Читать книгу Das Arbeitszeugnis - Hein Schleßmann - Страница 29

4. Bedeutungsverlust?

Оглавление

57

Die Kritik am Arbeitszeugnis verstummt nicht und kehrt in gewissen Zeitabständen, vor allem nach Zeugnisurteilen des BAG schubartig immer wieder, verbunden mit Hinweisen auf die geheimnisumwitterte und abzuschaffende Zeugnissprache:61

 • Das Zeugnis wird als sinnfreies Ritual bezeichnet62

 • das Zeugnis sei angeblich nicht das Papier wert, auf dem es stehe63

 • „Das Arbeitszeugnis hat ausgedient“64

 • „Nichts als Lyrik und Chichi“65

 • falls Angaben im Zeugnis anderen Aussagen desselben Arbeitgebers widersprechen würden, sei dem Zeugnis kaum Bedeutung beizumessen.66

Es werden die alten Thesen immer wieder ausgegraben:

Auf die Beurteilungen könnte wegen der ominösen Zeugnissprache verzichtet und stattdessen dem einfachen Zeugnis Referenzschreiben beigefügt werden – mit dem bisherigen Arbeitgeber könnte telefoniert werden – das einfache Zeugnis sei ausreichend (die Probezeit würde ja genügend Erkenntnisse bieten67).

58

Bei Referenzen weisen auf deren Formulierungen über Maß und Grad der Empfehlung die gleichen Probleme auf wie bei der Zeugnissprache, und sie führen daher nicht zu einer brauchbaren Alternative (siehe auch Rn. 10).

59

Wer propagiert, das vorgelegte Zeugnis links liegen zu lassen und sogleich telefonisch Auskünfte beim bisherigen Arbeitgeber einzuholen, übersieht die Rechtslage; denn Auskünfte sind heute wegen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes fast ausschließlich nur mit Zustimmung des Bewerbers zulässig (siehe Rn. 885). Viele Arbeitgeber verweigern auch grundsätzlich die Auskunftserteilung.

60

Richtig ist, dass das einfache Zeugnis mit seiner Tätigkeitsbeschreibung eine objektive und wichtige Informationsquelle bietet, und sie ist im Wesentlichen nicht mit der Zeugnissprache „belastet“. Sie belegt, auf welchem Sachgebiet der Arbeitnehmer und wie lange und bei welchem Arbeitgeber er tätig war, welche Qualifikation und Berufserfahrung er mitbringt und ob das bisherige Arbeitsgebiet dem Profil des neuen Arbeitsplatzes entspricht. Die Tätigkeitsbeschreibung ist für die Einschätzung zweifellos von besonderer Bedeutung.

61

Wichtig für den Arbeitgeber ist aber nicht nur, was der Bewerber, sondern auch wie er nach Meinung des Arbeitgeber-Kollegen bisher gearbeitet hat, ob es sich um einen guten, durchschnittlichen oder schwachen Bewerber handelt. Und diese Information sollte vor der Einstellung vorhanden sein und nicht erst mit Ablauf der Probezeit (es stellt auch einen Kostenfaktor dar, eventuell eine völlig nutzlose Probezeit absolvieren zu lassen).

Auf das qualifizierte Zeugnis wird kein Arbeitgeber verzichten wollen, auch wenn für ihn einzelne, im Zeugnis erwähnte Beurteilungskriterien nicht im Vordergrund stehen und eine Tendenz zu guten Beurteilungen unverkennbar ist68 (siehe Rn. 731ff.).

Jeder Arbeitgeber, der Mitarbeiter einstellen will, hat höchstes Interesse, möglichst viele Informationen über Bewerber zu erhalten, und dem widerspricht es, wenn wegen der Kritik an der Zeugnissprache sogleich die gesamte Beurteilung rabiat über Bord geworfen werden soll (was vermutlich nur von denjenigen propagiert wird, die selbst wenig Personalverantwortung tragen).

62

Wer das Zeugnis nicht ganz ernst nimmt, übersieht auch, dass ihm in der Arbeitswelt eine besondere Bedeutung beigemessen wird, denn jeder Arbeitnehmer verlangt ein Zeugnis (sofern er nicht in den Ruhestand tritt), jeder Arbeitgeber verlangt es vom Bewerber – bei dieser Einstellung und Handhabung in der Praxis sind Zweifel am qualifizierten Zeugnis wenig ergiebig.

63

Zeugnisprozesse werden schließlich mit Pressemitteilungen des Gerichts (zumindest des BAG), mit zahlreichen Kommentaren in arbeitsrechtlichen Zeitschriften sowie in der Tagespresse mit beachtlichem Medien-Echo begleitet, woraus das Interesse der Öffentlichkeit und die Bedeutung dieses Themas deutlich wird – wenn auch zuzugeben ist, dass manche kleinlichen Facetten des Zeugnisrechts durchprozessiert werden, die erstaunen, so etwa die Frage, ob es sich bei der Zeugniserteilung um eine Hol- oder Schickschuld handelt (siehe Rn. 208), ob das Zeugnis gefaltet werden darf (siehe Rn. 445), oder ob ein ‚e‘ zu viel getippt wurde (siehe Rn. 458), was aber zugleich belegen kann, wie wichtig dem Arbeitnehmer das Zeugnis ist.

Trotz aller Kritik und Todgesänge ist das Zeugnis nach wie vor mit dem Anschreiben und dem Lebenslauf die Visitenkarte des Bewerbers.“69

64

Was sollen also die „Gesänge“ und immer wiederkehrenden Thesen, zumal keine gleichwertigen und praktikablen Ersatzlösungen angeboten werden? – Arbeitszeugnisse in der bisherigen Form bleiben „alternativlos“!

(Zu „Neuen Zeugnisformen“ siehe Rn. 773ff.).

23 Grundlegend: BAG, 23.6.1960 (5 AZR 560/58), BB 1960 S. 983 = DB 1960 S. 1042 = AP HGB § 73 Nr. 1, sowie BGH, 26.11.1963 (VI ZR 221/62), DB 1964 S. 517 = AP BGB § 826 Nr. 10. 24 BAG,16.10.2007 (9 AZR 248/07), BB 2008 S. 507 = DB 2008 S. 245 = NZA 2008 S. 298 = AP BGB § 630 Nr. 33. 25 BAG, 3.3.1993 (5 AZR 182/92), BB 1993 S. 1439 = DB 1993 S. 1624 = NZA 1993 S. 697 = AP BGB § 630 Nr. 20; Staudinger (Preis), Rn. 2. 26 BAG, 3.3.1993 (5 AZR 182/92), BB 1993 S. 1439 = DB 1993 S. 1624 = NZA 1993 S. 697 = AP BGB § 630 Nr. 20. 27 Tschöpe (Wessel), Rn. 4. 28 Zahl der Zeugnisprozesse in früheren Jahren (Quelle: „Bundesarbeitsblatt“ – von 2002 bis 2006: Homepage des für „Arbeit“ zuständigen Bundesministeriums):

1995 = 14.0891996 = 15.3951997 = 15.9391998 = 17.5851999 = 21.2542000 = 23.425
2001 = 25.8782002 = 27.9082003 = 30.1772004 = 31.5402005 = 32.2882006 = 30.817

29 Schulz, „Der arbeitsrechtliche Zeugnisanspruch“, Dissertation 2006 (Hamburg), S. 4. 30 Weuster, „Personalauswahl und Personalbeurteilung mit Arbeitszeugnissen“, 1994, S. 70. 31 BAG, 3.3.1993 (5 AZR 182/92), BB 1993 S. 1439 = DB 1993 S. 1624 = NZA 1993 S. 697 = AP BGB § 630 Nr. 20; Staudinger (Preis), Rn. 2. 32 OLG Frankfurt, 24.11.1982 (9 U 87/80). 33 LAG Düsseldorf, 22.1.1988 (2 Sa 1654/87), BB 1988 S. 1463 = NZA 1988 S. 399 = NJW 1988 S. 1616 = LAGE BGB § 630 Nr. 4. 34 F.A.Z. vom 28.5.2005 (Nr. 121), S. 51. 35 Anwaltsgericht Köln, 12.12.2017 (2 AnwG 49/17), brak-mitteilungen 2/2018, S. 84: Der Anwalt erhielt standesrechtlich einen Verweis und eine Geldbuße von 500 € – abgesehen von der fristlosen Kündigung seitens der Behörde, die ihn auf Grund der „geschönten“ Zeugnisse zunächst eingestellt hatte, wurde er außerdem strafrechtlich zu einer Geldstrafe von 1.800 € wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt. 36 Amtsgericht München, 23.11.2020 (Pressemitteilung Nr. 54 vom 4.12.2020): Verurteilt zu 2 Jahren auf Bewährung und Zahlung von 325.000 € (= Gehaltsrückzahlung); der Schwindel des „Anwalts“ flog auf, als bemerkt wurde, dass das gefälschte und angeblich vom Justizprüfungsamt ausgestellte Staatsexamenszeugnis ein Ausstellungsdatum trägt, das Pfingstmontag war! 37 Bayerisches Oberstes Landesgericht, 11.5.1992 (5 St RR 16/92), NJW 1992 S. 3311. 38 ArbG Frankfurt (Main), 23.6.2010 (7 Ca 263/10). 39 LAG Baden-Württemberg, 13.10.2006 (5 Sa 25/06), DB 2007 S. 1197 = MDR 2007 S. 532. 40 LAG Köln, 16.6.2000 (11 Sa 1511/99), NZA-RR 2000 S. 630. 41 LAG Nürnberg, 24.8.2005 (9 Sa 400/05) – Revision erfolglos: BAG, 1.6.2006 (6 AZR 730/05), NZA-RR 2007 S. 103. 42 BAG, 3.11.2004 (5 AZR 592/03), BB 2005 S. 782 = DB 2005 S. 1334 = NZA 2005 S. 1409 = AP BGB § 134 Nr. 25. 43 LAG Baden-Württemberg, 13.10.2006 (5 Sa 25/06), DB 2007 S. 1197 = MDR 2007 S. 532. Die Anfechtungsfrist beträgt maximal 10 Jahre (§ 124 Abs. 3 BGB). 44 BAG, 1.6.2006 (6 AZR 730/05), NZA-RR 2007 S. 103. 45 LAG Köln, 16.6.2000 (11 Sa 1511/99), NZA-RR 2000 S. 630. 46 Amtsgericht München, 23.11.2020 – Pressemitteilung Nr. 54 vom 4.12.2020. 47 HWK (Gäntgen), Rn. 46. 48 BGH, 15.5.1979 (VI ZR 230/76), BB 1980 S. 779 = DB 1979 S. 2378 = NJW 1979 S. 1882 = AP BGB § 630 Nr. 13. 49 So schon vor Jahrzehnten: BAG, 8.2.1972 (1 AZR 189/71), BB 1972 S. 618 = DB 1972 S. 931 = AP BGB § 630 Nr. 7. 50 LAG Köln, 16.12.2016 (4 Sa 353/16), DB 2017 S. 2040. 51 BAG, 21.6.2012 (8 AZR 364/11), BB 2013 S. 1468 = NZA 2012 S. 1345 = AuR 2012 S. 328. 52 LAG Hamm, 28.8.1997 (4 Sa 1926/96). 53 BAG, 8.2.1972 (1 AZR 189/71), BB 1972 S. 618 = DB 1972 S. 931 = AP BGB § 630 Nr. 7. A. A. ErfK (Müller-Glöge), Rn. 57; Staudinger (Preis), Rn. 75. 54 LAG Bremen, 22.11.1983 (4 Sa 167/82), BB 1984 S. 473; Schaub (Linck), Rn. 29 (= der Arbeitgeber habe den Wertungswiderspruch aufzuklären). 55 Zweifelnd im Fall der nachträglichen Zeugniserteilung: LAG Köln, 30.7.1999 (11 Sa 425/99), NZA-RR 2000 S. 189. 56 LAG Hamm, 14.1.2011 (7 Sa 1615/10). 57 LAG Köln, 4.5.2012 (4 Sa 114/12), NZA-RR 2012 S. 563. 58 BAG, 10.5.2005 (9 AZR 261/04), BB 2005 S. 2755 = DB 2005 S. 2474 = NZA 2005 S. 1237 = AP BGB § 630 Nr. 30. 59 LAG Frankfurt, 2.2.2015 (16 Sa 1387/14), NZA-RR 2016 S. 179. 60 BAG, 21.6.2012 (8 AZR 364/11), BB 2013 S. 1468 = NZA 2012 S. 1345 = AuR 2012 S. 328. 61 Siehe auch Schleßmann, „Zwei Fragen zum Arbeitszeugnis“, BB 2015 S. 2421. 62 Watzka, „Arbeitszeugnisse – ein sinnfreies Ritual?“, F.A.Z. vom 21.1.2013 (Nr. 17), S. 18. 63 „Arbeitszeugnisse auf dem Prüfstand – Das Papier nicht wert“ – Titel-Thema in der Zeitschrift „Personalwirtschaft“, 2010, Heft 6 S. 18. 64 Maaß, „Berliner Morgenpost“ vom 17.4.2013. 65 Tiedge, ‚Spiegel-Online‘, „Karriere Spiegel“ vom 9.4.2011. 66 Bauer, „Wohlwollende Arbeitgeber sind schnell die Dummen“, NZA-Editorial, Heft 20/2012. 67 Kaufmann, ‚Spiegel-Online‘, „Karriere Spiegel“ vom 18.11.2014. 68 BAG, 18.11.2014 (9 AZR 584/13), BB 2015 S. 1216 = DB 2015 S. 868 = NZA 2015 S. 435 = AP GewO § 109 Nr. 5. 69 Düwell/Dahl, „Die Leistungs- und Verhaltensbeurteilung im Arbeitszeugnis“, NZA 2011 S. 958.

Das Arbeitszeugnis

Подняться наверх