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6.Dienst- und Solidargemeinschaft der kirchlichen Ebenen
ОглавлениеEine weitere zentrale Problemstellung des Verfassungsrechts betrifft das Verhältnis von Einzelgemeinde und Gesamtkirche, aus heutiger Sicht entsprechend auch das Verhältnis von Einzelgemeinde und der „mittleren Ebene“ des Dekanatsbezirkes:
Für die Vertreter des sog. Gemeindeprinzips (z. B. Adolf v. Scheurl, Rudolph Sohm) kam kirchliche Rechtshoheit allein der Einzelgemeinde zu, da diese der Ort ist, an dem primär das Wort verkündigt und die Sakramente verwaltet werden und an dem sich vorrangig im eigentlichen, geistlichen Sinne Kirche ereignet. Zusammenschlüsse von Kirchengemeinden können danach nur lockere Zweckverbände sein, die den Gemeinden wohl Dienstleistungen erbringen können, aber keine geistlichen Leitungs- und Aufsichtsbefugnisse über diese haben.
Demgegenüber sahen die Vertreter des sog. Kirchenprinzips (z. B. Karl Rieker) in den Einzelgemeinden lediglich Verwaltungsbezirke einer umfassenderen kirchlichen Einheit. Begründet wurde dies damit, dass in der geschichtlichen Entwicklung sowohl der Alten Kirche als auch der Reformationskirchen die Landeskirche zeitlich und begrifflich der Einzelgemeinde vorangegangen sei und sich die Kirchengemeinde in ihrer heutigen Struktur erst im 19. Jahrhundert aus der zuvor parochial verfassten Gesamtkirche herausgebildet habe.
Heute hat diese Streitfrage aus dem 19. Jahrhundert ihre Bedeutung verloren, weil allgemein anerkannt ist, dass (Kirchen-)Gemeinde nicht ohne Kirche und Kirche nicht ohne (Kirchen-)Gemeinde sein kann.33 Deutlich ist auch, dass sich eine Kirchengemeinde nicht isoliert verstehen darf, wenn sie nicht zur Sekte mutieren will, sondern sie sich als Teil der umfassenden Weltchristenheit (ecclesia universalis) verstehen muss, die sich in zahlreichen verfassten Landeskirchen darstellt (ecclesiae particulares), die ihrerseits in ökumenischer Gemeinschaft stehen.34
So ist das Verhältnis von Kirchengemeinden und Landeskirche weder durch Zentralismus noch durch Kongregationalismus beschrieben, sondern vielmehr durch die gemeinsame Verantwortung für Erfüllung des (Kirchen-)Gemeinden und (Gesamt-)Kirche gegebenen Auftrags, welche sie zu einer gesamtkirchlichen Dienst- und Solidargemeinschaft verbindet. In der Stärkung dieses Bewusstseins kommt den Dekanatsbezirken als mittlerer und vermittelnder Ebene eine wesentliche Bedeutung zu. Auf dieser heute allgemein anerkannten Grundlage können das Maß der Eigenverantwortung der Kirchengemeinden und der Grad ihrer Einbindung in die Landeskirche aber durchaus recht unterschiedlich geordnet sein, wie die verschiedenen landeskirchlichen Regelungen z.B. im Pfarrstellenbesetzungsrecht, zur landeskirchlichen Aufsicht über die Gemeinden und über die Stellung der Kirchengemeinden im gesamtkirchlichen Finanzsystem zeigen.
Das Prinzip der gesamtkirchlichen Dienst- und Solidargemeinschaft kommt in der Verfassung der ELKB in Art. 2 zum Ausdruck. Danach bilden die kirchlichen Ebenen und ihre Einrichtungen und Dienste eine „innere und äußere Einheit.“ Dabei haben sie indes unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte und -profile:
–Die Kirchengemeinden und die besonderen Gemeindeformen gestalten (schwerpunktmäßig) das gemeindliche und kirchliche Leben vor Ort.
–Die Dekanatsbezirke sorgen (schwerpunktmäßig) für Informationsaustausch zwischen kirchengemeindlicher und landeskirchlicher Ebene sowie für Kommunikation, Koordination und Kooperation in ihrer Region.
–Der Landeskirche obliegt es (schwerpunktmäßig), Einheit und Solidarität zu gewährleisten.
–Die Einrichtungen und Dienste unterstützen und ergänzen die kirchlichen Körperschaften bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und des (gesamt-)kirchlichen Auftrags.