkennen. Das eigentliche Programm mit den wenigen Anweisungen war auf dem Chip seiner Kreditkarte gespeichert. Zwischen Computer und DVD-Recorder geschaltet sorgte das Gerät dafür, dass geheime Daten inmitten der digitalen Film-Datenbits für niemanden sichtbar verschwanden.

Hennings schloss die Wohnungstür auf und schaltete das Licht ein. Im Flur des kleinen Appartements lagen wild verstreut Kleidungsstücke und Zeitschriften, die Schubladen waren aus der Garderobe gerissen und zusammen mit dem Inhalt über den Boden zerstreut. Er schaute vorsichtig in den Wohnraum. Alle Lichter waren an. Auf dem Boden türmte sich eine Riesenschweinerei. Seine Schränke waren geleert, die Bücherregale umgekippt, der PC und der neue Flachbildschirm waren verschwunden. Im Schlafraum herrschte das gleiche Chaos. Jemand hatte etwas gesucht. Er suchte das Telefon und rief den Portier an.

„Hier ist Appartement dreiundvierzig, Terry Hennings. Sagen Sie, hat heute jemand nach mir gefragt, oder wollte mich jemand besuchen oder mir eine Nachricht hinterlassen?“

„Nein, nicht dass ich wüsste, es liegt auch keine Notiz von meinem Vorgänger vor. Tut mir leid, Sir.“

„Danke. Gute Nacht.“

Sofort suchte er nach seinen Video-DVDs. Jemand hatte sie aus den Hüllen entfernt und in eine Ecke geworfen. Gott sei Dank. Die drei DVDs mit seinen verschlüsselten Aufzeichnungen schienen alle unbeschädigt. Das waren Trottel, dachte er. Trotzdem war es knapp. Sie hätten die DVDs zerbrechen oder darauf herumtrampeln können. Stattdessen hatten die Eindringlinge (vielleicht war es ja auch nur einer) Aktenordner, Notizblöcke, und den PC mitgenommen.

Sie würden nichts finden.

Mutlos setzte er sich auf die Bettkante. Er würde vor allem kein Gepäck mitnehmen, wenn er zum Flughafen fuhr. Niemand durfte Verdacht schöpfen, dass er verreisen wolle. Er packte das Notwendigste einschließlich der drei DVDs mit dem Lesegerät in einen Rucksack. Dann duschte er, zog sich um und fuhr ins Erdgeschoss. Dem Nachtportier teilte er mit, dass er dringend in die Firma müsse, weil dort ein Brand ausgebrochen sei, was ja immerhin stimmte und außerdem glaubwürdig klang, denn der Fernseher neben dem Portiertisch zeigte einen aufgeregt gestikulierenden Reporter vor der von Scheinwerfern angestrahlten SEEDAGRO-Kulisse.

Den Flughafen erreichte er unbehelligt. Niemand schien ihm gefolgt zu sein. Er stellte den Wagen ab und verließ das Parkdeck in Richtung Check-in.

Das Ende der Zukunft

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