Читать книгу Das Ende der Zukunft - Hans Jürgen Tscheulin - Страница 14
13. Zürich (Schweiz); April 2016
ОглавлениеDer Beginn der außerordentlichen Sitzung des SEEDAGRO Verwaltungsrats war für zehn Uhr im alten Zürcher Zunfthaus an der Limmat angesetzt. Pünktlich trafen die acht Mitglieder und der Vorsitzende ein. Marco Helfiger war neben dem CEO von SEEDAGRO das zweite Verwaltungsratsmitglied aus der Firmenleitung. Heute gab es nur einen einzigen Punkt auf der Agenda: die Kaufofferte von TELMAR CHEMIE & PHARMA aus Frankfurt, kurz TCP genannt. Die Offerte war noch geheim. Die Wirtschaftspresse und die betroffenen Branchen hatten bisher nur Mutmaßungen geäußert. Viele Börsianer spekuliertem seit Langem vortrefflich darüber, dass SEEDAGRO ein typischer Übernahmekandidat sei. Die Geschwindigkeit und Aggressivität, mit der TELMAR CHEMIE & PHARMA ans Werk gegangen war, wurde von SEEDAGRO unterschätzt. TELMAR CHEMIE & PHARMA hatte die Übernahme perfekt eingefädelt und im Vorfeld über Monate heimlich Anteile an SEEDAGRO gekauft, ohne Aufruhr auf dem Börsenparkett zu erregen. Der Rest war pure Überrumpelung. Die Aktionärsversammlung würde zwar das letzte Wort haben, allerdings war der Preis pro Aktie, den TELMAR CHEMIE & PHARMA bot, auf so hohem Niveau, dass TELMAR CHEMIE & PHARMA mit keinerlei Widerstand vonseiten der Aktionäre rechnete.
Das riesige, holzgetäfelte Sitzungszimmer war ein spätmittelalterliches Kleinod und diente früher als Zentrum für die städtischen Zünfte.
Der Verwaltungsratspräsident eröffnete die Sitzung, indem er das vorliegende Angebot erläuterte. Danach gab er seine persönliche Wertung der Situation.
„Dies ist vielleicht meine letzte Aktion als SEEDAGRO-Verwaltungsratspräsident. Wir sind aufgerufen, als Verwaltungsrat ein Votum für die Aktionärsversammlung abzugeben. Bedingungen, meine Herren, kann SEEDAGRO in der gegenwärtigen Situation nicht mehr stellen. Trotzdem offeriert TELMAR CHEMIE & PHARMA in den Übernahmestatuten langfristige Garantien für das eigenständige Geschäft und die Arbeitsplätze. Allerdings ist zu erwarten, dass TELMAR CHEMIE & PHARMA die Forschungsaktivitäten von SEEDAGRO stark mit den eigenen Aktivitäten koordiniert. Vermutlich wird die Grundlagenforschung im Bereich der Gentechnologie sogar zusammengelegt. Offensichtlich hat TELMAR CHEMIE & PHARMA viel Insiderwissen über uns gesammelt, und wir müssen damit rechnen, dass sofort nach der Genehmigung der Übernahme durch die Wettbewerbshüter hier in der Schweiz und in Brüssel TELMAR CHEMIE & PHARMA mit einem größeren Team in unserem Hauptquartier aufmarschiert. Aus Sicht von TELMAR CHEMIE & PHARMA ist der Kauf von SEEDAGRO logisch. Wir sind in der Welt die Nummer zehn und auf Dauer zu klein, um zu expandieren. Biologie, Chemie und Pharma unter einem Dach macht Sinn, weil die Themen dieser drei Branchen immer mehr ineinandergreifen und die Abhängigkeiten ständig wachsen. Denken wir nur an das Thema der nachwachsenden Rohstoffe, die die Energieversorgung revolutionieren oder die vielen unerforschten Pflanzenwirkstoffe und deren Anwendung in der Medizin. Ich schlage nun eine dreißigminütige Pause vor, danach plane ich circa ein bis zwei Stunden Aussprache. Zum Schluss, meine Herren, stimmen wir über die vorliegende Empfehlung ab. Ich danke Ihnen.“ Mit diesen Worten erhob sich Helfiger, verließ den Raum und ging zum Ausgang des Zunfthauses, wo er versuchte, Jacques Durrance auf seinem Handy zu erreichen.
Durrance meldete sich sofort.
„Hallo Marco, na wie steht’s in Zürich?“
„Be … scheiden“, antwortete Helfiger. „TELMAR CHEMIE & PHARMA wird uns schlucken, und zwar schneller, als wir alle dachten. Jacques, du musst deshalb alle verdächtigen Unterlagen zu Terry Hennings komplett vernichten. Niemand darf mehr etwas darüber finden. Vernichte auch die Mails und gehe deine Notizen nach alten Aufzeichnungen durch.“
„So ein Mist“, seufzte Durrance, „uns bleibt auch nichts erspart. Okay, ich mach mich gleich an die Arbeit. Es wird aber eine Weile dauern, bis alles gesichtet ist. Ich will ja nur alle Spuren in Richtung Terminatortechnologie beseitigen. Andere Themen, an denen Hennings gearbeitet hatte, lassen wir unverändert. Schließlich können wir seine fünf Jahre in der Forschungsabteilung nicht verheimlichen, Das würde nur zu unangenehmen Fragen führen. Nein, das Beste ist, wenn alles, was Hennings gemacht hat, normal aussieht und für alle zugänglich ist. Dass seine Unterlagen nicht vollständig sind, wird nie jemand erfahren.“
„Danke, Jacques, ich erledige es so, wie von dir vorgeschlagen.“
„Aber pass bitte auf, dass deine Aktivitäten niemandem auffallen.“
„In Ordnung. Was passiert denn mit uns, wenn die Deutschen uns gekauft haben?“, wollte Helfiger wissen.
„Das weiß zurzeit keiner“, antwortete Durrance. „Welche Stühle wackeln, ob alle, oder keiner - wir sind im Moment auch alle ratlos. Da ich dem Management der Firma angehöre, dürften meine Tage wahrscheinlich gezählt sein. Wie sie mit der zweiten Führungsebene umgehen werden: wer weiß? Mach dir dazu im Moment keine allzu großen Gedanken. Wir machen den Job sowieso nur zum Spaß, damit es nicht auffällt, dass wir eigentlich nicht mehr arbeiten müssten. Jedenfalls kannst du noch ruhig schlafen, denn offenbar berührt dich die Sache mit Hennings nicht. Ehrlich gesagt, ich denke oft an unseren Vertrag mit dem Chinesen und habe Angst, dass unser Deal auffliegt.“
„Jacques, bitte beruhige dich, es gibt keinen Grund, dass irgendjemand etwas über diese Geschichte erfährt.“
Helfiger klang ungehalten.
„Wenn du dich nicht beruhigst, lenkst du nur unnötig Aufmerksamkeit auf dich, machst Fehler, und niemand versteht, warum du so nervös bist.“
„Ja, ich weiß, du hast Recht. Ich mache mir zu viel Gedanken“, schloss Durrance das Telefonat.
Die Sitzungspause war fast vorbei, und die Verwaltungsräte kehrten in das Zunftzimmer zurück. Der Präsident eröffnete die Aussprache. Fast alle Verwaltungsratmitglieder begrüßten eine Übernahme und sahen mehr Vor- als Nachteile auf SEEDAGRO zukommen. Die Verhandlungen mit TELMAR CHEMIE & PHARMA sollten auf jeden Fall aufgenommen werden, um die eigenen Positionen und Vorstellungen optimal durchzusetzen. Ein Verwaltungsratsmitglied war gegen die Übernahme, da er darin den Ausverkauf eines weiteren Schweizer Unternehmens an Ausländer sah. Er votierte für die Unabhängigkeit des Unternehmens. Die abschließende Abstimmung ergab eine großzügige Zweidrittelmehrheit für die Annahme des Angebots. Der Verwaltungsrat beschloss einen Verhandlungskatalog und delegierte diesen Punkt an die Unterhändler des Verhandlungsteams, das aus dem CEO, dem Finanzchef sowie zwei Verwaltungsräten unter Hinzuziehung einer renommierten Kanzlei bestand, mit dem Auftrag, möglichst viele der beschlossenen Forderungen durchzusetzen.