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6. Lausanne (Schweiz), Juni 2013

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Marco Helfiger nahm nur kurz Notiz vom herrlichen Panorama, das sich von der Terrasse des Hotel Au Lac bot. Am anderen Ufer erkannte man deutlich Evian, den kleinen, aber berühmten französischen Ort am See. Das französische Genferseegebiet wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt. Es gab immer wieder Zwischenfälle, weil Flüchtlinge nachts versuchten, über den See zu schwimmen. Deutsche Patrouillenboote suchten regelmäßig den See mit starken Scheinwerfern ab. Schweizer Boote des Grenzschutzes markierten genau die Staatsgrenze, die von den Nazis respektiert wurde. Die entkräfteten Flüchtlinge wurden in der Seemitte von unbeleuchteten und wendigen Booten empfangen. Oft fielen im Dunkeln Schüsse am anderen Ufer. Alle Menschen auf dieser Seeseite hassten die Nazis.

Helfiger riss sich los von der dunklen Vergangenheit und schaute auf das in die milde Abendsonne getauchte Montblancmassiv, das die anderen Berge mühelos überragte. Seit über dreißig Jahren genoss er diesen Anblick. Als Jacques Durrance von einem Kellner begleitet auf seinen Tisch zusteuerte, wurde er jäh in die Gegenwart zurückgerissen.

„Na, hast du die Sitzung mit deinen Jungs gut überstanden?“, fragte Helfiger belustigt.

„War nicht einfach. Forschung überrascht immer wieder, mein lieber Marco. Vor allem, wenn die Forschungsarbeiten nicht so durchgeführt worden sind wie vereinbart. Beispielsweise wissen wir immer noch nicht, ob es Bakteriophagen gibt, die auch bestimmte Bodenbakterien befallen. Da hat jemand nicht mitgedacht und die Analysen zu früh abgebrochen. Jetzt muss alles wiederholt werden.“

Durrance machte eine kurze Pause.

„Essen bestellen wäre eine gute Idee. Ich bin hungrig.“

„Fisch musst du nehmen, mein Lieber. Hier sind die Felchen einfach köstlich. Und ich nehme dazu Bärlauchkartoffeln.“

„Gute Idee. Okay, ich bin dabei.“

Sie bestellten und blieben trotz der köstlichsten Weinversuchungen hartnäckig bei Wasser.

„Unser Thema heute hat einen Namen und heißt Hennings“, führte Helfiger in den weniger angenehmen Teil des Abends ein. „So wie du es mir geschildert hast, ist er mir einfach zu dreist. Natürlich habe ich ihm die eine halbe Million Pfund Provision versprochen, wenn wir es als Patent anmelden können. Aber im Moment wird das Moratorium zur Weiterentwicklung der Terminatorpflanzen wahrscheinlich verlängert. Wir können uns dem nicht widersetzen, ohne dass die ganze Welt aufheult. Ich stehe als Forschungsvorstand von SEEDAGRO im Rampenlicht. Du weißt, wie empfindlich uns Analystengeschwätz treffen kann. Diese Klugscheißer haben zwar keine Ahnung, welche Vorteile uns diese Technologie bringen könnte, aber sie geben Statements ab, die todsicher für wahr gehalten werden. Ergo: Hennings muss noch warten. Aber sag mal, ist es wahr? Die Terminatorpflanze ist wirklich machbar?“

„Ja, die Entwicklung scheint stabil zu sein. Ich habe alles gecheckt, hat mich eine Woche meiner Freizeit gekostet.“

„Aber Hennings selbst wird zum Risiko. Hennings wird mit Haftbefehl in Mexiko gesucht. Das spricht sich bis in die Spitzen unserer Behörden und der Politik herum. Auch der Brand in Oaxaca und die verwüstete Wohnung von Hennings deuten darauf hin, dass wir dort mit äußerster Vorsicht vorgehen müssen. Offensichtlich haben die Freilandversuche die beabsichtigten verheerenden Folgen gezeigt, was sich in der Provinz wie ein Lauffeuer herumsprach. Dort traut uns keiner mehr über den Weg. Die Behörden könnten überreagieren.“

„Hennings gibt seine Kopie der Aufzeichnungen nicht heraus, solange wir ihm die halbe Million nicht zahlen“, sagte Durrance. „Wir sind in der Zwickmühle, Marco.“

Sie wurden unterbrochen. Der Kellner fragte Marco Helfiger, ob er einen Herrn namens Han Deng sprechen möchte, und überreichte ihm eine Visitenkarte.

„Han Deng“, las Helfiger vor. „Leiter für den Export bei einer Firma für Pflanzenschutzmittel in Paris.“

Helfiger hielt inne und schaute Durrance fragend über den Rand seiner Brille an.

„Mir ist das egal, du kannst ihn ja kurz kennenlernen und dann wieder abwimmeln. Wer weiß, was die zu bieten haben“, meinte Durrance.

„Nur seltsam, woher der weiß, wer wir sind und wo wir sind? Also gut“, antwortete Helfiger in Richtung Kellner, „bitten Sie den Herrn an unseren Tisch.“

Ihr Gespräch verstummte. Nach wenigen Augenblicken kam der Kellner in Begleitung eines Asiaten. Helfiger und Durrance erhoben sich. Han Deng ergriff das Wort und sagte in akzentfreiem Französisch:

„Entschuldigen Sie tausend Mal diese Störung, meine Herren. Mein Name in Han Deng von der Firma PPL in Paris. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Helfiger schüttelte ihm die Hand.

„Ich bin Marco Helfiger, Vorstand für die weltweiten Forschungsaktivitäten bei SEEDAGRO, und das ist mein lieber und geschätzter Kollege Jacques Durrance. Er leitet die Forschung und Entwicklung in Lausanne.“

Helfiger lud sie ein, Platz zu nehmen.

Han Deng kam gleich zur Sache.

„Ich habe kein einfaches Thema. Erlauben Sie mir, Herr Helfiger, an Sie die ungewöhnliche Frage zu stellen, ob es möglich wäre, Sie für wenige Minuten unter vier Augen zu sprechen?“

„Mein lieber Herr Han“, antwortete Helfiger gönnerhaft, „Herr Durrance besitzt mein hundertprozentiges Vertrauen. Bitte kommen Sie zur Sache.“

„Ich falle jetzt mit der Tür ins Haus. SEEDAGRO hat unter Dr. Terry Hennings in Mexiko die Terminatortechnologie entwickelt. Und SEEDAGRO hat außerdem illegale Freilandversuche in Mexiko unternommen.“

Helfiger und Durrance wechselten einen schnellen Blick.

„Was sollen diese absurden Behauptungen?“, fragte Helfiger kalt. „Das ist doch eine abgefeimte Unverschämtheit, einfach an unseren Tisch zu kommen und uns mit unhaltbaren …“

Han Deng, ein Aliasname von General Fong, unterbrach ihn mit einer herrischen Handbewegung.

„Bitte, Herr Helfiger, das ist nicht unser Niveau und unser Stil. Sie regen sich unnötig auf. Sie wissen doch noch gar nicht, dass ich ihr Verbündeter bin. Schließlich haben wir SEEDAGRO geholfen, die Spuren von Hennings in Mexiko zu verwischen.“

„Wie bitte?“

„Ja, wir haben den Brand im Labor organisiert, damit keinem die letzten Versuchsanordnungen von Hennings in die Hände fallen. Und wir haben seine Wohnung gereinigt. Glauben sie mir: Auch dort lagen genug handschriftliche und eindeutige Notizen herum.“

„Sie haben was gemacht? Sie haben das Labor in Brand gesteckt? Sind Sie wahnsinnig? Ich rufe jetzt die Polizei und werde Sie …“

„Herr Helfiger, wenn wir das nicht für Sie erledigt hätten, säßen Sie nicht mehr im Vorstandssessel“, zischte Han Deng alias General Fong.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

„Schön, dass Sie Ihre Emotionen so schnell unter Kontrolle haben, meine Herren. Schauen Sie, es ist nicht so wichtig, wer ich bin und woher ich komme. Wichtiger ist, dass ich Ihnen anbiete, ein aktuelles Problem zu lösen. Es hat einen Namen: Terry Hennings. Und zusätzlich schlage ich Ihnen beiden ein sehr lukratives Geschäft vor, das sie gar nicht ablehnen können.“

Han Deng alias General Fong spürte es: Er hatte ins Schwarze getroffen. Er hatte sie an der Angel. Sie waren bereit.

„SEEDAGRO ist weltweit der viertgrößte Agrarmulti“, fuhr Deng fort. „Nach wie vor wird in vielen Ländern ein großer Teil der wichtigsten Kulturpflanzen von den Bauern selbst kultiviert und vermehrt.“

„Was hat das mit Hennings zu tun?“, unterbrach Helfiger.

„Bitte gedulden Sie sich. Diese von SEEDAGRO und anderen Konzernen unkontrollierbare, direkte Selbstvermehrung durch die Bauern bedeutet auf Dauer einen großen wirtschaftlichen Verlust, zumal die Agrarmultis in sehr vielen Ländern von den maroden juristischen Institutionen an der Durchsetzung ihrer legitimen Rechte gehindert werden. Mit Hilfe der Terminatortechnologie könnte SEEDAGRO auch diese Widerstandsnester in den Griff bekommen. Die Terminatortechnologie ist schon lange im Gespräch, aber sie ist rund um den Globus verpönt und geächtet. Derzeit existiert ein weltweites, freiwilliges Moratorium, das die Terminatortechnologie verhindern will. Trotz dieser Ächtung hat SEEDAGRO heimlich weitergeforscht. Ihr Stargenetiker Terry Hennings hat in den SEEDAGRO Labors in Mexiko den Durchbruch erzielt. Die Resultate wurden durch illegale Freilandversuche verifiziert, und tatsächlich gingen die Terminatorsaaten wie geplant zugrunde. Die Bauern, die als Versuchskaninchen herhalten mussten, ohne davon zu wissen, gingen auf die Barrikaden, und Terry Hennings drohte die Verhaftung, weil die Behörden SEEDAGRO schon seit Längerem verdächtigten, illegale Freisetzungen von gentechnisch veränderten Pflanzen vorgenommen zu haben. Nachdem sich Terry Hennings durch seine überstürzte Heimreise der Verhaftung entzog, hat SEEDAGRO nun ein Problem. Der SEEDAGRO Laborbrand in Oaxaca und der Wohnungseinbruch bei Hennings werfen ein schiefes Licht auf ihre Firma. Die Presse wird Wind davon bekommen, Unschönes wird vermutet und der Aktienkurs bekommt eine kräftige Delle. Vielleicht stehen in Kürze schon die Journalisten vor Hennings’ Haustür, und dann wird man Ihnen beiden sehr unangenehme Fragen stellen. Und Hennings erwartet auch sehr viel Geld von Ihnen. Was wird er tun, wenn er nicht bezahlt wird? Wird er die Presse einschalten? Aber vielleicht empfängt er ja nicht nur Geld von SEEDAGRO! Müssen Sie nicht befürchten, dass Hennings die Ergebnisse seiner Forschung auch an Dritte verkauft? Vor einer Woche übergab Hennings einer russischen Botschaftsangestellten in Bern einen Umschlag. Ich wette, darin war eine DVD mit wichtigen Fakten über die Terminatorpflanze, natürlich ohne Details.“

Durrance gab dem Kellner ein Handzeichen und bestellte zwei Cognacs.

„Meine Herren, ich glaube, Sie werden von den Vorzügen meines Vorschlags schnell überzeugt sein“, fuhr Fong unbeeindruckt fort. „Ich mache Ihnen jetzt ein einmaliges und faires Angebot, danach haben Sie fünfzehn Minuten Bedenkzeit. Sie können mein Angebot akzeptieren oder die Zeit einfach ungenutzt verstreichen lassen und meinen Vorschlag ohne Angaben von Gründen ablehnen. Dann werde ich diesen Ort verlassen, und wir werden uns nie mehr begegnen.“

Das Ende der Zukunft

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