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16. Frankfurt (Deutschland); Mai 2016

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Die Fachkreise hatten es gemunkelt, Auguren wussten es schon lange, Wirtschaftsblätter hatten darüber spekuliert und die Betroffenen schwiegen standhaft bis zur letzten Sekunde: TELMAR CHEMIE & PHARMA wird SEEDAGRO kaufen. Über viereinhalb Milliarden Euro sollte der Kauf kosten. Die Pressekonferenz war für heute im Marriott in Frankfurt um Punkt elf Uhr vormittags anberaumt. Eine Stunde vor Beginn der Konferenz war vor dem Hotel der Teufel los. Die Presseleute trafen in Scharen ein. Krüger war mit dem Auto am Vorabend angereist und hatte sogar im Mercure ganz in der Nähe ein Zimmer bekommen. Er machte sich um acht Uhr zu Fuß auf den kurzen Weg. Am Hoteleingang herrschte um diese Zeit der normale Alltagsbetrieb. Gerade bauten mehrere Uniformierte einer Überwachungsgesellschaft eine Taschen- und Personenkontrolle vor dem Hoteleingang auf. Krüger schlüpfte noch schnell hindurch und setzte sich ins Café neben dem Foyer. Tief in der Morgenlektüre versunken, nahm er die junge Frau nicht wahr, die das Café betrat und nach einem freien Platz Ausschau hielt. Sie steuerte in einem Bogen auf den Tisch von Krüger zu und fragte höflich:

„Ist bei Ihnen noch ein Platz frei?“

Krüger sah überrascht auf und sah einer hübschen, dunkelblonden Frau im schwarzen Blazer und heller Hose in die grünen Augen.

„Ja bitte, natürlich, hier ist alles frei“, stammelte er.

Er verfluchte wie schon so oft, dass er in solchen Situationen reflexartig angenagelt war, dummes Zeug stammelte, anstatt sich aufzuschwingen, der Dame aus dem Mantel zu helfen (diese hier hatte allerdings keinen an), ihr den Stuhl elegant anzudienen und dem Ober (den gab es bedauerlicherweise auch nicht: es waren alles junge, unausgeschlafene Kellnerinnen) mit einer kurzen überlegenen Geste das Zeichen zum Auftauchen zu geben. Was blieb ihm also anderes übrig, sich wieder vorgeblich in seine Zeitung zu vertiefen?

Seine Tischnachbarin bestellte einen Cappuccino und ein Croissant.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch einmal belästige“, sagte sie und wartete, bis Krüger sie ansah. „Hanna Losch ist mein Name und ich bin in einer ziemlich peinlichen Situation. Besuchen Sie zufällig heute Vormittag die Pressekonferenz hier im Hotel?“

Krüger überlegte kurz und legte seine Zeitung zur Seite.

„Ja. Marcel Krüger. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich springe für einen Kollegen ein, der einen Unfall hatte. Nichts Schlimmes, Gott sei Dank. Die SMS von der Redaktion habe ich heute Morgen um sieben Uhr bekommen. Ich arbeite für die Wochenrundschau. Ich bin gleich losgefahren. Mir fehlt natürlich der ganze Hintergrund der Transaktion und ich bin in dieser Branche nicht so besonders sattelfest. Und da wollte ich einfach fragen, ob ich mit Ihnen … ich meine, ob Sie mir vielleicht mit ein wenig Hintergrundwissen aushelfen können. Das heißt, ich will nicht unhöflich erscheinen und mich an fremdem Wissen bereichern.“

„Ja, das ist nicht einfach“, antwortete Krüger. „Ich nehme an, Ihre Zeitung erwartet von Ihnen einen Artikel zur heutigen Pressekonferenz?“

„Ja. Wir haben in unserer Wochenausgabe logischerweise eine Rubrik über Wirtschaftsnachrichten. Dort soll für das kommende Wochenende unter anderem ein Artikel zur Übernahme von SEEDAGRO platziert werden. Insgesamt werden es eine bis anderthalb DIN-A-4-Seiten.“

„Gut. Der Artikel ist also nicht sehr lang. Dafür muss er natürlich alles Essenzielle und auch ein Teil der Vorgeschichte enthalten“, antwortet Krüger nachdenklich.

„Sind Sie auch Journalist?“, fragte Hanna Losch.

„Ja, freier Wissenschaftsjournalist.“

Hanna Losch sah ihn offen. Wenn sie’s recht besah, dann sah dieser Mann auch noch verdammt gut aus. Der extrem kurze Haarschnitt brachte seinen Typ gut zur Geltung und machte ihn betont männlich. Er war sportlich gekleidet, trug ein leichtes, helles Sakko, Jeans und ein offenes Hemd. Er hatte eine angenehme und sehr beruhigende Stimme, dachte sie und lehnte sich entspannt in ihren Stuhl zurück.

Jetzt erst sah Krüger, wie hübsch sie ihre Haare zurückgebunden hatte.

„Was ich Ihnen anbieten kann, ist, dass Sie mir möglichst viele Fragen stellen. Ich versuche, sie kurz und präzise zu beantworten. Dann sollten Sie für die Konferenz gewappnet sein. Wir müssen spätestens um zehn, also eine Stunde vor Beginn, im Saal sein, damit wir noch was mitbekommen.“

„Das ist ein guter Vorschlag.“

Sie reichte ihm ihre Visitenkarte. Krüger revanchierte sich. Über eine Stunde redeten sie im Café miteinander. Selbst beim Aufstehen brach ihr Gespräch nicht ab. Nur der Gong zu Beginn der Pressekonferenz konnte sie stoppen.

Vorne im Saal war ein Podium aufgebaut, darüber prangten die beiden Firmenlogos in riesigen Lettern. Sechs Herren saßen an einem Tisch, der mit gerafftem, blauem Damast überzogen war. Grelle Scheinwerfer versetzen das Podium in eine Lichthölle.

„Meine Damen und Herren“, begann einer der Sprecher, „mein Name ist Hans Ringer, ich bin Sprecher der Firma TELMAR CHEMIE & PHARMA hier in Frankfurt und darf Sie alle heute Morgen sehr herzlich zu der Pressekonferenz begrüßen.“

Dann stellte er die anderen Herren vor und erteilte schließlich dem CEO, Franc Hanel, ein asketischer Mittvierziger mit sehr grauen Haaren, das Wort.

„Meine Damen und Herren. Ich darf Ihnen heute mitteilen, dass TELMAR CHEMIE & PHARMA die Verhandlungen zur Übernahme der Schweizer Firma SEEDAGRO erfolgreich abgeschlossen hat und der Kaufvertrag vor wenigen Stunden auch von allen Gremien der beiden Firmen abgesegnet wurde. TELMAR CHEMIE & PHARMA hat damit ein wichtiges Etappenziel erreicht. SEEDAGRO hat nichts verloren, sondern wie bei einer Hochzeit haben wir eine Tochter hinzugewonnen. Dafür hat SEEDAGRO eine Mutter gefunden, die nur ein Ziel kennt: dass die Tochter in Selbstständigkeit hineinwächst und gedeiht. SEEDAGRO existiert definitiv weiter, dabei sprechen wir dem Arbeitsplatz Schweiz unser höchstes Vertrauen aus. Selbstverständlich haben wir dem Kanton Vaud und der Stadt Lausanne langfristige Arbeitsplatzgarantien gegeben, dabei streben wir an, dass SEEDAGRO im Verbund mit uns noch erfolgreicher werden kann. Wir haben diesen Schritt der Übernahme getan, damit wir für die kommenden Jahre im Kampf um Märkte und Kunden noch besser gewappnet sind. Mit dem Zukauf verbinden wir endgültig die Welt der Menschen, der Tiere und der Pflanzen.“

Krüger beugte sich zu Hanna Losch vor, die kräftig mitschrieb:

„Ziemlich schwülstiger Käse.“

Anschließend spulte der Finanzchef die neuesten Zahlen, Daten und Fakten der beiden Unternehmen runter. Bemerkenswert war, dass niemals Begriffe wie Arbeitsplatzabbau, Sparmaßnahmen und Reduzierung auf das Kerngeschäft vorkamen. Die gesamte Arrondierung des internationalen Vertriebsnetzes und die Filialrestrukturierung im Ausland wurden nicht erwähnt. Das würde bei den Journalisten sicher jede Menge Fragen auslösen. Krüger hielt die Präsentation bisher für sehr ungeschickt.

Nun kündigte der Pressesprecher Marco Helfiger, Forschungsvorstand von SEEDAGRO, an. Bezeichnenderweise saß der jetzige CEO von SEEDAGRO nicht mit auf dem Podium.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren“, begann Helfiger mit dem typischen schweizerischen Akzent. „Der Kauf der SEEDAGRO durch TELMAR CHEMIE & PHARMA bedeutet einen Meilenstein für uns. Sie sehen auf den Weltmärkten überall ähnliche Konzentrationsbewegungen. Chemie-, Pharma- und Nahrungsindustrien versammeln sich unter einem Dach. SEEDAGRO ist zwar an sich schon eine große Firma, aber mittelfristig hätten wir ohne starke Partner oder ohne starke Mutter den Kürzeren gezogen. Vor allem die Forschung wird davon profitieren. Der Zusammenschluss bringt unseren Forschungseinrichtungen Synergien, die bislang undenkbar waren. Denken Sie an die Zellforschung im Tier und Pflanzenreich, deren Erkenntnisse nun unmittelbar ausgetauscht werden können. Endlich kann die gemeinsame Forschung neue Fragestellungen viel effektiver angehen. Dennoch werden wir auch zukünftig dafür sorgen, dass unsere Forschung weiterhin auf zwei Eckpfeilern steht: der Grundlagenforschung und der anwendungsbezogenen Forschung.“

„Seltsam, es fiel kein Wort über Gentechnik und Biotechnologien, wandte sich Krüger an Hanna Losch. „Gerade da warten enorme Umsätze. Und sie haben auch nichts von den Forschungseinrichtungen erwähnt, die beide Konzerne im Ausland betreiben. Ebenso interessant ist die Pflanzenschutzsparte von TELMAR CHEMIE & PHARMA. Wird sie in SEEDAGRO integriert? Denn Pflanzenschutz und Gentechnik im Pflanzenbau gehören bei anderen Agrarmultis zusammen wie der Topf und der Deckel.“

Hanna Losch sah ihn fragend an.

„Pflanzenschutz ist eine klassische Sparte der Chemie“, erklärte er, „die sich zuerst mit brachialen Methoden und später mit ausgeklügelten Substanzen auf die Jagd nach Insekten, Unkräutern und Pilzen spezialisierte. Oft hatte die erste Generation der Mittel entsetzliche Nebenwirkungen - denken Sie nur an DDT -, weshalb diese seit vielen Jahren überall verboten sind. Dann ermöglichten Pflanzengenetiker die Aufrüstung der Selbstverteidigung der Pflanzen und zu guter Letzt gibt es heute Nutzpflanzen, die im Zusammenspiel mit verträglicheren Unkrautvernichtungsmitteln überleben, weil die Gentechniker sie gegen bestimmte Unkrautvernichtungsmittel immun gemacht haben.“

„Ja, davon habe ich schon gehört“, sagte Hanna Losch. „Aber warum gehen die auf so wichtige Punkte nicht ein?“

„Warten wir es ab, ich kann mir darauf auch keinen Reim machen, außer sie vermeiden konsequent alle typischen Reizworte, um keine dummen Fragen zu provozieren“, meinte Krüger.

Inzwischen neigte sich der Reigen der Sprecher dem Ende zu. Langsam ebbte auch das Blitzlichtgewitter ab. Die Journalisten wurden gebeten, für ihre Fragen die Saalmikrofone zu nutzen. Maximal eine Stunde war für Fragen reserviert.

Die ersten Fragen drehten sich um die Genehmigung durch die EG-Kommission und die Schweizer Wettbewerbskommission. Die Herren auf dem Podium rechneten zuversichtlich mit der Genehmigung, da das Marktgefüge und der Markteinfluss nicht verschoben würden.

Die nächsten Fragen kreisten um Arbeitsplätze und Einsparungen, die durch den Zukauf möglich würden. Doppelarbeit und Doppelforschung würden eingestellt und gestrafft, vermuteten die Journalisten. Die Antworten waren simpel: Da SEEDAGRO eine Ergänzung und Abrundung des Firmenkonglomerats darstelle, hieß es, ginge es nicht wie bei anderen Zusammenschlüssen um die Erreichung einer neuen Größe und Erzielung von Einsparungen, sondern um die Ergänzung des Produktportfolios. Deshalb sei die Einsparung von Arbeitsplätzen nicht vorrangig.

Jemand stellte eine Frage zum Thema Gentechnik, was der Auftakt zu einer ganzen Reihe kritischer Fragen führte, die die ölige Eloquenz der Manager verdampfen ließ. Eine Journalistin fragte, ob man die Strategie beibehalte, alles, was wachse und lebe, möglichst zum Patent anzumelden? Helfiger reagierte darauf gereizt und keineswegs souverän. Man könne nicht das Feld den anderen Konzernen überlassen, meinte er. Man wolle schließlich Lizenzgebühren erhalten und nicht bezahlen. Außerdem sei die Patentierbarkeit in den einzelnen Bestimmungen der EU, in den USA und in anderen Ländern klar geregelt. Doch die Journalistin hakte nach. Sie wollte wissen, ob man GURT-Technologien (Gen-Usage-Restriction-Technology) oder TPS-Technologien (Technology Protection System) in der Forschung aktiv betreibe. Wieder wurde die Frage an Marco Helfiger verwiesen. Man halte sich an die Konventionen und internationalen Moratorien, antwortete Helfiger frostig, außerdem hätten die Konzerne und Forschungseinrichtungen beschlossen, die Entwicklung solcher Technologien auf freiwilliger Basis auszusetzen. Daran halte man sich. Im Übrigen sei das Thema sehr komplex. Deshalb nützten viele Firmen auch andere Methoden vor dem illegalen Nachbau geschützter Sorten, dabei nannte er vor allem die Hybridzüchtung von Pflanzensamen.

Hanna Losch schaute Krüger fragend an.

Krüger neigte sich zu ihr.

„Lassen Sie uns rausgehen, das war der Höhepunkt, jetzt kommt nichts Aufregendes mehr.“

Im Foyer schlug Krüger vor, eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen.

„Ich habe Hunger wie ein Bär“; sagte sie. „Ich kenne hier um die Ecke einen Griechen, der kocht himmlisch gut, und die Gäste suchen sich die Zutaten direkt in der Küche aus.“

„Gute Idee“, sagte Krüger, „da können Sie mir gern noch ein paar Löcher in den Bauch fragen, damit ich richtig Hunger bekomme.“

Das Ende der Zukunft

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