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2.Die Grundrechtsqualität der Menschenwürde
Оглавление315Umstritten ist, ob Art. 1 Abs. 1 ein Grundrecht darstellt oder lediglich Verfassungsprinzip ist. Dies ist vor allem für die Frage bedeutsam, ob eine Verletzung der Menschenwürde zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde berechtigt (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a).15
316Die h. M. qualifiziert die Menschenwürdegarantie zutreffend als Grundrecht.16
Die Gegenauffassung verweist auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 3, wonach „die nachfolgenden Grundrechte“ Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Aus dem Wort „nachfolgend“ sei zu schließen, dass Art. 1 Abs. 1 kein Grundrecht enthalte.
Das BVerfG hat die Frage teils explizit, teils implizit beantwortet und auf Art. 1 Abs. 1 gestützte Verfassungsbeschwerden zugelassen, das Gericht geht damit offensichtlich auch von einem subjektiv-rechtlichen Charakter der Menschenwürde aus.17 Für den Grundrechtscharakter der Menschenwürde sprechen zudem Entstehungsgeschichte und Systematik des Art. 1:18 So steht Art. 1 innerhalb des ersten Abschnitts des Grundgesetzes, dessen amtlicher Titel „Die Grundrechte“ lautet. Auch wurde die Menschenwürde bewusst an den Beginn der Verfassung gesetzt, um die verfassungsnormative Grundaussage zu verdeutlichen, dass der Staat um des Menschen willen besteht und nicht umgekehrt. Sie bildet den Ausgangspunkt der Verfassungsordnung des Grundgesetzes19, dessen strukturgebende Fundamentalnorm20, sie ist – wie es im parlamentarischen Rat plastisch formuliert wurde – „der eigentliche Schlüssel für das Ganze“.21 Aus dieser Perspektive erscheint es in der Tat systemwidrig, ausgerechnet der Grundnorm einer „immanent-anspruchsfreundlichen“22 Verfassung keine subjektiv-rechtliche Funktion beizumessen. Vielmehr müssen sich objektive und subjektive Funktion von Art. 1 Abs. 1 gegenseitig verstärken.23
317Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 zu den anderen Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes bedarf differenzierter Betrachtung, die sich mit dem Grundsatz der partiellen Spezialität und Subsidiarität umschreiben lässt.24 Sofern Einzelgrundrechte einschlägig sind, ist vorrangig auf diese abzustellen, was wegen der mit der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verbundenen Rationalisierungsfunktion von Vorteil ist. Demgegenüber führt eine an sich gutgemeinte, aber vorschnelle Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 wegen dessen Abwägungsresistenz nicht selten in ein wenig hilfreiches „alles oder nichts“.25 Da die Menschenwürdegarantie durch die nachfolgenden Grundrechte konkretisiert wird, sind im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung die Einzelgrundrechte also vorrangig zu prüfen.26 Dies führt dazu, dass ein zusätzlicher Rückgriff auf Art. 1 in aller Regel entfällt.27 Allerdings kann bei „besonderer Schwere“ zusätzlich zur Verletzung des sachlich einschlägigen Grundrechts zugleich auch eine Verletzung der Menschenwürde gegeben sein; schließlich kann Art. 1 Abs. 1 auch verletzt sein, obschon kein Verstoß gegen ein spezielles Freiheitsrecht vorliegt.28
Klausurhinweis: Auch in juristischen Klausuren und Hausarbeiten ist zunächst zu prüfen, ob die speziellen Grundrechte verletzt sind, ehe auf die Menschenwürdegarantie als „last refuge“29 zurückgegriffen werden darf.