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4.Einschränkungen kraft kollidierenden Verfassungsrechts (verfassungsimmanente Grundrechtsschranken)

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255Einige Grundrechte des Grundgesetzes enthalten ihrem Wortlaut nach keine Einschränkungen, wie z. B. die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2), die Kunst- und die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1), der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1) und die Freiheit der Versammlung in geschlossenen Räumen (Art. 8 Abs. 1).138

Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte keinen Beschränkungen unterliegen. Grundrechte, die keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt aufweisen, sind zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos.139 Das BVerfG betont allerdings, dass die Schranken vorbehaltloser Grundrechte „nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind.“140 Im Einzelnen führt das Gericht hierzu aus:

„Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen. Dabei auftretende Konflikte lassen sich nur lösen, indem ermittelt wird, welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht hat. Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muss in jedem Fall respektiert werden.“141

256Einschränkungen vorbehaltloser Grundrechte können demnach nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden. Es handelt sich dabei um verfassungsimmanente Grundrechtsschranken.142 In Betracht kommen Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte. Voraussetzung ist jedoch stets eine gesetzliche Eingriffsermächtigung. In vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte kann somit durch ein Gesetz eingegriffen werden, welches kollidierendes Verfassungsrecht, d. h. Grundrechte Dritter oder andere Rechtsgüter von Verfassungsrang, konkretisiert.143 Erforderlich sind ferner eine Güterabwägung und ein Ausgleich der kollidierenden Güter im Wege der praktischen Konkordanz.

Im Ergebnis kommt diese Konfliktlösung einem Gesetzesvorbehalt gleich, der dadurch qualifiziert ist, dass das Schrankengesetz dem Schutz kollidierenden Verfassungsrechts dienen muss.144

257Anderen Lösungswegen hat das BVerfG eine Absage erteilt. Dies gilt insbesondere für den Versuch, die Schranken anderer Grundrechte auf die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte zu übertragen.145 So ist etwa die in Art. 5 Abs. 2 geregelte Schranke der allgemeinen Gesetze bereits aus systematischen Gründen nicht auf die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 anwendbar, da sie allein auf die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 bezogen ist.146 Auch die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 kann nicht analog auf andere Grundrechte angewandt werden.147

258Als kollidierendes Verfassungsrecht kommt z. B. in Betracht:148

– der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Art. 20);

– das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1);

– die Schutzpflicht zugunsten des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1);

– der Jugendschutz (Art. 5 Abs. 2);

– die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Hochschulen (Art. 5 Abs. 3);

– die staatliche Schulhoheit (Art. 7 Abs. 1);

– das Eigentum Dritter (Art. 14);

– das Staatsziel des Tierschutzes (Art. 20a);

– die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5);

– die Einrichtung und die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr (Art. 12a, Art. 87a);

– Bestand und Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12).

259Soll ein vorbehaltloses Grundrecht durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden, setzt dies eine konkrete normative Aussage im Grundgesetz voraus.149 Nicht ausreichend ist der Hinweis auf bloße Kompetenz-, Ermächtigungs- und Organisationsvorschriften.150 Ebenso wenig genügt der Verweis auf den „Schutz der Verfassung“ oder die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege.151 Vielmehr ist es nach der Rechtsprechung des BVerfG geboten,

„anhand einzelner Grundgesetzbestimmungen die konkret verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter festzustellen, die bei realistischer Einschätzung der Tatumstände der Wahrnehmung des [vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts] widerstreiten, und diese in Konkordanz zu diesem Grundrecht zu bringen.“152

260Wegen des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes erfordert die Grundrechtseinschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht stets eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.153 Denn die einen Eingriff rechtfertigenden immanenten Schranken ersetzen lediglich den Gesetzesvorbehalt, nicht aber das für einen Eingriff notwendige ermächtigende Gesetz.154

261Ausgangspunkt des BVerfG ist der Grundsatz der Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte Wertordnung.155 Konflikte aus kollidierendem Verfassungsrecht lassen sich daher nicht lösen, indem eine bestimmte Rangordnung der Grundrechte und sonstigen Verfassungsgüter aufgestellt wird.156 Vielmehr ist eine Einzelfallabwägung vorzunehmen, die die Besonderheiten des jeweiligen Grundrechts berücksichtigt und eine Harmonisierung des Grundrechtskonflikts bewirkt.157 Ziel ist die Herbeiführung eines angemessenen Interessenausgleichs durch Herstellung praktischer Konkordanz,158 d. h. ein

„verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziele ihrer Optimierung.“159

262Dies bedeutet, dass ein schonender Ausgleich in dem Sinne herbeizuführen ist, dass alle beteiligten Verfassungsgüter zu optimaler Wirksamkeit gelangen können:160

„Beide Verfassungswerte müssen daher im Konfliktsfall nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden; lässt sich dies nicht erreichen, so ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat.“161

Hinweis für die Fallbearbeitung: In Übungsarbeiten formuliert man zur Operationalisierung des Grundsatzes praktischer Konkordanz am besten, dass der Grundsatz gebiete, jedes Grundrecht soweit als möglich zu entfalten und dabei nur soweit als notwendig zu begrenzen.

263Nicht einheitlich beurteilt wird die Frage, ob der Anwendungsbereich kollidierenden Verfassungsrechts als Eingriffsrechtfertigung auf vorbehaltlose Grundrechte beschränkt ist, oder ob damit darüber hinaus auch Eingriffe in Grundrechte gerechtfertigt werden können, die einem einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt unterliegen.162

Staatsrecht II

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