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21. Bern (Schweiz), Mai 2016

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Krüger frühstückte ausgiebig in seinem Hotel. Er wollte heute die Botschaftsangestellte Olga Gromskaja ansprechen. Brockmann hatte ihm berichtet, dass sie jeden Donnerstag in die Universitätsbuchhandlung ging, weil dort regelmäßig die neuesten russischen Bücher auslagen und man über das Internet ungestört in der neuen russischen Literatur schmökern konnte. Krüger inspizierte deshalb die Universitätsbuchhandlung und prägte sich die Lage der verschiedenen Räume und Abteilungen sowie deren Eingänge und Ausgänge gut ein. Es war eine auf vier Stockwerke verteilte, sehr verschachtelte Buchhandlung mit verschiedenen Treppen und Winkeln, Zwischenebenen, Balkonen und Galerien, was Krügers Absichten entgegenkam. Eventuelle Bewacher und Beobachter würden es schwer haben. Gegen Mittag wollte Hanna Losch in Bern sein. Sie hatte ihn angerufen, als er auf dem Weg in die Buchhandlung war, und sie hatten sich zum Mittagessen im Hotel verabredet. Hanna Losch wartete bereits in der Lobby, als Krüger aus der Stadt zurückkam. Sie lief ihm lächelnd entgegen und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten.

„Wartest du schon lange?“, fragte Krüger, erfreut über ihre Spontaneität.

„Nur seit zehn, vielleicht fünfzehn Minuten.“

„Ich habe uns einen Tisch reservieren lassen. Die Küche soll sehr gut sein.“

Als sie Platz genommen hatten, fragte Hanna:

„Was empfiehlt mir der Schweizexperte?“

„Wenn du Fleisch nicht verschmähst, dann ist ein guter Einstieg immer Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti. Ich werde das auf alle Fälle für mich bestellen.“

„Darf man fragen, was dich herführt?“, fragte Hanna.

„Ich arbeite an einem Artikel zu Biodiversität, und dafür muss ich mit verschiedenen Instituten und Umweltorganisationen sprechen“, antwortete er.

„Mir hat der Chef diesen Artikel zu den Agrarmultis aufgebrummt. Stell dir vor, es soll eine ganze Zeitungsseite werden. Ich weiß noch nicht, wo ich anfangen soll, und deshalb wäre ich für ein hilfreiches Gespräch mit dir sehr froh.“

Krüger war schnell weich geknetet.

„Mach ich gerne. Ich habe heute noch Termine, und es könnte knapp werden. Deshalb empfehle ich dir erst einmal diese Lektüre. Dazu habe ich dir eine Mappe vorbereitet, die du heute anfängst zu lesen. Du musst auch schnellstmöglich einen Termin bei SEEDAGRO buchen. Entweder mit Marco Helfiger, das ist der Vorstand für die weltweite Forschung, oder Jacques Durrance, dem Forschungsleiter in Lausanne.“

Hanna Losch strahlte.

„Marcel, du bist ein Engel! Soviel Hilfe habe ich ja gar nicht erwartet.“

„Morgen Vormittag können wir dann deine Fragen durchgehen und ein Gerüst für deinen Artikel bauen, einverstanden?“

Später buchte Hanna eine Übernachtung im selben Hotel, und anschließend tranken sie im Café in der Lobby noch einen Espresso, bevor sie sich zum gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen verabredeten.

Krüger gab seinen verschlüsselten Tagesbericht an die EIO weiter, verschwieg aber sein Treffen mit Hanna Losch. Am späten Nachmittag wartete er am Eingang der Universitätsbuchhandlung auf Olga Gromskaja. Er postierte sich in der Nähe des Eingangs, den sie mit großer Wahrscheinlichkeit nehmen würde, hatte es aber vermieden, ihr von der Botschaft bis zur Buchhandlung zu folgen, um bei eventuellen Bewachern kein Misstrauen zu erwecken. Nach einer Viertelstunde sah er sie tatsächlich von der Fußgängerzone auf die Buchhandlung zusteuern. Krüger wartete. Er sah einen Mann hinter ihr in die Buchhandlung gehen, der sich mit Blicken in verschiedene Richtungen absicherte, bevor er kurz nach Olga Gromskaja die Buchhandlung betrat. Es würde also schwierig, weil sie observiert wurde. Er hatte einen Zettel vorbereitet, den er so in ein Buch steckte, dass der Zettel leicht aus dem Buch hervorragte. Als Olga Gromskaja erwartungsgemäß am Stand mit den neuesten russischen Büchern aufkreuzte, legte er das Buch genau vor sie auf den Stapel. Kurze Zeit später griff sie danach und schlug an der Stelle mit dem kleinen Zettel auf. Sie las den Zettel und erstarrte zur Salzsäule. Krüger hatte sie auf dem Zettel direkt angesprochen und um ein Gespräch im Zusammenhang mit seinem Freund Terry Hennings gebeten, der ihr vor drei Jahren einen Umschlag überreicht habe. Außerdem erwähnte er auf dem Zettel, dass er für ihre Tochter einen Weg gefunden habe, eine Schweizer Schule zu besuchen. Er bat sie um einen Rückruf mit einem Mobiltelefon, das hinter den Büchern von Dostojewski versteckt lag. Sie solle es unauffällig an sich nehmen. Wenn sie auf den Widerholungsknopf drücke, erscheine automatisch die richtige Telefonnummer. Er sei übrigens ebenfalls in der Bücherei. Wenn sie vom Balkon schaue, sitze er unten in einem Lesesessel und lese gerade die Prawda. Sie solle den Zettel im Buch lassen, es wieder schließen und auf den Stapel mit den einzuräumenden Büchern legen. Alles Weitere würde er gern am Telefon mit ihr besprechen.

Olga Gromskajas Gedanken rasten. Könnte der Fremde ihr wirklich mit der Schule helfen? War es eine Falle der Botschaft? Sie war sicher, niemand wusste von Terry Hennings und dem Umschlag, den sie an Wassili Orgakow weitergegeben hatte. Oder war man ihr auf die Schliche gekommen? Sie hatte aber nichts Unrechtes getan, sondern Freunden einen Botendienst erwiesen. Wassili Orgakow hatte ihr gegenüber dargestellt, dass er Hennings nicht mehr erreichen könne. Sie hatte damals vergeblich bei der Telefonauskunft angefragt und in den alten Telefonbüchern aus dem Jahr 2013 gestöbert. Im Genfer Telefonbuch war er mit Adresse aufgeführt (2014 fehlte der Eintrag bereits wieder): 26, Rue Henry Dunant. Anschließend bat sie die Fremdenpolizei schriftlich um Auskunft, erhielt einen Einzahlungsschein über fünfzig Schweizer Franken zugeschickt und nach der Begleichung des Betrages die schriftliche Auskunft, dass Terry Hennings im Juli 2013 verstorben sei.

Olga Gromskaja klappte das Buch zu, legte es auf den Stapel und wandte sich Dostojewski im Bücherregal hinter ihr zu. Vorsichtig nahm sie aus der Mitte des Regals ein Buch heraus und sah dahinter ein kleines, silbernes Mobiltelefon liegen. Unauffällig ergriff sie es und ließ es aus ihrer Hand in die Manteltasche verschwinden. Dann schaute sie kurz über die Brüstung und prägte sich den Mann, der die Prawda las, sorgfältig ein.

Krüger sah, wie Olga Gromskaja den Laden verließ. Kurz danach verließ auch ihr Aufpasser gelangweilt die Buchhandlung. Krüger nahm seinen Zettel aus dem Buch und schaute, ob das Mobiltelefon noch da war. Es war verschwunden. Anschließend verließ er ebenfalls den Buchladen und spazierte in Richtung der Bundeshausterrassen mit Blick auf die Aare. Nach einer halben Stunde klingelte bereits sein Telefon. Die Nummer auf dem Display verriet ihm, dass Olga Gromskaja die Anruferin war.

„Hallo“, begrüßte er sie, „hier spricht Krüger. Danke, dass Sie angerufen haben.“

Er machte eine Pause, damit sie antworten und sicher sein konnte, dass Olga Gromskaja wirklich am Telefon war.

„Hier spricht Gromskaja. Sie wollten zurückgerufen werden. Wer sind Sie und was wollen Sie? Warum diese Geheimniskrämerei?“

„Weil Sie beschattet werden, vermutlich von Ihrer Botschaft. Frau Gromskaja, es geht um etwas ganz Einfaches, womit Sie mir sehr helfen und ich kann Ihnen vielleicht auch mit der Schule für Ihre Tochter helfen.“

„Wie wollen Sie das machen?“

„Das müssen Sie mir überlassen. Wollen Sie mir zuhören?“

„Gut. Sagen Sie, was Sie sagen müssen!“

„Sie haben kurz vor dem Tod meines Freundes Terry Hennings einen Umschlag bekommen. Darin waren wichtige Informationen, die er auch mir noch zukommen lassen wollte, wozu er aber vor seinem Tod leider nicht mehr kam. Es ging dabei um seine Experimente, die wir in einem gemeinsamen Labor weiterführen wollten. Wäre es Ihnen möglich, mir diese Informationen zurückzugeben?“

„Ich weiß nicht, was in dem Umschlag war. Den habe ich weitergegeben.“

„Darf ich fragen, an wen?“

„Nein, das dürfen Sie nicht.“

„Aber Sie können mir den Inhalt, der in dem Umschlag war, wieder besorgen?“

„Ich werde schauen, was sich machen lässt“, sagte Olga Gromskaja kurz angebunden.

„Wie lange brauchen Sie?“

„Hören Sie, ich kann Ihnen jetzt nichts versprechen. Wenn ich den Inhalt zurückbekomme, dann sage ich Ihnen Bescheid. Ich händige Ihnen aber das Material nur aus, wenn ich den Schulbescheid für meine Tochter schriftlich in Händen halte. Haben Sie das verstanden?“

„Ich danke Ihnen. Wir machen es genau, wie von Ihnen vorgeschlagen. Bitte schicken Sie mir eine kurze Nachricht auf mein Mobiltelefon, wenn Sie Genaueres wissen“

„Einverstanden.“

„Danke für Ihre Mühe und noch einen schönen Abend.“

Anschließend rief Krüger Brockmann an.

„Olga Gromskaja hat angebissen. Sie will mir die Informationen besorgen. Das Angebot mit der Schule für ihre Tochter hat sie überzeugt. Sie wird aber das Material erst aushändigen, wenn sie den schriftlichen Bescheid in der Hand hat, dass ihre Tochter eine Schweizer Schule besuchen darf.“

„Danke Herr Krüger, das haben Sie hervorragend gemacht. Die Frage, an wen sie es weitergegeben haben könnte, lässt sich sogar eingrenzen.“

„Aha! Was vermuten Sie?“

„Wir können ausschließen, dass der Empfänger in der Schweiz wohnte, denn dafür braucht man keine russische Botschaft als Übermittler. Ebenso können wir ausschließen, dass es jemand aus der Spionageszene ist, denn solch unprofessionelle Wege gehen die nicht. Es muss jemand in Russland gewesen sein, denn für Olga ist eine Weitergabe bis zum Empfänger in Russland einfach zu bewerkstelligen. Und es muss jemand gewesen sein, den Hennings privat kannte.“

„Meinen Sie, es macht Sinn, seinen früheren Bekanntenkreis zu recherchieren?“

„Nein, das ist unverhältnismäßig viel Aufwand. Warten wir erst mal ein paar Tage, ob Olga Gromskaja sich bei Ihnen meldet. Wenn sie nicht liefern kann, dann müssen wir selbst an seinen früheren Wohn- und Arbeitsstätten nachforschen.“

„Gut, Herr Brockmann, sobald ich etwas erfahre, rufe ich Sie wieder an.“

Krüger lief an den Bundeshausterrassen entlang und sog die Abendluft in sich auf, der die vielen Bäume und Blumen ihren eigenwilligen Duft dazu mischten. Mit der eigentümlichen Marzilli-Standseilbahn war er noch nie gefahren und probierte sie prompt aus. Langsam senkte sich seine Kabine in das untere Stadtviertel von Bern, das direkt an der Aare liegt und regelmäßig bei Hochwasser die Häuser und Gassen unter Wasser setzt. Einigen Häusern sah man die Strapazen an, die meisten sahen frisch renoviert aus. Er konnte bis ganz nach vorne an das Aare-Ufer gehen, beugte sich über das Geländer und sah nachdenklich auf die vielen Kiesbänke und das grauweiße Wasser, das sich seinen Weg durch den Schotter gebahnt hatte. Das Rauschen und Gurgeln des Wassers wirkte beruhigend. Sein Mobiltelefon klingelte. Es war Holmark.

„Hallo, Adrian“, meldete sich Krüger, der sich vom rauschenden Wasser wegdrehte.

„Hallo, Marcel. Ich bin fertig in Rom und auf der Fahrt zurück nach Den Haag.“

„Das ist ja eine tolle Überraschung. Dann treffen wir uns morgen Abend. Ich melde mich, wenn ich zurück bin.“

„Okay, dann bis morgen.“

Krüger setzte sich auf eine der vielen Parkbänke am Ufer und rief seinen alten Bekannten Joe McNorrish an. Er war Freiberufler und Ansprechpartner für die meisten EIO-Agenten, wenn es um Schwarzgeldanlagen ging. McNorrish meldete sich mit seinem gewöhnungsbedürftigen walisischen Akzent.

„Hier spricht Marcel Krüger aus Den Haag.“

Den Haag war das Erkennungszeichen für das EIO.

„Mein lieber Marcel, es gibt nur einen Marcel und einen Krüger. Schön, wieder was von dir zu hören. Wie ist das Wetter im Haag?“

„Ich bin noch in der Schweiz, Joe. Und ich brauche deine Hilfe.“

„Ah, wieder ein neues Nummernkonto eröffnet, nicht wahr? Ist aber auch nicht mehr das, was es einmal war, aber immer noch sicher. Leider achten jetzt auch die Schweizer Behörden sehr stark auf Geldwäsche. Sie tun das sehr diskret, und es gibt Fälle, in denen sie die Geldanlage verweigern. Also du bekommst dort kein Konto!“

„Joe“, sagte Krüger mit einem Lachen in der Stimme, „ich habe einen Verdächtigen, der eventuell Geld auf den Caymans zwischenlagert.“

„Du weißt, es ist nicht billig, das zu recherchieren.“

„Das geht in Ordnung.“

„Wie heißt der Knabe?“

„Jacques Durrance. Er war schon zweimal auf den Caymans und ist beide Male im Queen’s Resort abgestiegen. Das erste Mal im November 2012, das zweite Mal im Dezember 2014.“

„Nicht schlecht“, kommentierte McNorrish. „Kann bis zu einer Woche dauern, Marcel. Und schlimmstenfalls kommt heraus, dass wir es nicht herausbekommen!“

„Ich weiß, aber wir müssen es versuchen.“

„Ich tu mein Bestes, wie immer. Ciao.“

„Ich weiß, Joe. Mach’s gut!“

Das Ende der Zukunft

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