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2.Der sachliche Schutzbereich

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323a) Konturierungsprobleme. Die Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs der Menschenwürdegarantie stellt sich als äußerst schwierig dar.50 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es einer möglichst allgemeingültigen Definition bedarf.51

324Das BVerfG versteht die Menschenwürde, positiv formuliert, als den „sozialen Wert- und Achtungsanspruch des Menschen“,52 als den „allgemeinen Eigenwert, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt“.53 Um den mit einer (positiven) Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde verbundenen Konkretisierungsschwierigkeiten zu entgehen, „springt“ das BVerfG unter Verwendung der sog. Objektformel allerdings nicht selten von der Schutzbereichsebene direkt zur Eingriffsfrage.54 Negativ umschreibt das BVerfG den Schutzbereich der Menschenwürde dann dahingehend, dass der Mensch nicht „zum bloßen Objekt des Staates“ gemacht oder einer Behandlung, die „seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt“, ausgesetzt werden dürfe (sog. Objektformel).55 Mit der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip des Systems der Grundrechte sei

„…der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt.“56

325Die Trennung von „Subjektsqualität wahren“ und „Objektivierung vermeiden“ kann manchmal zu subtilen Differenzierungen nötigen. So hat das BVerfG in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz erkannt, dass bei einem Abschuss einer (nur mit Entführern) besetzten Maschine diese nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht würden, vielmehr knüpfe die staatliche Reaktion gerade an deren selbstverantwortete Entscheidung (Flugzeugentführung) an. Die unschuldigen Opfer der Entführung würden hingegen verzweckt, wenn die mit Entführern und Entführten besetzte Maschine abgeschossen würde. Letztere würden zum Objekt staatlichen Handelns gemacht, da sie auf die Gefährdungslage weder Einfluss genommen hätten noch nehmen könnten.57

326Einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 hat das BVerfG weiterhin angenommen bei einer „willkürlichen Missachtung“ der Menschenwürde, einer „verächtlichen Behandlung“ des Menschen durch den Staat:

„[…] oder dass in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muss also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ‚verächtliche Behandlung‘ sein.“58

Das Abstellen auf diesen „Verachtungsaspekt“ ist im Interesse der Operationalisierung der Objektformel verständlich, birgt aber die Gefahr, dass das Motiv des Täters zum Maßstab der Schutzbereichseröffnung wird. Die Herabwürdigungsformel ist daher mit Vorsicht zu handhaben.

327Die vom BVerfG verwendeten Formeln werden auch als zu unbestimmt kritisiert.59

Unabhängig davon erscheint es sinnvoll, die Menschenwürdegarantie anhand typischer Gefährdungslagen in einzelnen Lebensbereichen zu konkretisieren.60

328Darüber hinaus versuchen andere im Schrifttum vertretene Auffassungen, den Begriff der Menschenwürde positiv zu umschreiben.61 So versteht die „Mitgifttheorie“ die Menschenwürde als den Eigenwert des Menschen, der ihm von Gott62 oder der Natur63 mitgegeben wurde. Nach der „Leistungstheorie“ soll hingegen die Leistung der Identitätsbildung, also das eigene selbst bestimmte Verhalten des Menschen entscheidend sein.64 Würde ist dann eine Leistung, die der einzelne erbringen, die aber auch verfehlt werden kann.65 Diese Auffassung führt allerdings zu unbefriedigenden Ergebnissen, wenn eine Person aufgrund von Handlungs- oder Willensunfähigkeit zur Identitätsbildung außerstande ist.66 Für die Anerkennungstheorie liegt der Grund der Würde in der Anerkennung, die sich Menschen als freie und gleiche gegenseitig schulden und gewähren.67 Das BVerfG weist zu Recht darauf hin, dass die Menschenwürde die Fähigkeit des Einzelnen zu sinnhaftem Handeln nicht voraussetzt:

„Menschenwürde […] ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch ‚unwürdiges‘ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.“68

Ein eigenes „würdeloses Verhalten führt somit nicht dazu, dass der Grundrechtsträger den Schutz des Art. 1 Abs. 1 verliert.69

329Schwierig zu beantworten ist die Frage des Grundrechtsverzichts70, der sich bei genauerer Betrachtung als Problem der Zulässigkeit eines Grundrechtsausübungsverzichts darstellt.71 Hinter den zum Fragenkreis jeweils vertretenen Auffassungen stehen meist unterschiedlich deutlich akzentuierte grundrechtstheoretische Vorannahmen. Vielfach finden sich Differenzierungen zwischen disponiblen und nicht disponiblen Einzelelementen des Grundrechtsschutzes.72 Jedenfalls eine offene Grundrechtsinterpretation wird zentral auf die Selbstbestimmung und das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers abstellen. Diskussionswürdig wird es jedenfalls dann, wenn trotz Vorliegens einer frei verantworteten Entscheidung des Grundrechtsträgers staatliche Schutzmaßnahmen auf Belange des Grundrechtsträgers selbst gestützt und gegen ihn und seine Selbstbestimmung in Stellung gebracht werden.

Vieldiskutierte Beispiele dazu sind das Betreiben einer sog. „Peep-Show“ oder die Veranstaltung eines sog. „Zwergenweitwurfs“. Im Peep-Show-Fall hat das BVerwG die Auffassung vertreten, dass die Tänzerin wie eine Sache zur sexuellen Stimulation „angeboten“ werde: Sie habe keinen Blickkontakt zu den Kunden, diese schauten auf die Frau wie auf Waren in einem Automaten. Insofern sei die Menschenwürde der Frau betroffen.73 Vergleichbar hat das VG Neustadt die Veranstaltung des sog. Zwergenweitwurfs als mit Art. 1 Abs. 1 unvereinbar angesehen, weil der geworfene Mensch – sei er nun kleinwüchsig oder auch besonders leicht – zum Zwecke der allgemeinen Belustigung zum bloßen Objekt der Werfer aus dem Publikum gemacht werde.74 In beiden Fällen haben die Gerichte es als unerheblich angesehen, dass die jeweils Geschützten freiwillig agierten und die Veranstaltung selbst nicht als ihre Würde verletzend angesehen haben. Entscheidend sei, dass die „Würde des Menschen ein objektiver, unverfügbarer Wert“ sei, auf dessen Beachtung der Einzelne nicht wirksam verzichten könne.75

330Nicht selten wird die Menschenwürde bei Sachverhalten mit angesprochen, die auch andere Grundrechte betreffen.76

331b) Bereichsspezifische Ausprägungen und Verdichtungen. Auch wenn keine abschließende Aufzählung der Anwendungsfälle des Art. 1 Abs. 1 möglich ist, lässt sich die weitere Konturierung anhand bereichsspezifischer Ausprägungen und Verdichtungen bzw. Problemfälle strukturieren.77

332aa) Körperliche oder seelische Integrität; Verfahrensrechte. (1) Strafrechtliche Sanktionen. Der einfachrechtlich in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB verankerte Grundsatz „nulla poene sine culpa“ (keine Strafe ohne Schuld) hat seine verfassungsrechtlichen Grundlage nicht nur im Rechtsstaatsprinzip und Art. 103 Abs. 2, er folgt unmittelbar auch aus Art. 1 Abs. 1.78 Die Garantie der Menschenwürde bietet zudem Schutz gegen staatliche Eingriffe in einen Kernbereich der körperlichen und geistigen Integrität.79 Grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafen stellen einen Verstoß gegen die Menschenwürde dar.80 Mit körperlicher Gewaltanwendung verbundene Strafen sind daher ausgeschlossen.81

333Die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord ist nach der Rechtsprechung des BVerfG nur dann mit der Menschenwürde vereinbar, wenn für den Verurteilten „eine konkrete und grundsätzlich realisierbare Chance“ besteht, seine Freiheit irgendwann wiederzuerlangen.82 Dazu genügt die Inaussichtstellung einer potentiellen Begnadigung nicht. Es bedarf vielmehr einer einheitlichen gesetzlichen Regelung, die sowohl die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung als auch das anzuwendende Verfahren normiert.83 Grundsätzlich muss eine Freiheitsstrafe daran ausgerichtet sein, dem Verurteilten nach Verbüßung seiner Strafe ein straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen.84 Dazu gehört auch die anzustrebende Resozialisierung.85

334Ob die einfachgesetzliche Wiedereinführung der Todesstrafe unter Aufhebung des Art. 102 zulässig wäre, ist umstritten, wird inzwischen jedoch überwiegend zu Recht verneint.86 In der Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe läge ein Verstoß gegen die Garantie der Menschenwürde, die nach Art. 79 Abs. 3 einer Verfassungsänderung entzogen ist.87 Zur Begründung wird darüber hinaus auf die staatliche Schutzpflicht für das Leben sowie die Gefahr eines irreparablen Eingriffs im Falle eines Fehlurteils verwiesen.88 Auch ist kaum ein Vollzug der Todesstrafe denkbar, der mit der Menschenwürde in Einklang steht.

335(2) Folterverbot. Ebenso ist die Folter wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde unzulässig.89 Ausdrücklich geregelt ist das Folterverbot in Art. 3 EMRK,90 im UN-Übereinkommen gegen Folter vom 16.12.198491 sowie für festgehaltene Personen in Art. 104 Abs. 1 S. 2.

336Praktische Bedeutung erlangt das Verbot der Folter insbesondere in ausländer- und asylrechtlichen Verfahren, wenn eine Person in einen Staat abgeschoben oder an einen Staat ausgeliefert werden soll, in dem sie damit rechnen muss, der Folter unterworfen zu werden.92

337Weitere verbotene Vernehmungsmethoden enthält § 136a StPO.93

338Da sich das Folterverbot aus der Menschenwürde ableitet, gilt es absolut.94

Fall 1:95 Es gilt als sicher, dass H einen kleinen Jungen entführt hat. Es besteht der dringende Verdacht, dass H den Jungen versteckt hält und sich das Kind in akuter Lebensgefahr befindet. Da H den Aufenthaltsort des Jungen nicht preisgibt, droht ihm im Rahmen seiner Vernehmung der zuständige Polizist die Zufügung starker Schmerzen an, sollte er nicht reden. Verfassungsrechtlich zulässig?

Lösung Fall 1: Die Androhung von starken Schmerzen fällt in den Bereich der Folter, so dass Art. 1 Abs. 1 verletzt sein könnte. Mit Blick auf solche Fallkonstellationen hat man allerdings thematisiert, ob das grundsätzliche Folterverbot uneingeschränkt aufrechterhalten werden solle. Ein auch hier geltendes absolutes Folterverbot ließe außer Acht, dass es dem Staat nicht in erster Linie um die Erringung eines prozessualen Vorteils, sondern um eine präventive Maßnahme gehe, die den Tod des Jungen verhindern solle.96 Zugespitzt lautet die Frage, ob eine „gutgemeinte“ Folter verfassungsrechtlich zulässig sein kann, ob also an sich durch Art. 1 Abs. 1 inkriminierte Handlungen gerechtfertigt werden können, wenn sie ihrerseits dem Schutz der Würde oder des Lebens eines Entführten dienen. Zutreffend ist, dass derartige Fälle in ein kaum auflösbares ethisches Dilemma führen, weil dem Staat scheinbar nur die Option bleibt, zwischen verschiedenen Würdeverletzungen zu wählen. Immerhin enthält Art. 1 Abs. 1 nicht nur eine an den Staat adressierte unbedingte Achtungs-, sondern auch eine unbedingte Schutzverpflichtung.97 Im o. a. Entführungsfall etwa führt der Schutz des Täters (also das Absehen von Folter) dazu, dass gleichzeitig das Leben und die Würde des entführten Kindes bedroht sind. In ethischer Perspektive wird man im Konflikt zwischen dem Handlungsverbot (also dem Unterlassen der Folter) und der Schutzverpflichtung (also der Anwendung der Folter), dem Unterlassen den Vorrang einräumen dürfen.

Die Haltung des BVerfG jedenfalls ist eindeutig: Es hat zum Fall Daschner u. a. ausgeführt:

„… die – hier vom Landgericht bejahte – Anwendung von Folter macht die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs und zerstört grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen“.98

339(3) Verfahrensrechte. Insbesondere Gewährung rechtlichen Gehörs. Nach der Rechtsprechung des BVerfG „gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, […], dass niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf“; ein solches staatliches Handeln verletze überdies die Menschenwürde des Einzelnen.99 Eine besondere Ausformung dessen sei das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (vgl. Art. 103 Abs. 1).100 Der Beschuldigte müsse daher

„[…] im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können […], auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen.“101

340Obwohl diese Grundsätze vor allem für das Strafverfahren gelten, besteht auch im Verwaltungsverfahren ein grundsätzlicher Anspruch des Bürgers auf rechtliches Gehör.102 § 28 VwVfG regelt daher das Recht auf Anhörung des Beteiligten, in dessen Rechte durch den Erlass eines Verwaltungsaktes eingegriffen werden soll.103

341Umstritten ist, ob die Durchführung eines Strafverfahrens gegen einen todgeweihten Angeklagten gegen den Schutz der Menschenwürde verstößt.104

Im Strafprozess gegen Erich Honecker hat der Berliner VerfGH die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft trotz einer schweren und unheilbaren Krankheit des Angeklagten, an welcher er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vor Abschuss des Strafverfahrens sterben wird, als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen.105

342(4) Strafvollstreckung. Für das Strafvollstreckungsrecht folgt aus Art. 1 Abs. 1 das Verfassungsgebot menschenwürdiger Haftbedingungen. Daraus resultiert, dass der Gesetzgeber die Basisvoraussetzungen individuellen und sozialen Daseins auch während der Haftstrafe eines Gefangenen sicherstellen muss:106

Bsp.:107 H ist Gefangener in der Strafhaft. Weil andere Gefangene immer wieder Gegenstände in den sanitären Anlagen herunterspülen, verstopfen regelmäßig die Leitungen. Auf Grund fehlerhafter Abwasserleitungen wird die Zelle des H im Erdgeschoss dadurch vom Abwasser überflutet, was zu einer Verunreinigung mit Fäkalien und starken Geruchsbelästigungen führt. Die Anstaltsleitung lehnt eine Verlegung des H ab, da keine andere Zelle zur Verfügung stünde.

Indem H immer wieder massiv von Gestank belästigt wird und mit starken Ekelgefühlen leben muss, gerät ihm das tägliche Leben zur Qual. Unter derartigen Umständen gefangen gehalten zu werden, berührt H daher in seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1). Der Eingriff kann nicht gerechtfertigt werden,108 das Verhalten der Anstaltsleitung ist grundrechts- und damit verfassungswidrig.

343Menschenwürdige Haftbedingungen gebieten weiterhin, dass der Gefangene die Möglichkeit hat, zu anderen Menschen in Kontakt zu treten. Seine völlige Isolation in einer Einzelzelle für einen längeren Zeitraum ist daher verfassungswidrig.109

Allerdings kann gleichsam umgekehrt die Unterbringung von mehreren Häftlingen in einem zu kleinen Raum gegen die Menschenwürde verstoßen.110 Insoweit ist eine Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände vorzunehmen, wobei als Faktoren in räumlicher Hinsicht in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, zu beachten sind.111 Die fachgerichtliche Rechtsprechung hat z. T. auf die bloße Größe des Haftraums112, z. T. zusätzlich darauf abgestellt, ob eine (auch geruchliche) Abtrennung der Toilette möglich ist.113

344Kontaktsperren dürfen nur unter den engen Voraussetzungen der §§ 31 ff. EGGVG angeordnet werden.114

Besonderen Schutz verdient die Kommunikation des Gefangenen mit seinem Ehepartner und anderen nahen Angehörigen.115

Der freie briefliche Kontakt von Ehegatten unterfällt demnach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Achtung der Intimsphäre, sodass der die Briefe der Untersuchungsgefangene kontrollierende Richter, diesem Verfassungsgebot besondere Bedeutung beimessen muss.116

345bb) Schutz der personalen Identität. Die Wahrung der personalen Identität und Integrität betrifft einen „Prozess möglichst autonomer Selbstdarstellung“117.

So hatte das BVerfG schon im Jahre 1978 entschieden, dass „die Eintragung des männlichen Geschlechts eines Transsexuellen im Geburtenbuch jedenfalls dann zu berichtigen [ist], wenn es sich nach den medizinischen Erkenntnissen um einen irreversiblen Fall von Transsexualismus handelt und eine geschlechtsanpassende Operation durchgeführt worden ist.“118 Nach heutigem Erkenntnisstand stellen Varianten der Geschlechtsentwicklung (sog. Disorders of Sex Development, DSD) wie Trans- oder Intersexualität weder in medizinischer noch (verfassungs-)normativer Perspektive eine Krankheiten dar.119 Zu Recht hat das BVerfG 2017 den Schutz der geschlechtlichen Identität dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugeordnet und auch auf Personen erstreckt, deren geschlechtliche Identität weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuzuordnen ist.120

346Fragen der personalen Identität können zugleich den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1) berühren.121

Dies gilt z. B. für die Gendiagnostik (Gentests, Genomanalyse), die die Ermittlung sensibler personenbezogener Daten ermöglicht.122

Biowissenschaftliche Bereiche wie die Fortpflanzungsmedizin, Reproduktionsgenetik und Gentherapie werden ebenfalls unter dem Aspekt der personalen Identität und Integrität erörtert, betreffen jedoch auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2).123

347cc) Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit. Die Menschenwürde ist in dem Sinne egalitär als sie ausschließlich in der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung gründet.124 Sie ist damit unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht; der so bewirkte Achtungsanspruch des Einzelnen als Person ist die Anerkennung als gleichberechtigtes Mitglied in der rechtlich verfassten Gemeinschaft immanent.125 Schutz und Achtung der Menschenwürde verbieten infolgedessen auch jede Form der Sklaverei oder Leibeigenschaft (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 EMRK).126 Dieses Verbot gewinnt im Rahmen des Frauen- und Kinderhandels zunehmend an Bedeutung.127 Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit folgt aus Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3.128

348(Unmittelbare) Diskriminierungen können nicht nur den Gleichheitssatz verletzen, sondern auch gegen die Menschenwürde verstoßen. Dies gilt insbesondere für Diskriminierungen, die auf objektiver oder subjektiver Willkür in der Rechtsanwendung beruhen129 oder rassistisch motiviert sind.130

349dd) Sicherung des Existenzminimums als materielle Lebensgrundlage. Aus dem Schutz der Menschenwürde i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip folgt schließlich ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.131 Dies gilt insbesondere für die Gewährung der notwendigen Daseinshilfe bei Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Alter, Krankheit oder Behinderung.132 Rechtsprechung und Literatur begrenzen diesen Anspruch auf diejenigen, die die für ihre materiellen Lebensgrundlagen notwendigen Mittel weder aus eigener Erwerbstätigkeit oder eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erlangen können, die also gleichsam unverschuldet nicht in der Lage sind, selbst für ihre materielle Lebensgrundlage zu sorgen.133 Der Anspruch ist nicht darauf begrenzt, das „nackte Überleben“ sicherzustellen. Das BVerfG hat den zunächst vom BVerwG134 entwickelten und dann in der fachgerichtlichen Rechtsprechung weiter ausdifferenzierten Anspruch135 zuletzt ebenfalls auf das sog. soziokulturelle Existenzminimum bezogen und ausgeführt:

„Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“.136

Bei der Wahrnehmung des Verfassungsauftrags zur Sozialgesetzgebung räumt das BVerfG dem Gesetzgeber Gestaltungsspielraum ein137, verpflichtet ihn aber zugleich, zur Konkretisierung des Anspruchs die existenznotwendigen Aufwendungen „folgerichtig“ und in einem „transparenten und sachgerechten Verfahren“ zu ermitteln.138

„[Der Sozialstaatsgrundsatz] enthält zwar einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber. Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit lässt sich daraus jedoch regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwingend ist lediglich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft. […] Soweit es nicht um die genannten Mindestvoraussetzungen geht, steht es in der Entscheidung des Gesetzgebers, in welchem Umfang soziale Hilfe unter Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger Staatsaufgaben gewährt werden kann und soll. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsraum zu.“

350Das BVerfG zählt zu den Mindestvoraussetzungen, die der Staat für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen hat (Art. 1 i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip), auch die Steuerfreiheit des Existenzminimums.139

Staatsrecht II

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