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2. Oaxaca (Mexiko), Mai2103
ОглавлениеAlfonso Perreira lud im Morgengrauen die Hacken und Schaufeln mitsamt einem Leinensack gestrigen Brotes und drei Plastikflaschen Wasser auf den Hänger, und warf den Traktor an, ein übrig gebliebenes Erbstück deutscher Entwicklungshilfe der Marke Fahr. Wie jeden Tag seit über zwanzig Jahren sprang er auf wundersame Weise an. Damals hatten sich deutsche Entwicklungshelfer in Heerscharen um die Kooperative gekümmert und sie mit moderner Technik aufgerüstet. Immerhin waren dabei ein Mähdrescher, ein Vorratsgebäude, ein Tiefbrunnen, eine Saatgutbeizanlage und sogar ein kleines Kooperativenzentrum herausgesprungen, das heute noch den gesellschaftlichen Mittelpunkt der Bauern in der Kooperative bildete. Hier brannten sie heimlich ihren Schnaps und beendeten ihr Tagwerk, bis sie oft spätabends von ihren schimpfenden Frauen unter wüsten Drohungen nach Hause verfrachtet wurden.
Perreira hatte sieben Kinder. Die beiden ältesten Söhne arbeiteten illegal bei den Gringos. Die älteste Tochter hatte vor kurzem einen Beamten des Innenministeriums geheiratet. Die anderen vier Kinder gingen noch zur Schule und halfen auf dem Hof.
Er fuhr an den weiß gekalkten Häusern des Dorfes vorbei, drei wartende Bauern warfen ihre Schaufeln auf den Hänger und sprangen wortkarg auf. Es war kühl, sie gaben sich den schaukelnden Bewegungen hin, die der holprige Feldweg verursachte, und vergruben sich vor der Staubwolke unter ihren Ponchos. In diesem Jahr konnte sich die Kooperative keine Unkrautvertilgung mehr leisten und so mussten sie täglich selbst die ausgekeimten Maispflanzen vom Unkraut befreien.
Die Bauern auf dem Hänger riefen laut zu Perreira.
„Stopp, Alfonso. Fahr doch rechts rüber. Schaut euch das Feld da drüben an, das wir gestern gesäubert haben.“
Alfonso stoppte. Sie sprangen vom Hänger und rannten zum Feld. Als sie davorstanden, waren sie sprachlos. Die etwa zwanzig Zentimeter hohen Maispflanzen waren beinahe restlos umgefallen. Die wenigen aufrechten Pflanzen sahen krank aus, und es gab keinen Zweifel, dass sie in Kürze das Schicksal ihrer Artgenossen teilen würden.
„Da hat uns jemand übel mitgespielt“, sagte Roberto.
„Du spinnst“, sagte Perreira, „hier wohnen überall genauso arme Schlucker wie wir.”
„Aber dann erkläre mir gefälligst diese Sauerei“, meuterte Roberto.
„Ich habe auch keine Erklärung“, raunzte Perreira, „vielleicht ist es irgendein neuer Schädling. Lass uns Paolo rufen, der soll Bodenproben nehmen und die Pflanzen untersuchen, dazu ist er verpflichtet.“
„Ach was, der liegt wieder besoffen im Bett und kriegt vor Mittag kein Bein auf die Erde!“, rief Roberto wütend. „Wenn wir uns nicht selbst helfen, hilft uns keiner.“
„Dann machen wir eben seinen Job und bringen ihm die Sachen hin“, rief Perreira. „Der Gauner ist uns noch einiges schuldig, der hat mit Sicherheit wieder am Saatgutverkauf mitverdient.“
Sie gruben die abgestorbenen Pflanzen mitsamt den Wurzelballen aus und legten alles auf den Hänger. Anschließend fuhren sie ins Dorf zurück, wo Perreira vom Telefon des Dorfladens Paolo, den Landinspektor, anrief. Paolo klang wider Erwarten munter und versprach, sofort herzukommen.
Die Nachricht vom erkrankten Feld ging wie ein Lauffeuer durchs Dorf. Als Paolo auf dem Dorfplatz aus seinem alten Auto stieg, redeten alle gleichzeitig auf ihn ein. In einer Traube marschierten sie zu dem Hänger. Paolo sah sich die Pflanzen genau an und schüttelte vorsichtig die Erde von der Wurzel.
„Die Wurzel ist krank“, meinte er, „seht ihr: Die Wurzeln sind grau. Und hier sogar schwarz.“
„Aber das hat doch eine Ursache“, sagte Perreira.
„Du bist ein schlaues Kerlchen. Meinst du, dass ich das nicht selber weiß?”
„Dann unternimm was“, sagte Perreira.
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte der Landinspektor.
„Lass die Pflanzen und die Erde untersuchen“, schlug Perreira vor.
„Soll ich etwa wegen jeder umgefallenen Pflanze das Parlament einberufen? Wie stellst du dir das vor? Weißt du, was eine solche Analyse kostet? Und wer zahlt das, he? Hast du eine Ahnung, wie lange man auf das Ergebnis wartet?”
„So was haben wir auf jeden Fall noch nicht erlebt“, sagte Perreira. „Das ist neu. Deshalb musst du was unternehmen.“
„Okay, aber dann müsst ihr die Analyse zahlen.“
„Auf gar keinen Fall!“, rief Perreira empört. „Du bist verpflichtet, was zu tun. Vielleicht handelt es sich um eine gefährliche Krankheit, und das muss die Regierung verhindern.“
„Hör mal, du Klugscheißer“, sagte Paolo, „wenn sich herausstellt, dass ihr den Schaden selbst angerichtet habt, weil ihr mit irgendeinem Mistzeug was in den Boden gegossen habt, reiße ich euch den Arsch höchstpersönlich auf.“
Paolo ging zum Anhänger, steckte einige der schlappen Maisschösslinge in den Sack und schoss in einer Staubwolke von dannen.
Nach einer halben Stunde kam er zu Alfredos Tankstelle. Er stellte das Auto in den Schatten und trat auf die Terrasse der heruntergekommenen Spelunke neben der Tankstelle.
„He Paolo“, sprach ihn einer der herumlümmelnden Gäste an, „bist du schon munter?”
„Trink deinen Fusel und lass mich in Ruhe!“, fauchte ihn Paolo an und ging zum Telefon, das auf dem Gang neben der stinkenden Toilette angebracht war. Er kannte die Nummer inzwischen auswendig.
„Hallo“, meldete sich eine Männerstimme.
„Ich bin es, Paolo“, sagte der Landinspektor.
„Was willst du“, fragte ihn die Stimme.
„Seit heute Morgen haben wir den achtzehnten Fall in der Provinz, drüben in Funcheira, einem kleinen Dorf.“
„Verhalt dich einfach ruhig wie immer. Du kommst ja wohl nicht zu kurz“, sagte die Stimme.
„Ich falle auf, wenn ich die Fälle nicht in der Zentrale melde. Irgendwann finden die Bauern das raus, und dann bin ich geliefert.“
„Jetzt gerat nicht in Panik, keiner der Bauern wird sich bei der Zentrale über dich erkundigen. Sage ihnen einfach nach ein paar Wochen, dass die Analysen nichts ergeben haben. Hast du verstanden?”
„Die Bauern sind nicht so dumm. Die fragen nach …“
„Hör auf zu lamentieren“, unterbrach die Stimme. „Du verdienst jedes Jahr an dem Saatgut mit, das wir an die Bauern verkaufen. Es ist unter Garantie okay.“
Paolo verdrehte die Augen.
„Bei den ersten fünf Proben haben wir nichts, absolut nichts gefunden“, antwortete er. „Ich kann doch eins und eins zusammenzählen. Ihr habt uns dieses Jahr irgendeine Junksaat verkauft, irgendeinen Scheißabfall, der nichts taugt.“
„Reiß dich gefälligst zusammen. Wir kommen jederzeit auch ohne dich aus, und wir können deinem Chef gerne einen Hinweis auf dein empfangsbereites Portemonnaie geben. Vergiss eins nicht: Ich sage nie etwas zweimal“, sagte die Stimme und unterbrach das Gespräch.
Paolo knallte den Hörer auf die Gabel.
„Blödmann!“
Allmählich wurde ihm dieses Geschäft zuwider. Am Anfang versprach man ihm ein gefahrloses Zubrot, wenn er das Saatgut wie vorgegeben an die Bauern verteilte. Und jetzt machten ihm die Bauern die Hölle heiß. Zornig riss er eine Packung Zigarillos auf, obwohl er aufgehört hatte zu rauchen. Sein Verlangen siegte … wie immer!
Er ging zum Wagen zurück, ließ sich in den Fahrersitz fallen und zündete den Zigarillo an. Genüsslich zog er den Rauch ein und fuhr los.
„Na, Paolo, jetzt fährst du doch sicher zur landwirtschaftlichen Untersuchungsstelle“, sagte eine Männerstimme aus dem Fond des Autos.
Sein Zigarillo fiel ihm auf die Hose.
„Verdammt, sind Sie verrückt? Sofort raus aus meinem Wagen. Was haben Sie hier zu suchen?“
Er trat auf die Bremse, sprang aus dem Wagen und riss die Türe auf.
„Raus! Sofort raus!“
Weiter kam er nicht. Sein Blick fiel auf die Medaille. Verdammter Mist: ein Bulle. Der Polizist, der in Zivil gekleidet war, blieb einfach sitzen.
„Steig wieder ein, Paolo“, sagte der Beamte. „Wir müssen reden. Fahr am besten zur Finca Rosso, dort können wir einen Happen essen. Und dabei kannst du mir ganz entspannt eine Geschichte erzählen.“
„Was für eine Geschichte? Ich bin schlecht im Geschichtenerzählen“, antwortete Paolo.
„Zum Beispiel über deinen Nebenverdienst. Oder über die Beschwerden der Bauern, die du nicht weitergibst.“
Paolo versuchte, Ruhe zu bewahren. Was wusste der Typ schon? Schmiss einfach auf Verdacht ein paar Vermutungen in den Ring.
„Du bist nur ein kleiner Fisch, Paolo“, fuhr der Beamte fort. „Wir sind hinter den großen Fischen her. Wenn du uns aber weiterhilfst, könnten wir bei dir schnell ein ganz schlechtes Gedächtnis bekommen. Allerdings, gegen die düpierten Bauern können wir dich nicht in Schutz nehmen.“
„Also gut, dann lassen Sie uns zur Finca Rosso gehen“, meinte Paolo.